Der Preis war hoch

Gabriele Stötzer 1978
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Erfurt, am Abend des 20. November 1976. Die 23-jährige Gabriele Stötzer-Kachold sitzt mit ihrem Mann in der Küche. Es klingelt. Zwei Freunde, Walfred Meier aus Jena und Thomas Wagner, Bühnentechniker der Städtischen Bühnen Erfurt, stehen vor der Tür und haben ein Schreiben bei sich – die Unterschriftensammlung Ostberliner Künstler gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann, die bisher nur im Westen veröffentlicht wurde. Im oppositionellen Jena hatte man die Stimmen gegen den Rausschmiss im Handumdrehen zusammen, aber was ist mit Erfurt? Kommt hier nichts zustande? Die vier einigen sich schnell.

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„Der Text wurde auf meiner Schreibmaschine abgetippt und von mir als ­Erster unterzeichnet. Während ich unterschrieb, wurde mir schwarz vor Augen. Mir war klar, dass die Unterschrift Folgen haben könnte. In Jena waren schon mehrere Leute verhaftet worden.“ Die beiden Männer zogen los und sammelten 20 ­Unterschriften. Die Erfurter Namensliste sollte von Gabriele Stötzer nach Berlin ­gebracht und im SED-Hauptsitz abgegeben werden. Doch der Geheimdienst hatte die geplante Aktion schon im Visier. Am Abend des 22. November 1976 wurden Gabriele Stötzer und ihr Mann verhaftet. „Nach einer Nacht voller Verhöre konnte ich am anderen Morgen wieder gehen, ebenso mein Mann.“

In den Wochen darauf wurde sie jedoch immer wieder abgeholt und verhört. Auch Freunde und Arbeitskollegen, da die ­Bier­mann-Ausbürgerung längst zum Lackmustest für die scheinliberale DDR ­geworden war. Jeder musste Farbe bekennen, in allen Brigaden wurde abgestimmt: Ja für Biermann hieß Nein für den Sozialismus.

Ein Nein konnte Verhaftung, Verhöre, auch Exmatrikulation und Berufsverbot bedeuten. „Die Zeit war schlaflos“, sagte Gabriele Stötzer. „Wir saßen im Hexenkessel, mit unseren Ängsten in der DDR-Soße, in der Provinz.“

Zwei Tage nach ihrer ersten Verhaftung hatte der Geheimdienst den Operativen Vorgang „Kapitän“ eröffnet, mit ­Ermittlungen zu Thomas Wagner, zu ihr und ihrem Mann. Am 3. Januar 1977 glaubte der Erfurter Geheimdienst die Akte ausreichend gefüllt, um im Hinblick auf den Willkürparagraphen „Verdacht der Staatsverleumdung“ gegen die drei vorgehen zu können. „Die zu bearbeitenden Personen haben durch ihre Aktivitäten den Straftatbestand Paragraph 220, Absatz 1, Ziffer 1 des StGB erfüllt.“

Drei Tage später, am 6. Januar 1977, griff das MfS zu. Am Morgen wurde Gabriele Stötzer erneut abgeholt. Während des Verhörs legte man ihr ein Blatt vor, auf dem „Tätige Reue“ stand. Sie sollte unterschreiben, zurücknehmen, bereuen und die Biermann-Aktion auf diese Weise ungeschehen machen. Sie weigerte sich, wurde abgeführt. „Plötzlich kamen drei Leute in den Vernehmungsraum; eine Frau in einem braunen Pelzmantel und zwei Männer. Sie holten mich ab. Wir verließen das Haus und gingen durch Wände und Wände und Wände.“

Sie kam in den Stasiknast Erfurt in der Andreasstraße 37 – das Untersuchungs­gefängnis samt Bezirksverwaltung des MfS in einer Nebenstraße am Erfurter Gericht, direkt am Domplatz, dem Zentralnerv der Stadt. Der dreckige Gemüseladen an der Ecke zum Stadtring mit Zuckerrüben- und Kohlstiegen, oben an der Kreuzung die ­Kessel mit offenem Feuer, die den Verkehr durch die Suppe des Braunkohlesmogs ­leitete, die morbiden Häuserfassaden als ­untere Rotunde des Domplatzes, die durch den Schneematsch rutschenden Erfurter mit ihren alltäglichen Besorgungen und verspäteten Neujahrswünschen, die verstreuten Reste von Silvesterknallern, das notorische Schlagen der Domuhr. „Niemand rastete aus. Die Welt ging nicht aus den Fugen, als ich in die unnormale Welt gefügt wurde.“

Eine Frau Anfang 20, auf dem Weg in ihre Zelle, entlang an Wachen und Toren, durch jede Menge Maschendraht gesichert. Kurze Zeit später saß sie allein, in einem grauen Trainingsanzug, in Zelle Nummer 5.

der weg den ich gegangen bin der mich genommen hat/öffentlich anziehen ausziehen zähne putzen/es war ihre öffentlichkeit ihre mauern ihre scheißhäuser ihre ­schlaf­bestimmungen/ich sah ihren himmel ihre gefangenen ihre bewacher/ich war ihrem fleischgeruch ausgeliefert ihrem kartoffel­segen/ihren gittern ihren vorgaben das was sie uns gewährten/ihrem gerüst das leben zusprach liebe absprach

Die Zelle mit schallschluckenden Wänden, matten Fenstern, Außengittern, fehlender Möblierung, der verbotene Kontakt nach draußen, die Endlosverhöre in den Nächten, die Drohungen, der Schlaf- und Essensentzug, manchmal auch Dunkelhaft und Fesselung. „Ich schwieg, schluckte die Einsamkeit, habe ins Klo gesprochen, Klopfzeichen gelernt.“ Die Kälte, der Schock, die Einsamkeit, die Schreie der Mithäftlinge durch die Wand, der Schmerz. Sie bekam Nierenkoliken. Ein Schmerz, mit dem sie sich kaum mehr aufrecht halten konnte. „Eine Liegeerlaubnis für den Tag darf nur der Haftarzt erteilen“, besagte die Haftordnung.

Doch der Arzt erteilte gar nichts, überwies den „Verwahrhäftling“ stattdessen ins Haftkrankenhaus Leipzig-Meusdorf, wo schon Edeltraud Eckert gelegen hatte. Nach der Untersuchung teilte man ­Gabriele Stötzer mit, dass sie eine Bauchhöhlenschwangerschaft habe. Sie hielt das für unwahrscheinlich, doch die Operation war bereits angeordnet. „Ich heulte, schrie, bekam Anfälle.“ Als sie aus der Narkose erwachte, war von ­Schwan­ger­schaft nicht mehr die Rede. Es gab keine. Der Arzt zuckte mit den Achseln: ­„We­nigs­tens haben wir ihre angewachsenen Eierstöcke gelockert.“

Die Fahrt zurück nach Erfurt, ins ­Eis­verlies am Dom. Das Hoppeln über die löch­rige Autobahn, so löchrig wie ihr Bauch. In Gedanken zählte sie die Orte ab, an denen der Transporter vorbei musste: Weißenfels, Naumburg, Jena, Weimar. Sie sagte sich, dass es genug sei, dass man sie jetzt entlassen müsse. „Ohne direkt das Wort ­Erbarmen zu denken, erwartete ich es.“

Als das Auto hinter Jena die oberste Kippe nahm, um in die weite Landschaft dahinter zu rollen, wusste sie: Ab hier ­begann ihr Zuhause – ihr Wald, ihre Hügel, ihre Sprache, ihr Himmel, ihre Zeit, ihre Burgen, ihre Lieben, ihre Mulden, ihr Luther. Zuhause, das waren auch das Dorf Emleben bei Gotha, die Mutter Gerda Stötzer, Hauptbuchhalterin der Gemeinde, der Vater Herbert Stötzer, Werkzeugmacher im VEB Stahlverformungswerk Ohrdruf, die drei Geschwister, das Westfernsehen, die Dorfrituale, der graue Dachschiefer der Häuser an der Ortsstraße, der Weg zur Schule. Sie hatte dort in einer Welt gelebt, in der Tacheles geredet wurde, wo jeder ­seinen Platz hatte, die auch eng sein konnte, aber Augenmaß besaß.

Nach dem Zehnklassenabschluss in Gotha 1969 entschied sich Gabriele Stötzer für ein Studium als Medizinisch-Technische Assistentin an der Fachhochschule Erfurt. „Das klang wenigstens gut. Scheiße abwaschen? Nein. Scheiße analysieren? Ja.“ Das neue Leben hatte außerdem einiges zu bieten – nicht das Internat, nicht die tägliche Ausbildung, sondern die Szene-Treffs im Café „Angereck“. Dort hockten sie alle: die mit den langen Haaren, die echten Rolling-Stones-Fans, die Jeansträger, die Tramper, die Scheunenschläfer, die mit Vorliebe Wermut tranken, die unentwegt rauchten, die Ideen hatten. Aber Gabriele Stötzer wollte nicht einfach nur dagegen sein – gegen das System, die Institutionen, die Strukturen, das Denken. Untergrund gut und schön, aber sie wollte in jedem Fall studieren, etwas, das in der Szene absolut verpönt war.

Ab Herbst 1971 holte die 18-Jährige neben ihrer ersten Arbeit am Institut für Arbeitshygiene auf der Abendschule das Abitur nach, lernte dabei ihren späteren Mann kennen, machte zwei Jahre später ihren Abschluss, um sich ab September 1973 für ein Studium in den Fächern Deutsch und Kunsterziehung an der ­Päda­gogischen Hochschule Erfurt zu immatrikulieren. Sie nun mit Studium, Mann, Wohnung, Ehekredit, Waschmaschine und einem Trabant vor der Tür. War es das, was sie gewollt hatte? Vielleicht.

Jedenfalls wurde sie Beststudentin, stellvertretende FDJ-Sekretärin ihrer Studiengruppe, Mitglied der Studentenbühne. ­Jedenfalls heiratete sie, begeisterte sich für Trotzki und Bakunin, inszenierte „Die Wanze“ von Majakowski mit, fuhr zu Ausstellungen, Rockkonzerten und in Provinztheater, wo renommierte Regisseure den frühen Brecht und Ulrich Plenzdorf auf die Bühne brachten.

Als jedoch der Student Wilfried Linke, Chef der Studentenbühne, im Juni 1976 wegen „revisionistischer Thesen über die widersprüchliche Entwicklung im Sozialismus“, konkret wegen eines Schreibens zum Stand der Dinge im Fach Marxismus/Leninismus, exmatrikuliert wurde, war Schluss mit dem studentischen Schmus. Ein Rauswurf wegen ein paar Fragen, die noch dazu alle angingen? Das war mit ihr nicht zu machen. Gabriele Stötzer setzte eine Petition auf, sammelte am Institut 84 Unterschriften und schickte sie postwendend nach Berlin, an die ­Bildungsministerin des Landes, Margot ­Honecker. Deren Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Sie verlangte, dass man sich zu distanzieren habe oder mit Konsequenzen rechnen müsse. Was jetzt? Wegen so einer Lappalie noch mehr Druck, noch mehr Drohungen und absurde Gespräche, womöglich gar weitere Rausschmisse?

In ihrer Not schrieb Gabriele Stötzer am 8. Juli 1976 einen nächsten Brief, diesmal an den in Berlin lebenden Schriftsteller Volker Braun, und schilderte die prekäre Situation: „Wilfried ist exmatrikuliert, und egal, wie er sein Leben jetzt gestalten wird, ist dies in erster Linie bestimmend. Und ich, wenn ich an dieser Hochschule bleibe, die meinen Namen schon fast so verachtungsvoll nennt wie Wilfrieds, es wird so schwer sein, so schrecklich. Und die anderen? Hoffnung? Und wie leben so? Ich bin eigentlich ein optimistischer Mensch und sicher denken viele, ich bin stark, vielleicht stimmt es auch, doch alles kostet seinen Preis.“

Volker Braun reagierte in gewohnter Manier, nämlich taktisch: mit einem knappen Schreiben an die Studentin und einem entsprechend längeren an den Erfurter Rektor. Doch dort hatte man keine Informationen aus Berlin mehr nötig. Dort lief schon alles – stabsplanmäßig, ritualisiert. Große Teile der Studenten wurden vom „Lehrkörper“ instruiert, die Protestierenden abzukanzeln. Die, die ihre Unterschriften noch nicht zurückgezogen hatten, wurden vor Tribunale gezerrt. Das hieß: trübe Nachmittage an langen, grau gesprenkelten Sprelacart-Tischen, dann fielen Worte wie „ungeheurer politischer Verrat“, „antikommunistische Vorurteile des Klassenfeindes bekräftigt“, „politische Provo­kateure“, „revisionistische Tendenzen“. Gabriele Stötzer wehrte sich, doch der Ausgang der Farce war vorherbestimmt: „Die Studentin wird entsprechend der ­Disziplinarordnung mit Wirkung vom 8.9.1976 vom Studium an allen Universitäten und Hochschulen ausgeschlossen.“

Von den Denkfabriken des Landes ausgeschlossen. Vielleicht hatte sie diesen Moment vor Augen, als das Auto aus Leipzig-Meusdorf durch das mittelalterliche Erfurt kreiselte, um sie erneut in der Andreasstraße abzugeben. Vielleicht dachte sie an ihren prompten Einspruch, an den dritten Brief nach Berlin, mit der Bitte, den Rauswurf noch einmal zu prüfen. Sie war keine Provokateurin. Sie traf keine Schuld. Sie hatte einfach reden wollen. Wieso sollte sie nicht weiter studieren? Warum hielt man sie für eine Verräterin, die „Krallenhand des Klassenfeindes“? Wie kamen die überhaupt darauf?

Am letzten Septembertag kam die Antwort aus Berlin: „Die zur Sprache gebrachten Fakten und aufgeworfenen Probleme rechtfertigen die Entscheidung des ­Zen­tralen Disziplinarausschusses der Hochschule. Ihrem Einspruch wird von uns nicht stattgegeben. Diese Entscheidung ist endgültig.“ Diese Unabänderlichsprache, Abstraktsprache, Gespenstersprache.

Zurück in Zelle 5 hatte sie an das viele Nein denken müssen, an die dumpfen Ausschussgesichter, die stumpfe, kalte Tischplatte, an das heimelige Licht auf den Fluren der Hochschule, die gedämpften Geräusche, nachdem alles vorbei ­gewesen war. „Piep sagt der Vogel am Fenster in alten Knastberichten.“ Piep? Tagsüber saß sie in ihren zweieinhalb mal dreieinhalb Metern, auf dem Hocker. Nachts lag sie wach. „Aus dem Hass, aus der Erniedrigung wuchsen plötzlich die Gedanken. So hoch wie damals habe ich nie mehr gedacht. Alles Kleine wurde aus einem rausgeschwemmt.“

der mittelalter särge bloßgelegt/die sarkophage heißen schweinekoben/ich blicke von oben hinunter/wo ich fünf monate die freistunde genoss/ich habe alle räume vergessen/räume waren ecken zum wegdrehen wenn zufällig ein anderer mensch/kam ich hab dich damals nicht gekannt zellennachbarliche/nur diese mauern und das stück licht diesen unzureichenden himmel

Fünf Monate U-Haft, dann am 17. Mai 1977 der Prozesstag. Noch so eine Farce. Wie hieß nochmal das Gesetz, gegen das sie verstoßen haben sollte? Wo war der, der ihr das sagen konnte? Thomas Wagner wurde zu einem Jahr und sechs Monaten Haft verurteilt und musste nach Bautzen, ins „Gelbe Elend“. Gabriele Stötzer erhielt „wegen der Schwere des Delikts“, also vermeintlicher „Staatsverleumdung“, ein Jahr Zuchthaus ohne ­Bewährung. Die verbleibenden sieben Monate hatte sie in der Frauenhaftanstalt Burg Hoheneck abzusitzen.

Burg Hoheneck? Das grau glänzende Eingangstor, dahinter der Hof, noch ein Tor. Der erste Gang zur Krankenstation, in der sie untersucht wurde. Der zweite Gang die Effektenkammer, wo sie ihre Anstaltskleidung erhielt: ein graues Kostüm, drei graue Blusen, einen grauen Pullover, einen grauen Kleiderrock, ein Paar Schuhe, fünf Garnituren Unterwäsche, zwei BH, einen Strumpfhaltergürtel, Strümpfe, zwei Nachthemden. Für Herbst und Winter gab es später einen dicken grauen Mantel, ein Paar graue Handschuhe, einen grauen Schal und ein graues Kopftuch.

Gabriele Stötzer kam in „Verwahrraum Nummer zwei“, ein Raum für 33 Gefangene, dreistöckige Pritschen, Regale für die wenigen Sachen, ein großer Tisch. „Hey“, warf die Verwahrraumälteste ihr lässig zu, „pass auf, wir sind Verbrecher. Wir könnten Mörderinnen sein, wir könnten alles mit dir machen.“ Das Leben unter Prostituierten, Diebinnen, Mörderinnen. Die Gesetze des Nahkampfes zwischen den Frauen. Die Neue schwieg, zwei Wochen lang, biss sich auf die Lippen, irgendwann hatte sie entschieden: Sie wollte leben. „Im Knast gibt es nicht gut, böse, besser. Du bist nackt da drin.“

Leben, also Überleben. Das hieß, den „gerissenen Faden zum alten Leben“ gerissen sein lassen. Das hieß, die Abgründe, aber auch das „Ethos, die Verletzlichkeit, die Kraft der kriminellen Frauen“ sehen lernen.

Tagsüber die Arbeit am Fließband, im Dreischichtsystem, wie vor zehn, 20, 30 Jahren. Arbeiten für VEB „Esda“: pro Schicht 650 Strumpfhosen in Einheits-Weiß, pro Monat 40 Mark Knastgeld, eintauschbar für Kaffeemarken, Brausepulver, Florena-Creme. Das Rattern der Nähmaschinen durch den Traum oder die Nachtgeschichten der Frauen in den Betten neben ihr: über die, die mit einer Klobürste vergewaltigt wurde; über die, die sich mit dem Hammer einen Nagel ins Hirn schlug; über die Geliebte, die ins kochende Wasser gestellt wurde; über das Burgfräulein vom Hügel nebenan, das den Fürsten betrog, eingemauert wurde und nun als Geist durch Hoheneck wandelte; über die gehäutete Dichterin, der eine Welle die Haare wegriss und die verreckte, weil niemand den Erstehilfe-Kasten öffnete. Geschichten, die das Schlimmste aufriefen, um den eigenen Horror erträglicher zu machen. „Ein Skelett, eine Traube, ein Vieh“ – war das der Zustand?

rote striche auf der weißen haut/löcher in armen und brüsten/ zernarbte bäuche/ das schlucken von löffeln/durch die scheibe gehen/die versuche, sich die adern aufzuschneiden, wurden schnippeln genannt.

Im Januar 1978 wurde Gabriele Stötzer mit 391,71 Mark Arbeitslohn nach sieben Monaten Haft aus dem Zuchthaus entlassen. „Nach zwölf Monaten Eingeweide fand ich mich wieder in ihrem Abfallhaufen. Die erste freie Luft war scharf und kalt und fast unerträglich einsam.“ Die Starre danach und der Kampf ums Loswerden. Schreiben als Selbstaussage. Texte ohne Punkt und Komma. Mit einem großen Schmerz und deshalb starker Eruption. Treibend, ratternd, rhythmisch. Nichts Ausgedachtes, Angelesenes, sondern etwas durch und durch Lebenswahres. Pochend, leuchtend, stark, dröhnend, stolz. Sie schrieb, was ihr fehlte, holte sich das, was nur Sprache kann, holte sich mit Worten die Farbigkeit der Welt zurück. Sprache als Inversionsraum.

Rigoros, exzessiv, hart, provokant, atemlos. Als Staccato-Text mit einem Ich, das sich nähert, sucht, lauert, das spuckt und jammert, das fleht und droht, das hackt und wispert, das für Momente in seiner Mitte hockt, später ängstlich wird, aggressiv, zärtlich, das sich abstößt, sich verwickelt, zerstört. Ein Ich, das nervös Pickel im Gesicht macht. „Ich schrieb ich weil ich dachte mit jedem Wort andere zu verraten.“ Etwas ­Unverwechselbares war in der Welt.

Wer zu hoch hinaus will, den lassen wir vor der Tür stehen. Entwertete Fahrscheine gelten nichts. Gestempelte Frauen reicht man die Straße entlang. Wenn sie sich brechen lassen, sind sie selber schuld. Schließlich sind sie die anderen, schließlich sind sie der Feind, schließlich haben sie eine Gurgel.

Besinnungslos zum Bahnhof gehen. Gepäck in der Hand. Sprache gestorben, Ohren taub, Blick versteinert. Das Herz bröckelt. Die neue Stadt, die neue Straße, das neue Haus, die neue Tür. Die geschlossene Tür. Die stufenlose Tür. Die abgetötete Haut. Es gibt keine Ankunft, hier erwartet man Sie nicht, Sie müssen sich geirrt haben, bitte gehen Sie, aber bitte nicht mit diesem ausweglosen Blick, bitte halten Sie nicht die Luft an.

Tiere legen sich in die Gräber ihrer Herren und sterben nach. Wo sterben wir hin, wenn man unsere Liebe nicht will. Ich kann tanzen, weißt Du, ich tanze Dir etwas vor. Diese einsame Straße entlang. Sie wird dann zeitweilig bunt. Die spitzen Steine stören mich nicht, das Blut stört mich nicht, die Tränen stören mich nicht. Dass ich nicht mehr bin, stört mich nicht. Dass ich niemals war, stört mich nicht. Die Trauer stört mich nicht, der Abschied nicht, das Nichts nicht.

„Sie fragte sich, ob Krieg und Knast das gleiche seien. Weil man in beides ging, um für etwas zu kämpfen und wenn man ­zurückkam, war einem eine Schuld in den Körper hineingewachsen, über die man nie richtig würde reden können, die man nie wieder loswurde.“ Hoheneck hatte die Schriftstellerin Gabriele Stötzer aus dem Schmerz gestampft. Die poetische Gangart war entschieden. „Schreiben als Nötigung“, nannte Robert Musil das. Dabei war die ­Erfurter Realität nach dem Gefängnis alles andere als kunstdienlich. Erneut hatte sich die 25-Jährige sozialistisch zu bewähren, musste in die Produktion, in die Schuhfabrik „Talisman“. Ratternde Massenproduktion, Neonlicht, diesmal nicht ­Strumpf­hosen, sondern Sohlen. Sie ertrug diese Art Normierung nicht mehr und kündigte. „Langsam bekam sie eine Vorstellung von der wirklichen Veränderung, die sich in ihrem Leben ereignet hatte“, schrieb sie. Der abgerissene Faden. Die innere Zeichnung. Die wirkliche Veränderung im Hinblick auch auf die Freunde, Bekannten, ihr Umfeld. „Die Stasi verstreute Legenden: Die, die einmal mit ihr Kontakte hatten, sollten nun selbst Stasi sein. Gerüchte, über die niemand redete, und gegen die man nur schwer angehen konnte. Ich merkte es daran, dass ich gemieden wurde, nicht ­informiert wurde, nicht mehr willkommen war. Das schleichend Unfassbare war das Schreckliche im Osten.“

Keine Arbeit, kein Geld, der Verlust der Freunde, 1979 die Scheidung. Der richtige Augenblick offenbar, um erneut in den Untergrund abzutauchen. In Anlehnung an die Bauhauspraxis forcierte Gabriele Stötzer die Idee der künstlerischen Manufaktur. 1980 übernahm sie die private Kunstgalerie „Galerie im Flur“, eine besetzte Wohnung am Erfurter „Anger“. In zwei anderen besetzten Häusern entstanden Werkstätten für Fotografie, Malerei, Siebdruck, fürs Holzdrechseln, Töpfern, Weben. Sie kaufte Schafwolle, färbte, spann, verwob sie zu originalen Textilien, die ein Stück weit ihr Leben finanzierten. Lesungen, Ausstellungen, die eigenen Kunstbücher, Super-8-Filme, Kontakte. Ihr Leben lief schnell und sah für den Moment so aus, als hätte es in seinem Aktionismus das Land um sie herum ausschalten können. „Ich wollte an die Kunst glauben als außerstaatliche Lebensqualität“, lautete das Credo dieser Jahre. Regelmäßig setzte sie sich in den Zug, fuhr nach ­Leipzig, Dresden, Ostberlin.

In den Abrissvierteln jener Städte entstand Anfang der 80er Jahre eine florierende, alternative Kunstszene, die sich ­außerhalb der staatlichen Kunstlenkung behauptete. In selbst verlegten Zeitschriften und inoffiziellen Publikationen wurde es möglich, sich vom normierten, noch immer zensierten und weiterhin ­durch­organisierten Literaturbetrieb abzukoppeln. Dabei entstand gute Literatur und Kunst, aber für die gern erzählte Legende vom nun kommoden DDR-Sozialismus taugte die vielfach Stasi-unterwanderte Szene trotz Lebendigkeit nicht.

Denn neben ihr ging es auch in den 80er Jahren nach wie vor zur Sache: Dem Geheimdienst ging es um frühzeitig zerstörte Kreativität, um Neutralisierung von kritischen Autoren und ihren Texten, um Dienstbarmachung und kulturellen Gehor­sam. Und trotz anderslautender Bekundungen blieb es auch bis zum letzten Tag DDR bei rigidester Zensur, die jede illegale Veröffentlichung ohne Mühe verhindern konnte.

Noch am 1. August 1989 kam es in Leipzig gegen Heidemarie Härtl zu einem Ordnungsstrafverfahren gegen ihren inoffi­ziellen „bergen-verlag“, das sich auf eine „Anordnung vom 20.7.1959 über das ­Genehmigungsverfahren für die Herstellung von Druck- und Vervielfältigungs­erzeugnissen“ bezog.

heimland ddr/heimchen ddr/heimsuchung ddr/heimlichland ddr/wir sitzen unter der decke und werden alt/wir sitzen noch in der schulbank und sterben leis/wir erzählen uns unsere abortschweinereien und werden nie ­erwachsen/unter der decke liegen die generationen und stöhnen ihr weltallerlei/als grützenpudding in den topf/wir rühren und rühren bis das einmaleins ein graumalgrau ist/ die grauschicht wächst enorm/das grauen ­bein­haltet das der kinder denen die hände ­abge­schlagen sind/ die haut ist belegt und ­beleckt der hund war nie angebunden/opa verlor früh seine kondition vom ständigen krieg­machen wackeln die knie/ein menschenleben hier unter der decke/wir haben alles verborgen ­gehalten/wir wissen was wir sind und haben uns nie voneinander entfernt/erst knieten wir viele jahre unter der decke in anbetung des geistes/über der decke konnten wir uns schubsen/ab und zu kullerte einer den abhang hinun­ter/inzwischen haben wir uns aneinander ­gekettet damit uns keiner mehr/verlustig wird

1979 besuchte Gabriele Stötzer Christa Wolf in Berlin, die soeben an ihrer Erzählung „Was bleibt“ arbeitete. Für die Jüngere war die Renommierte ein Monument, das Buch „Kein Ort. Nirgends“ eine Art Bibel. Bei Christa Wolf erhielt diese ­Begegnung in der erst Anfang der 90er Jahre veröffentlichten Prosa eine literarische Übersetzung: „Wer schickt die? Da sah sie mich an, und ich begann, mich zu schämen.“ Das von ihr so genannte Mädchen zog Blätter aus der Tasche und legte sie der Starautorin vor. Christa Wolf las und notierte: „Ich sagte, was sie da geschrieben habe, sei gut. Es stimme. Jeder Satz sei wahr. Sie solle es niemandem zeigen. Diese paar Seiten könnten sie wieder ins Gefängnis bringen. Das von ihr so genannte Mädchen wurde vor Freude weich, löste sich auf, begann zu reden. Ich dachte: Es ist soweit. Die Jungen schreiben es auf.“

Immer wieder tauchte Gabriele Stötzer am Prenzlauer Berg auf, Chiffre für das wohl freieste Stück DDR, traf die Künstler Cornelia Schleime, Eberhard Göschel, Reinhard Zabka, die Lyrikerin Raja Lubinetzki und Sascha Anderson, den experimentellen Dichter, Punkmusiker und Szenemeister, der in Erfurt das Pseudonym der „Blonde Engel von Berlin“ ­erhielt. Er kam nun des Öfteren nach Thüringen, besuchte die kritische Künstlerin in ihrer Galerie. Und plötzlich musste diese ­geschlossen werden, plötzlich gab es Auftrittsverbote, wurden Lesungen verhindert und Ausstellungen torpediert, erhielt ­Gabriele Stötzer Ordnungsstrafen. „Wo Sascha Anderson auftauchte“, sagte sie, „fielen die Galerien. Er zertrümmerte im Auftrag der Stasi. Er zertrümmerte auch Ehen. Und die Zertrümmerten waren ­danach frei. Die freien Männer scharrten sich um ihn, und die Frauen schliefen mit ihm. Sexualität war ein Machtmittel. Damit machte man kaputt.“

Tatsächlich hatte die Erfurter ­Staats­sicherheit bereits Ende 1979 gegen ­Gabriele Stötzer einen zweiten Operativen Vorgang „Toxin“ eröffnet, erneut mit dem Ziel, „Beweise gemäß Paragraph 106 bzw. 220 des StGB“ gegen die Dichterin zu fabrizieren. Über 20 Spitzel waren permanent um sie herum im Einsatz, darunter auch IM „David Menzer“, im bürgerlichen Leben Sascha Anderson, der es sich nicht nehmen ließ, Gabriele Stötzer als „Faschistin“ zu denunzieren. Über ihre Texte hielt der Geheimdienst des Weiteren fest, „dass selbst literarisch geschulte und sich an westlichen Tendenzen orientierende Personen diese Produkte als teilweise psychopathisch bezeichnen“.

Im Grunde das Übliche, eine politische Frau und Künstlerin, noch dazu mit einer genuin weiblichen Schreibposition, pathologisieren, erneut kriminalisieren und damit auf beliebige Art aussortieren. Es sah aus wie ein perverses Mammutprogramm und war auch eines: Die Sammelwut der Staatssicherheit für die toxische Akte, die verlogene Geschlechterpolitik des Staates, die männlichen Entwertungs- und Abwehrstrategien in der Kunstszene. Gabriele Stötzer aber hatte beschlossen, den „Tanz auf des Messers Schneide“ aufzunehmen, das hieß, tägliche Bedrohung und Schikane, aber auch die unsichere Existenz als Künstlerin und einer im offiziellen Literaturraum DDR nicht zugelassenen Autorin zu leben. Vielleicht das ­andere Ende des „abgerissenen Fadens“?

In jedem Fall setzte die Dichterin dem gezielten Vorhaben, sie zu „zersetzen“ und zu „liquidieren“, ihr kategorisches Gegenteil entgegen – etwas Ganzes, Organisches – die Idee eines Gesamtkunstwerkes. Da waren nicht nur ihre Texte, die nach und nach in illegalen Zeitschriften kursierten, sondern auch die Performances und ­Objektshows, die mit eigengefertigten „utopischen“ Textilien ein illegales Pub­likum fanden. Da waren ihre politischen Manifeste und Pamphlete, die Auftritte in Punkkellern als Gruppe EOG – „Erweiterter Orgasmus“, die den Begriff EOS – ­„Erweiterte Oberschule der DDR“ – provokant drehte. Da waren ihre Super-8-Filme und Fotoarbeiten, die ähnlich wie ihre Textgedichte mit Weiblichkeitsklischees spielten und diese attackierten. Da waren die Zeichnungen und Bilder, die bewusst das weiblich Zeichenhafte der Welt entwarfen. Und last but not least war es die Gründung der einzigen, künstlerisch arbeitenden Frauengruppe im Land. Es ging um ästhetische Selbstfindung, um Lust, Trieb und Spiel, um das Aufbrechen von Isolation, um Inszenierungen autonomer Weiblichkeit unter der Diktatur. Das war Kampfansage und Bühne zugleich.

Doch damit war es im Herbst 1989 vorbei. Gabriele Stötzer katapultierte es von „des Messers Schneide“ ins Epizentrum der Revolution. Aus vier verschiedenen ­Frauengruppen entstand in Erfurt die ­historisch einmalige Bürgerinneninitiative „Frauen für Veränderung“, und sie war eine der politischsten und unbedingtesten Akteurinnen.

Als am 4. Dezember 1989 das Erfurter Stasi-Gebäude gestürmt wurde, in dessen hinterem Teil die Dichterin fünf Monate eingesessen hatte, gehörte sie zu den Frontfrauen. Ihr Bericht: „Eine von den Frauen klingelte bei mir und sagte: ‚Die verbrennen unsere Akten.’ Wir sind dann zu viert zum Rathaus gegangen, in die Bürgermeistervorstellung rein. Ich sprach mit einem aus der Abteilung Inneres, die anderen telefonierten mit den Großbetrieben in Erfurt und riefen Freunde an. Dann bin ich zum Oberstaatsanwalt ­gegangen. Der sollte die Räume versiegeln. Inzwischen streikten die Erfurter ­Arbeiter und hatten die Stasi umstellt, die Stadtreinigungsbetriebe blockierten mit ihren Wagen die Zufahrtwege. Die Türen gingen auf, und wir wurden eingelassen. Sie hatten aufgegeben.“

Im Übrigen waren es immer Frauen, geistesgegenwärtig und mutig, die vor beinah jeder Stasi-Zentrale des Landes das Kommando zur Stürmung übernahmen. „Ich will, dass alle, die aus dem Land ­gelaufen sind, wieder reinkommen“, rief Gabriele Stötzer im Herbst 1989 vor 130.000 jubelnden Erfurtern auf dem Domplatz. „Und ich will, dass Wolf Biermann hier singt. Gebt mir eure Kraft.“ Erneuter Jubel. Sie fuhr nach Hamburg, bat ihn in ihre Stadt, und er kam. In der Aufbruchseuphorie nach 1989 kaufte sie zusammen mit zwölf Künstler-Freundinnen ein marodes Altbauhaus im Zentrum von Erfurt. Das Kunsthaus in der Micha­elisstraße wurde zum Avantgarde-Treffpunkt und zur Legende.

Gabriele Stötzer, nun mit ­Schreib­stipendien ausgestattet, reiste durch England, Spanien, Marokko, fuhr zu Kongressen in die USA und Amsterdam, las in Paris und Rotterdam, organisierte Tagungen, Konzerte, Ausstellungen, und endlich konnte sie auch ihre Texte veröffentlichen. Noch 1989 erschien der Band „zügel los“, 1992 „grenzen los fremd gehen“, 1995 „erfurter roulette“. 2002 folgte der Roman „Die bröckelnde Festung“, ein im klassischen Erzählstil verfasster Bericht über das Universum Hoheneck. 2005 erschien der Band „Ich bin die Frau von gestern“ innerhalb der Reihe „Die verschwiegene ­Bibliothek“. Zuletzt veröffentlichte die Dichterin, die bei den einen die ostdeutsche Sarah Kane und bei den anderen das weibliche Pendant zu Rainald Goetz ist, das Buch „Das Leben der Mützenlosen“: „Wir halten uns nicht an eure Abmachungen, eure Gesetze besitzt ihr ohne uns, ihr habt uns nicht gefragt, ihr habt immer für uns mitgeredet. Ihr kennt uns nicht, ihr seht uns nicht. Wenn ihr über uns redet, redet ihr über uns hinweg. Wir horden uns in Gruppen und stehen an den Rändern eurer Welt. Aber übersehen könnt ihr uns nicht, überleben könnt ihr uns nicht, vernichten könnt ihr uns nicht, vergessen könnt ihr uns nicht.“

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