Keine Elternzeit für Bürgermeisterin
Erst nach einer halben Stunde bemerkt man, dass schon die ganze Zeit eine dritte Person beim Zoom-Interview dabei ist. Denn plötzlich rückt von unten ein blau-weiß-geringeltes Mützchen ins Bild. Vor zehn Wochen ist Claudia Alfons‘ kleiner Sohn zur Welt gekommen. Jetzt schläft er im Tragetuch vor dem Bauch seiner Mutter und lässt sich von ihren lebhaften und gut gelaunten Antworten kein bisschen aus der Ruhe bringen.
Er ist Claudia Alfons’ drittes Kind. Schon beim ersten, einer Tochter, hatte sich die damals frischgewählte parteilose Oberbürgermeisterin der Stadt Lindau am Bodensee gefragt, wie das eigentlich sein kann: Dass sie nicht selbst entscheiden darf, ob und wann sie nach der Geburt ihre Amtsgeschäfte weiterführt. Warum man sie zwingen kann, zwei Monate in Mutterschutz zu gehen. „Meine Juristin hat mir erklärt: Das Beschäftigungsverbot dient angeblich dem Schutz der Frau. Das ist ja schön und gut für die Frauen, die das wollen. Aber ich wollte nach der Geburt weiterarbeiten!“
Zweimal hat Claudia Alfons getan, was ihr die Rechtsabteilung gesagt hatte: Sie blieb zu Hause. Und das, obwohl ihr Mann, gelernter Hotelfachmann, schon beim ersten Kind in Elternzeit gegangen war und seit dreieinhalb Jahren zu Hause bei den Kindern ist. Zweimal hat sie erlebt, wie in ihrer Abwesenheit „mein Stellvertreter Sondersitzungen des Stadtrats anberaumte und dort Punkte zur Abstimmung vorlegte, die ich so nicht vorgelegt hätte“. Und mit abstimmen durfte sie auch nicht.
Worum geht es auf kommunaler Ebene? Um Schulen, Kindergärten, Bibliotheken!
Bei Kind Nr. 3 hat es der Oberbürgermeisterin gereicht. Sie ließ ein Rechtsgutachten erstellen und schrieb an den bayerischen Innenminister Joachim Hermann, flankiert von Gesundheitsministerin Judith Gerlach und Landtagspräsidentin Ilse Aigner. Minister Hermann stimmte dem Frauen-Trio zu. „Er schrieb, er fände es richtig, dass Frauen selbst entscheiden.“ Damit hat Claudia Alfons nicht nur für sich einen Sieg errungen, sondern für alle „kommunalen Wahlbeamtinnen“ in Bayern, sprich: Bürgermeisterinnen und Landrätinnen. „Ich wäre dafür auch vor Gericht gezogen“, sagt sie.
Die 41-jährige gebürtige Lindauerin ist selbst Juristin, wie schon ihre Großmutter. Sie war Richterin in Augsburg und München, interessierte sich aber immer auch für Politik. Sie arbeitete als Referentin für die Europäische Kommission in Brüssel und für das Justizministerium in Berlin. Dann war sie Ende 2019 auf einem Weihnachts-Umtrunk beim örtlichen Obstbauern. Die Kommunalwahlen standen vor der Tür und plötzlich hieß es: „Du wärst doch eine gute OB-Kandidatin!“ Alfons zögerte. „Typisch Frau, ich wollte zwar gern im Team arbeiten, aber nicht in die erste Reihe.“ Dann sagte sie zu.
Am 1. Mai 2020 trat Claudia Alfons ihr Amt in der 25.000-EinwohnerInnen-Stadt am Bodensee an. Und musste feststellen: „Von 18 Bürgermeistern im Landkreis bin ich die einzige Frau.“ Nur zehn Prozent der bayerischen Rathäuser werden von einer Frau geführt. Nur jeder dritte Stuhl in den Stadträten ist von einer Frau besetzt. „Aber für wen wird denn auf kommunaler Ebene Politik gemacht? Da geht es um Schulen, Kindergärten, Spielplätze oder Stadtbibliotheken. Ohne Frauen fehlen Perspektiven!“
Wie kann man das ändern? Die zündende Idee kam Claudia Alfons und ihrer Amtskollegin Kathrin Alte aus Anzing im Juni 2024 auf einer Konferenz mit Bürgermeisterinnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in Schaffhausen. Dort stellte eine Schweizerin die Initiative „Helvetia ruft!“ vor. Mit Mentoring-Programmen und Schulungen konnten die Schweizerinnen den Anteil der Frauen im Nationalrat von 32 auf 42 Prozent erhöhen. „Da haben wir gesagt: Das brauchen wir auch!“ Denn am 8. März (!) 2026 sind in Bayern Kommunalwahlen.
Im Mai 2025 ist „Bavaria ruft!“ gestartet. Natürlich in Lindau, wo sie interessierte Frauen ins Rathaus eingeladen haben. 200 BürgermeisterInnen haben Alfons und Alte angeschrieben, damit sie auch in ihren Städten Frauen ermutigen zu kandidieren. – Jetzt muss Claudia Alfons das Interview aber beenden. Sie muss los ins Büro.