Und was ist mit den Kindern?

Foto: Brigitte Kraemer
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Die Frau, die auf dem Küchenboden lag, als der Junge mittags von der Volksschule nach Hause kam, war nicht seine Mutter. Das Gesicht aufgeschwollen und voll Blut, die Arme und Beine grün und blau geschlagen. „Weißt du, ich habe meine Mama gar nicht erkannt“, sagt der Siebenjährige später zu Gondi Kunz, der Kindertherapeutin im Frauenhaus. „Ich dachte, da liegt eine fremde Frau.“

Wenn Männer ihre Frauen schlagen und mit Worten quälen, hieß es früher, dass Kinder davon wenig mitbekommen, dass sie das Geschrei und die Gewalt ausblenden. Heute hat die wissenschaftliche Forschung Belege dafür, dass bereits Säuglinge auf häusliche Gewalt reagieren. „Die Babys entwickeln eine so genannte Gedeih- und Fütterungsstörung, bekommen einen leeren Blick, essen weniger, weinen viel“, beschreibt Gondi Kunz, Kinderpsychologin im Wiener Frauenhaus, die Folgen. Sind die Kinder etwas älter, reagieren sie mit dem, was Wissenschaftler „regressives Verhalten“ nennen. Diese Kinder haben oft eine verzögerte Sprachentwicklung. Manche von ihnen verstummen teilweise oder ganz. Oder sie bekommen plötzlich Hautausschläge, Ekzeme oder Neurodermitis.

Bei manchen dieser Kinder beginnt die Gewalt schon im Mutterleib. Sie spüren die Tritte in den Bauch, bekommen über die Nabelschnur einen Cocktail aus Angst- und Stresshormonen, der ihrer Mutter ins Blut schießt. „Wir wissen aus Studien, je früher Kinder Gewalt erleben, desto traumatischer ist es für sie, weil sie die Gewalt noch nicht verarbeiten können“, sagt die Kindertherapeutin.

Mindestens 5.271 Kinder mussten im Jahr 2019 in Wien diese Gewalt miterleben, sagt Rosa Logar, die Leiterin der „Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt“. Und in dieser Zahl sind nur jene Kinder registriert, bei denen die Gewalt gegen die Mutter so massiv war, dass die Polizei zur Wohnung gerufen wurde und dem Täter eine Wegweisung aus der gemeinsamen Wohnung auferlegte.„Für Kinder, die die Gewalt miterleben mussten, können wir gar keine Hilfe anbieten.“

Nun, in Zeiten von Coronakrise, wenn die Familien gezwungen sind, Tag und Nacht gemeinsam in den engen Wohnungen zu verbringen, fürchten Expertinnen einen weiteren Anstieg häuslicher Gewalt. Die österreichische Bundesregierung hat deshalb bereits Mitte März ein Maßnahmenpaket verabschiedet. So müssen etwa von Gewalt betroffene Frauen nicht mehr zu Gericht gehen, um durchzusetzen, dass der Gewalttäter für längere Zeit aus der Wohnung verwiesen wird, sondern bekommen den Antrag von der Polizei ausgehändigt und können ihn elektronisch stellen. Die Helplines gegen häusliche Gewalt bekamen zusätzliche finanzielle Mittel und Justizministerin Alma Zadic von den Grünen stellte klar, dass Männer, die Frauen schlagen, auch in dieser Ausnahmezeit die Justiz mit voller Härte zu spüren bekämen.

In den allermeisten Fällen dauert es aber Jahre, bis Gewalt in der Familie polizeibekannt wird. „Die Kinder, die mit ihren Müttern in ein Frauenhaus flüchten, haben alle eine erhöhte Angstsymptomatik und ein eingeschränktes Selbstwertgefühl“, erläutert Logar. Viele Kinder, die in Gewaltbeziehungen aufwachsen, verhalten sich über Jahre hindurch besonders angepasst. Sie verstecken sich auf dem Klo, wenn der Vater die Mutter schlägt, vergraben sich in ihrem Bett oder stehen erstarrt da und schauen zu.

Bei den Mädchen äußere sich dieses Trauma oft durch Überangepasstheit, Jungen reagieren hingegen oft mit Ruhelosigkeit und Aggression. Vor Gericht würden solche Reaktionen oftmals nicht ausreichend gewürdigt, kritisiert Andrea Brem, die Geschäftsführerin der Wiener Frauenhäuser. „Wir hatten vor Weihnachten einen Fall, wo der gewalttätige Vater nachweislich bei verschiedenen Ämtern versucht hat, Pässe für seine Kinder zu kriegen“, sagt Brem. „Trotzdem urteilte das Familiengericht, dass dieser Vater nach fünf begleiteten Besuchskontakten seine Kinder wieder ohne Beobachtung bei sich haben kann.“

„Wir würden uns wünschen, dass jeder, der von der Polizei wegen Gewalt an seiner Frau aus der Wohnung gewiesen wurde, verpflichtend ein Anti-Gewalt-Training absolvieren muss, bevor er seine Kinder wiedersehen darf“, fordert Brem. Doch seit im Jahr 2013 verheiratete Paare automatisch das gemeinsame Sorgerecht für ihre Kinder erhalten, habe sich die Situation der von Gewalt mitbetroffenen Kinder verschlechtert.

„Das gemeinsame Sorgerecht ist eine tolle Sache, solange Gewalt in einer Beziehung keine Rolle spielt“, sagt auch die Kindertherapeutin im Frauenhaus. „Aber wir erleben hier im Frauenhaus regelmäßig, wie Väter, die Gewalt ausgeübt haben, ihre Kinder unter Druck setzen.“ Da würde der Vater dem Kind zum Beispiel am Telefon erzählen, welch tolle Geschenke er dem Kind kaufen werde, wenn es ihn besucht.

Die Adressen der derzeit vier Wiener Frauenhäuser, in denen Kinder mit ihren Müttern Schutz suchen, werden geheim gehalten. So soll verhindert werden, dass Gewalttäter ihre Frauen und Kinder vor dem Frauenhaus abfangen. Hier in diesem Spielzimmer in einem Außenbezirk von Wien türmen sich Kuscheltiere rund um die Couch, lädt ein Puppenhaus die Kinder dazu ein, mit Theraupeutinnen nachzuspielen, was sie zu Hause erlebt haben, hier helfen viele kleine Plastiktiergestalten, das Erlebte spielerisch zu verarbeiten.

Als „dumpf“ beschreibt Kinderpsychologin Kunz das Auftreten so mancher Kinder, die mit der Mutter ins Frauenhaus flüchten. „Sie reagieren verlangsamt, sind apathisch und man hat am Anfang den Eindruck, diese Kinder haben eine kognitive Einschränkung. Aber oft tauen diese Kinder nach zwei, drei Wochen plötzlich auf und man merkt, die waren wie in Watte gepackt.“ So reagieren Kinder, die nicht einfach weglaufen können, sondern permanent Gewalt ausgeliefert sind. „Das ist eine der kindlichen Strategien, um mit ständiger Gewalt umzugehen“, erklärt die Therapeutin. Andere Kinder landen mit einer klassischen ADHS-Diagnose im Frauenhaus, gelten als die so genannten Zappelphilippe. Aber nach kurzer Zeit stellt sich heraus, dass diese Kinder nur so unruhig sind, weil die ständige Gewalt ihren Stresspegel hochschnellen ließ.

Die Kinder, die mit ihren Müttern im Frauenhaus landen, haben meist über Jahre hindurch sehr viel Böses erlebt. Im Frauenhaus erhalten sie jeweils eine Stunde Einzeltherapie pro Woche. Zusätzlich gibt es pro Woche zwei bis drei Gruppenangebote für jedes Kind. Da kommen zum Beispiel Therapiekaninchen ins Haus, die Kinder gehen zum therapeutischen Reiten oder sie besuchen gemeinsam mit ihren Müttern ein Schwimmbad bzw. einen Christkindlmarkt. „In gewalttätigen Beziehungen sperrt der Mann die Frau oft den ganzen Tag zu Hause ein“, erklärt Brem. Die Basisfinanzierung der Frauenhäuser wird von der Stadt Wien abgedeckt. Zusatzaktivitäten wie Ausflüge oder tiergestützte Therapie für Kinder decken die Frauenhäuser mit Spenden ab.

Was diese Kinder erleben müssen, nennt die Wissenschaft ein „man-made disaster“ (von Menschen verursachte Katastrophe). Ausgerechnet der eigene Vater, der den Kindern Schutz und Geborgenheit geben sollte, schlägt zu. Das ist auch für jede Frau, die von häuslicher Gewalt betroffen ist, eine furchtbare Erfahrung. Bei Kindern aber kommt noch hinzu, dass sie in einem völligen Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Eltern stehen. Sie können nicht einfach gehen. „Darum können diese Kinder kein Grundvertrauen in die Welt aufbauen“, sagt Kindertherapeutin Kunz. Die Folgeerscheinungen dieser traumatischen Gewalterfahrungen zeigen sich in manchen Fällen sogar in Form von Borderline-Erkrankungen.

Rein statistisch gesehen haben Mädchen, die als Kinder Gewalt miterleben mussten, eine zehn Mal höhere Wahrscheinlichkeit, als Opfer in einer Gewaltbeziehung zu landen. Bei Jungen, die häusliche Gewalt erleben, steigt hingegen die Gefahr, dass sie selbst einmal Gewalttäter werden. „Wir haben im Jahr 2019 unser 20-jähriges Bestehen gefeiert“, sagt Rosa Logar. „In diesen 20 Jahren hatten wir sowohl Männer, die als Burschen bei uns waren, weil der Vater die Mutter schlug, und die später als Erwachsene selbst zu Gewalttätern wurden, als auch Frauen, die als Mädchen miterleben mussten, wie die Mutter geschlagen wurde, und nun selbst Opfer von Gewalt sind.“ Denn ohne Unterstützung für diese Kinder drehe sich der Gewalt-Teufelskreis weiter: in Täter und Opfer.

Oft würde aber das Familiengericht verlangen, dass ein Besuchsrecht des Vaters schon bald nach der Flucht ins Frauenhaus erfolgen muss – und dem müssen die Mütter dann nachkommen, ob das Kind das will oder nicht. Manche Kinder geben aber bei Befragungen auch an, dass sie den Papa sehen wollen. „Bei uns in der Therapie erzählen die Kinder dann, der Papa hätte so sehr am Telefon geweint und geklagt, dass er einsam sei“, sagt die Kindertherapeutin. „Und dann kommen Kinder, die sich psychisch wieder halbwegs stabilisiert hatten, zurück ins Frauenhaus, haben Albträume und nässen plötzlich wieder im Schlaf ein.“

Eine Verbesserung kündigt sich nun im Regierungsprogramm von ÖVP und Grünen an. So soll es künftig bei „innerfamiliärer Gewalt“ kein gemeinsames Sorgerecht mehr geben. „Dieses Thema ist uns ein besonderes Anliegen“, sagt die Sprecherin von Justizministerin Zadić. „Wir werden deshalb in den kommenden Wochen mit den Experten im Ministerium die bestmögliche rechtliche Lösung suchen und möglichst bald mit der Umsetzung beginnen.“

Der Gewaltkreislauf lässt sich durchbrechen. Das erlebt auch Kindertherapeutin Kunz immer wieder. Vor kurzem habe sie eine Beamtin bei einer Passkontrolle gefragt, ob sie sich nicht erinnern könne, sie sei doch vor vielen Jahren als Kind bei ihr im Frauenhaus gewesen. Oder der Mann, der sie nach einem Vortrag über miterlebte Gewalt von Kindern ansprach. „Er hat gesagt, seine Mutter sei mit ihm vor mehr als einem Jahrzehnt ins Frauenhaus geflüchtet“, erzählt die Therapeutin. „Und dass er dort nicht nur Schutz, sondern auch Unterstützung erhielt, habe sein Leben gerettet.“

Nina Horaczek

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