Alice Schwarzer schreibt

Weckrufe für Schläfer

Federico Gambarini/dpa
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Henriette Reker, die Gemeinschaftskandidatin von CDU, FDP und Grünen, verteilte gerade Rosen am Wahlstand auf dem Wochenmarkt. Da stürmte der 44-jährige Frank S. gezielt auf sie zu und rammte ihr die 30 Zentimeter lange Klinge eines Jagdmessers in den Hals. Sie hat Glück gehabt. Es wurde „nur“ die Luftröhre verletzt. Die Notoperation verlief günstig, heißt es.

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Der Attentäter
wollte "Messias"
und "unsere Kinder" schützen

Der Täter verletzte noch drei weitere Frauen sowie einen Mann und blieb dann mit zwei Messern in der Hand an der Ampel stehen. Der Arbeitslose, der vor 20 Jahren in einer rechtsradikalen Organisation aktiv gewesen ist, wollte wohl gefasst werden. Er wollte der Welt verkünden, warum er es getan hatte: um „den Messias“ und „unsere Kinder“ zu schützen. Vor den Flüchtlingen, die er allesamt für islamistische Unterwanderer zu halten scheint. Er hält sich für einen Helden.

Reker hatte der Hartz-4-Empfänger sich ausgeguckt, weil die parteilose Juristin als Sozialdezernentin eine menschenfreundliche Flüchtlingspolitik betrieben hatte. Sogar im liberalen Köln war sie für die Tatsache, dass sie Turnhallen beschlagnahmen ließ, um vorübergehend Nachtquartiere für Flüchtlinge bereit zu stellen, kritisiert worden, sowohl von Sportvereinen wie auch von ihrem Mitkandidaten Jochen Ott (SPD). 

Frank S. war
eine tickende
Bombe, wie 
viele es sind.

Der Täter hat das bei Attentätern leider weltweit übliche Profil: Er gehört zu der Gruppe frauenloser, frustrierter Männer, die sich benachteiligt und gedemütigt fühlen. Seine Nachbarn im bürgerlichen Stadtteil Nippes beschreiben ihn als „unauffällig“. Auch der Polizei war er bisher nicht aufgefallen. Und der psychiatrische Gutachter kam rasch zu dem Schluss: voll schuldfähig. Warum also hat er jetzt zugeschlagen?

Frank S. scheint einer der vermutlich zahllosen, einzelgängerischen „Schläfer“ zu sein, bei denen ein Funke genügt, um den Brand lodern zu lassen. Dieser Funke ist die seit Wochen eskalierende Hatz gegen Flüchtlinge. Es sind ja nicht nur Rechtsradikale und radikalisierte Pegidas, die immer schriller tönen. Es sind auch so manche bürgerliche PolitikerInnen und Medien, die Öl aufs Feuer gießen. So stellte Bild der Kanzlerin jüngst die Frage, ob ihr – durchaus diskutabler – Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“ demnächst lauten müsste: „Deutschland gehört dem Islam."

Weckrufe für Schläfer.

Aber warum
hat er jetzt
zugeschlagen?

Sicher, es gibt durchaus eine berechtigte Sorge über das Zuviel an Flüchtlingen und auch darüber, dass rückständige oder gar radikale Muslime unter ihnen unser freiheitliches Klima belasten könnten. So mancher Flüchtling auch aus Syrien kommt schließlich mit einem tief verankerten Antisemitismus und Sexismus im Gepäck. Aber diese Sorgen dürfen nicht in eine fremdenfeindliche Voreingenommenheit kippen. Im Gegenteil. Wir müssen gerade diese Menschen aktiv und fordernd integrieren in die bei uns geltenden Werte wie: Rechtsstaat, Demokratie und Gleichberechtigung der Geschlechter - sowie null Toleranz für Antisemitismus!

Wir dürfen darum gespannt sein, ob der Schrecken über das Messer-Attentat den allzu leichtfertig (Mit)Hetzenden zu denken gibt.

A.S.

 

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Ein Weltgastrecht für Frauen

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Ein Wort wird zentnerschwer: K-R-I-E-G.

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Natürlich kennen wir das Wort, aber für die meisten von uns bezeichnet es Nachrichten von anderswo. Oder ein Etwas aus Geschichtsbüchern. Der 1. Weltkrieg ist ein fernes Gespenst. Der 2. Weltkrieg endete 1945, unsere Mütter oder Großmütter haben ihn noch erlebt. Aber wenn wir jünger als 70 Jahre alt sind? Dann sind wir Friedenskinder.

Wir kennen Erzählungen und Fotos von Elend und Luftschutzkellern. Vereinzelt noch Baulücken in Städten. Hinzu kommen aktuelle aber ferne Kriege aus zweiter Hand, Nachrichtenschnipsel, wackelige Kamerafahrten, KommentatorInnen vor hastig arrangiertem Hintergrund.

Krieg ist die Katastrophe schlechthin

Wir misstrauen den Bildern, während sie uns zugleich gefangen halten. Wenn wir aber hinsehen: Was wäre zu tun? Scham und Ohnmacht mischt sich mit der gleichwohl vorhandenen Erleichterung, „hier“ sicher zu sein.

Ein diffuser Schrecken: Krieg ist die Katastrophe schlechthin. Ich zum Beispiel empfinde neben den Bombentoten oder Schusswaffen das als ­besonders fürchterlich, was zwischen Uniformierten und Zivilisten passiert, was marodierende Milizen anrichten. Dazu das, was Schmerzen, Verletzungen, Tod wie eine Lache umgibt, die auch in Jahrzehnten nicht trocknen wird: Angst, Grauen, Trauer, Panik, Verrat. Der Zerfall jeglicher Freundschaft und Fürsorge. Zu lindern ist das nicht – oder eben durch Hass.

Hass wiederum treibt Kriegsbereitschaft und Kriegsgeschäfte weiter voran. Überhaupt, ja: die Geschäfte. „Sicherheit“ ist ein Gut, dessen Aktienkurse man durch Kriegsangst und Krieg hochtreibt. Es gibt Ökonomien des Krieges, Branchen, für die sich Krieg rechnet, und militärische Eliten, deren Handwerk er ist. Die Soldaten und neuerdings auch Soldatinnen sind nur zu verheizendes Material.

Und Waffen sind Material, das verbraucht sein will, zumal in Zeiten, in denen es kein teures (also lukratives) Wettrüsten mehr gibt. Die „neuen“ Kriege gehen darum so: Immer seltener steigen heute ganze Staaten offiziell ein. Stattdessen toben heute, wo geschossen, vergewaltigt, verstümmelt wird, die Wölfe: Warlords, Clanchefs, Milizen, Söldner, Mafia. Ein schmutziger Alptraum mit leisem Beginn und ohne Ende.

Krieg ist nach wie vor Männersache, auch das macht ihn gespenstisch. Trotz Frauen im Soldatenberuf: In der Eskalation fallen die Geschlechterrollen wieder brutal auseinander. Schon lange sterben in Kriegen prozentual mehr Zivilpersonen als Militärs. Systematische Vergewaltigungen sind ein Instrument auch der Kriegführung des 21. Jahrhunderts. Und das Leben danach mit den Ex-Kämpfern, die das Vergewaltigen und Morden professionell betrieben haben? Frauensache. Das Grauen geht auch nach Kriegsende im Kleinen weiter.

Und das Leben danach mit den Ex-Kämpfern?

Wohin also mit dem Krieg? Einfach nur hoffen, dass er uns nicht trifft? Und wenn ich etwas tun will: Wie kann ich heute noch friedenspolitische Zeichen setzen? Gibt es Friedensdemonstrationen, die hie die Waffenproduzenten und da die Warlords, marodierende Milizionäre, die Mafia beeindrucken? Oder auch nur den Sohn meiner Nachbarin, der mit Kumpels weltweit World of Warcraft spielt? Ist ja nur ein Spiel, meinte die Nachbarin, eine überzeugte Pazifistin. Unlängst meldete ihr Sohn sich als Zeitsoldat zum Bund. Gewalt öffentlich anprangern, Heroisierung verweigern, Bilderkonsum hinterfragen. Reicht das aus?

Ich habe einen Traum: Lasst uns in großem Stil weibliche Flüchtlinge aus Kriegsgebieten aufnehmen! Öffnet die Kindergärten für afghanische Mädchen, bietet ihren Müttern Wohnraum und einen Job, schafft Studienplätze für syrische Studentinnen, holt weibliche afrikanische Vertriebene – kurzum: Schafft ein Weltgastrecht für Frauen! Aufenthalt so weit und so lange sie es wollen. Nehmen wir den kriegführenden Parteien die andere Hälfte der Menschheit weg, ihr Ruhekissen und ihre Zukunft.

Angenommen, diejenigen, zu denen Soldaten, Waffenschmuggler, Milizionäre zurückkehren wollen, könnten mit den Füßen abstimmen.

Angenommen, ihre Frauen, ihre Mütter, ihre Töchter wären keine Geiseln des Territoriums mehr. Dann endlich würde Krieg sich nicht mehr lohnen.

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