Woran ist der Attentäter zu erkennen?

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Warum zieht jemand in den Djihad, wenn ihm die Ideologie des Djihad wenig bedeutet? Die Frage stellt sich, weil Selbstmordattentäter, die sich auf Allah berufen, oft kaum etwas über Allah wissen. Eine internationale Studie, für die vergangenes Jahr die Daten von 330 Rekruten des „Islamischen Staates“ ausgewertet wurden, zeigte: Je mehr religiöses Wissen sich die Männer selbst zuschrieben, desto weniger waren sie bereit zum Selbstmordanschlag. Was diejenigen antreibt, die dazu bereit sind, ist wichtig für die Frage, wie Anschläge verhindert werden können.

Im Fall des 26 Jahre alten Palästinensers, der vor wenigen Wochen in einem Hamburger Supermarkt einen Mann erstach, ist es zu früh für eine Antwort. Auffällig ist, dass er zwar während der Tat „Allahu Akbar“ rief und später zu Protokoll gab, er habe gehofft, den Märtyrertod zu sterben. In seinem Zimmer fand sich ein selbstbemaltes Stückchen Stoff, das eine IS-Flagge darstellen sollte. Allerdings sagte der Mann auch, er habe sich erst zwei Tage vor der Tat zu einer islamischen Lebensweise entschlossen und erst am Tattag zu dem Anschlag. Das Messer brachte er nicht mit in den Supermarkt, sondern er schnappte es sich aus dem Sortiment. Zuvor hatte der Mann wochenlang brav mitgeholfen, die Papiere für seine Ausreise aus Deutschland zu organisieren. Nun sitzt er in Untersuchungshaft, in einer Spezialzelle für Suizidgefährdete. Der Palästinenser galt schon vor der Tat als psychisch labil; der Hamburger Innensenator hat inzwischen eingeräumt, dass es ein Fehler gewesen sei, Hinweisen darauf nicht gründlich genug nachgegangen zu sein und keinen psychologischen Sachverstand hinzugezogen zu haben. Die Ermittlungen dauern an.

Wie Menschen dazu kommen, einen Anschlag in Deutschland zu begehen, hat der forensische Psychologe Jérôme Endrass untersucht. Er forscht an der Universität Konstanz und hat zusammen mit dem Bundeskriminalamt ein System entwickelt, mit dem die Polizei das Risiko bewerten kann, dass ein Salafist einen Anschlag verüben wird. Es wird in diesem Sommer eingeführt. Was Endrass besonders betont: Eine extremistische Ideologie allein reicht nicht. Jemand, der eine radikal-islamische Weltsicht hat, ansonsten aber keine gestörte Persönlichkeit, keine psychische Krankheit, der auch nicht mit Gewalt droht oder sich Waffen zulegt, ist keine Risikoperson. Umgekehrt bedeutet das, dass die Ideologie nur Teil einer Mischung ist, die den Täter zum Anschlag bewegt. Endrass sagt: „Die Erklärungen für solche Taten unterscheiden sich gar nicht so sehr von den Erklärungen für Amokläufe oder für Stalker, die gegenüber der verfolgten Person gewalt-tätig werden.“ Auch Schüler, die an ihren Schulen Amok liefen, begründeten das mit einer Weltanschauung, die in bestimmten Foren im Internet von anderen geteilt werde. Endrass’ Untersuchungen haben ergeben, dass die Gewaltstraftäter, ob Amokläufer oder Terroristen, ihre „auffällige Persönlichkeit“ verbindet.

Der Wissenschaftler unterscheidet vier Prototypen von Attentätern; in Wirklichkeit seien die Grenzen fließend, aber die Einteilung erleichtere die Arbeit der Polizei. Bei den Typen handelt es sich erstens um psychisch Kranke, etwa Schizophrene; zweitens um Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, etwa narzisstisch Gestörte; drittens um Menschen, die sich vom Autoritären und Kriegerischen des Djihad angezogen fühlen; und viertens um Muslime, die sich in Europa diskriminiert und verachtet fühlen und die den Djihad als Einladung verstehen, um sich zu rächen.

Die erste Gruppe spielt unter den Attentätern in Deutschland, die sich auf den Islam berufen, eine untergeordnete Rolle. So schätzt es Endrass ein, andere Studien stützen das. Es liegt auch nahe: Die Kranken sind oft gar nicht in der Lage, einen Anschlag zu verüben, erst recht nicht, zuvor etwa nach Syrien zu reisen oder sich auf andere Weise mit den Hintermännern des „Islamischen Staates“ zu vernetzen. Eher verfolgen sie eigene Verschwörungstheorien. Schwer Depressive wiederum können und wollen sich in der Regel nicht aufraffen zu einem Anschlag im Namen des IS.

Durchaus werden aber Suizidversuche aus Flüchtlingsunterkünften gemeldet. Am Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer schätzen die Ärzte, dass mindestens ein Viertel der Flüchtlinge, die nach Deutschland gekommen sind, psychologische Betreuung brauchen. Zwar versuchten Islamisten in der Vergangenheit schon, die Schwäche psychisch Kranker auszunutzen: Vor dreizehn Jahren etwa machte eine ziemlich unbekannte zentralasiatische Islamistengruppe Schlagzeilen in Deutschland, weil sie versucht hatte, die Vormundschaft für Muslime zu übernehmen, die nach gescheiterten Selbstmordversuchen in Psychiatrien behandelt wurden. Der Verfassungsschutz hielt es damals für möglich, dass sie die Kranken später als Selbstmordattentäter einsetzen wollten. Doch diese Strategie hat sich seitdem nicht verbreitet.

Eine größere Rolle spielen Attentäter mit Persönlichkeitsstörungen, zum Beispiel narzisstisch gestörte Menschen, die ihr kümmerliches Selbstbild durch ihre Taten aufblasen wollen. Ihnen ist nicht zu helfen mit Medikamenten oder Psychotherapie. Wenn sie sich für einen Anschlag im Namen des Islam entscheiden, kommen oft mehrere Dinge zusammen: der Wunsch, nicht mehr zu leben; der Zuspruch von Islamisten, die sie persönlich, in Texten oder Videos im Internet bestärken; und schließlich die Aussicht darauf, mit einem gewaltigen Auftritt auf die Weltbühne zu gelangen und durch die Bluttat unvergesslich zu werden. Egal, dass sie das nicht mehr mitkriegen.

Unter Attentätern mit so einem Profil ist der Islamismus gerade extrem attraktiv, sozusagen in Mode, weil Morde, die mit dem Islam begründet werden, viel mehr Aufsehen erregen als andere. Ebenfalls vor wenigen Wochen etwa schoss ein Mann in einer Konstanzer Disko mit einem Sturmgewehr um sich, tötete einen Mann und starb nach einem Schusswechsel mit der Polizei. Seine Tat ist, anders als die des Palästinensers in Hamburg, heute in der öffentlichen Wahrnehmung längst wieder vergessen. Der Täter hatte nicht „Allahu Akbar“ gerufen. Gerade diese Wahrnehmung beschreibt Endrass als großes Problem.

In der Verantwortung sieht er auch die Medien: Sie zeigten die Gesichter der islamistischen Gewalttäter, erzählten deren Lebensläufe nach, zitierten ihre Facebook-Einträge. Das erscheine Menschen besonders verlockend, die sich im Alltag missachtet fühlen. Endrass räumt ein, dass Anschläge natürlich nicht totgeschwiegen werden können, aber er sieht an dieser Stelle die Möglichkeit, den Anreiz für Täter zu verringern.

Auch diejenigen, die sich von der Gewaltbereitschaft des IS angezogen fühlen, beschäftigen sich in der Regel wenig mit dem Islam. Der Bielefelder Gewaltforscher Andreas Zick erkennt deutliche Parallelen zwischen der Art der Propaganda von Rechtsextremisten und Islamisten. Endrass beschreibt das, was junge Männer an solchen Ideologien anzieht, als „Hauptsache extrem“.

Zick hat gemeinsam mit Wissenschaftlern aus Osnabrück kürzlich eine Studie veröffentlicht, die Whatsapp-Chats einer salafistischen Jugend-gruppe in Deutschland auswertete. Die Gruppe hatte einen Anschlag geplant, chattete aber auch über Fragen rund um den Islam. Oder über das, was sie dafür hielt. Als „Lego-Islam“ beschrieb einer der Forscher die Weltsicht, die sich die Jugendlichen zusammengebaut hatten, die aber ohne Korankenntnisse auskomme, sich dafür aus Internetfundstücken speise. „Je kruder und einfältiger die Theorien waren, desto erfolgreicher waren sie“, sagte Zick bei der Präsentation der Studie im Juli. Wichtig sei den jungen Männern die Botschaft gewesen, dass sie Krieger seien.

Selbst die Muslime, die sich in Europa diskriminiert sehen und sich zum Islamismus hingezogen fühlen, scheinen das Gemeinschaftsgefühl wichtiger zu finden als die Religion, auf die der IS sich beruft. Die Aussicht auf das Paradies hat nach Erkenntnissen amerikanischer Forscher wie des Anthropologen Scott Atran eher ausgedient als Motivation, in den Djihad zu ziehen. Wichtiger sei den meist jungen Menschen, dass ihnen Abenteuer und ein Sinn im Leben versprochen würden. Darauf setzt der „Islamische Staat“ in seiner Propaganda. Er zeigt Kämpfer im warmen Licht des Sonnenuntergangs, zufriedene Gesichter. Atran beschreibt den Islamismus als ultraerfolgreiche Jugendbewegung, die gerade die cool finden, die das Gefühl haben, im Westen ausgegrenzt zu sein.

Für Endrass folgt daraus, dass sehr genau geprüft werden muss, welche Salafisten in Deutschland Auffälligkeiten zeigen – und bei wem mehrere zusammenkommen. Dazu müssten sich die Behörden besser vernetzen, auch international. Gegebenenfalls müsse früh eingeschritten werden. Es sei übrigens durchaus schon gelungen, „Anschlagsgeneigte wieder zur Räson zu bringen“.

Der Text erschien zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung/© FAZ

 

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