Alice Schwarzer schreibt

Die Falle

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Es ist eine besondere Pointe in der Geschichte des wohl männlichsten aller deutschen Nachkriegskanzler: Mit seinem Überraschungscoup verhalf Schröder der Konkurrentin über Nacht zur sicheren Kandidatur – an der nicht nur die Jungs vom Andenpakt ganz ohne jeden Zweifel noch mächtig gesägt hätten. Und es ist, auch das eine Ironie der Geschichte, zu vermuten, dass die Merkel-Kandidatur ein Teil des Kalküls des amtierenden Kanzlers war, weil der annahm, gegen eine Konkurrentin ein leichteres Spiel zu haben. Doch bereits wenige Tage nach Ernennung zur Kanzlerkandidatin konnte Merkel in Umfragen 46 Prozent aller Ja-Stimmen auf sich vereinen, Schröder nur 38 Prozent. Bis zuletzt profitierte Merkel also von einer chronischen Unterschätzung der Frauen.

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Lange schien es höchst unwahrscheinlich, dass „der Trampel aus dem Osten“ (O-Ton Berliner Republik) es schaffen würde. Und das vor allem, weil sie ein Frau ist. Es hagelte herablassende Kommentare und gönnerhafte Ratschläge. Über Nacht nun scheint das Geschlecht der designierten Kandidatin nur noch ein Thema für „Altfeministinnen“, längst ganz und gar „nebensächlich“ (Merkel). Mal so, mal so. Alles eine Frage der Macht. So lange es zu verhindern schien, galt es als tödlich, eine Frau zu sein. Seit es eine vollendete Tatsache ist, scheint es keine Rolle mehr zu spielen.

Doch was auch immer die Medien schreiben oder Angela Merkel selber sagen und tun wird: Eine Frau im Kanzleramt wäre eine historische Zäsur. Stellen wir uns einmal vor, in Amerika würde ein Schwarzer im Namen der Republikaner oder Demokraten für das Weiße Haus kandidieren. Das wäre, unabhängig von der Parteizugehörigkeit, ein Kulturschock. Sowohl für die Weißen als auch für die Schwarzen, die die verständliche Hoffnung damit verbinden würden, dass dieser Kandidat seine Herkunft, seine schwarze Hautfarbe nicht vergessen wird.

Ganz ähnlich ist es, wenn nun erstmals in der Geschichte Deutschlands eine Frau für das Kanzleramt kandidiert. Unabhängig davon, was diese Frau parteipolitisch vertritt, ist das eine Sensation. Das wissen die vereinigten Männerbünde ebenso gut wie die 52 Prozent weiblicher Wähler, ohne die keine Partei an die Macht kommt. Zur Erinnerung: Ohne die Wählerinnen läuft nichts. So wurde die SPD ab 1972 laut Wahlanalysen vor allem von den so genannt "fortschrittlichen Frauen" in den Sattel gehoben; und die CDU/CSU wurde 1998 aus demselben gestoßen, weil die Frauen und die GroßstädterInnen sie im Stich gelassen hatten.

Jetzt also eine Kanzlerkandidatin. Da muss doch allen potenziellen Wählerinnen und auch so manchem Wähler warm ums Herz werden, oder? In der Tat: Als Angela Merkel Anfang 2000 überraschend Parteivorsitzende wurde, waren nicht nur die ChristdemokratInnen, sondern auch so manche SozialdemokratIn der Männerbündelei müde. 19 Prozent aller traditionellen SPD-Wählerinnen hätten einer Kanzlerkandidatin Merkel ihre Stimme gegeben, ergab eine Forsa-Umfrage. Und infratest meldete damals: Würden nur Frauen wählen, wäre Merkel mit 44 Prozent aller Frauenstimmen Kanzlerin!

Seither sind fünf Jahre vergangen und gerade auch Frauen haben sich so manches Mal über die Vorsitzende geärgert. Dennoch: Die Zustimmung der Wählerinnen aus allen politischen Lagern zu einer Kanzlerin ist nicht weniger, sondern mehr geworden. 56 Prozent der Frauen fanden gleich nach Ernennung der Kandidatin eine Kanzlerin Merkel „gut“ (doch nur 37 Prozent der Männer). Das allerdings war noch vor dem Antritt des Linksbündnisses, das vermutlich nicht zuletzt die einer neoliberalen Wirtschaftspolitik und amerikafixierten Außenpolitik verpflichtete Merkel Stimmen kosten wird. Klar ist, mit dem Herannahen des Wahltages wird es auch die einem weiblichen Kanzler gewogenen Wählerinnen genauer interessieren: Wer ist Angela Merkel? Und was will sie? Wir wissen, woher sie kommt – aber weiß sie es auch?

Fangen wir von vorne an. Als die Pfarrerstochter und Physikerin 1991 Frauenministerin im Kohl-Kabinett wurde, da trat sie ihren Einzug in die Politik auf dem Doppelticket Frau & Ossi an. Das war nach der Wende ein beliebter Trick bei Westkanzlern aller Couleur. Sie schlugen so zwei Fliegen mit einer Klappe - und setzten außerdem den erfahrenen und darum lästigen West-Emanzen innerhalb der eigenen Partei eine scheinbar naive Ostfrau vor die Nase.

Doch: Auch die Frauen aus dem Osten lernten rasch. Zunächst allerdings begriff "Kohls Mädchen" gar nicht, wie ihr geschah, wenn sie Tag für Tag mit Kübeln von Frauenverachtung überschüttet wurde. Selten war dabei von Inhalten die Rede, meist von ihren "Blüschen" und ihrer Frisur. Letzteres dauert bis zur Ernennung der Kandidatin an.

Damals tat das noch so weh, dass die gebeutelte Ministerin Merkel 1993 für EMMA eine fulminant feministische Rezension über Susan Faludis kluge und klarsichtige Analyse des 'Backlash' schrieb; die Reaktion der Männergesellschaft auf die Emanzipation der Frauen in den 80ern (mehr).

Die deutsche CDU-Frauenministerin stimmte der amerikanischen Feministin in ihrer Analyse eines "erschreckenden Bildes" ebenso uneingeschränkt zu wie der negativen Rolle der Medien (Merkel: "Mit Unterstützung von ein paar Alibifrauen."). "Ich verstehe unter Gleichberechtigung das gleiche Recht für Frauen auf Gestaltung des eigenen Lebens und die gleichmäßige Verteilung aller Pflichten", schreibt die Wissenschaftlerin und Politikerin und fordert: "Wir Frauen müssen weitergehen auf dem Marsch durch die Institutionen und teilhaben an der öffentlichen Macht!"

Jetzt ist Angela Merkel (fast) am Ziel ihres Marsches angekommen. Ich gratuliere! Nur: Etwas ist auf der Strecke geblieben auf dem mühsamen Weg durch die Männerpartei – ihre Wurzeln. Ihre Wurzeln als Ossi und als Frau.

Das begann im Jahre 2000. Da wurde Angela Merkel im Augenblick der höchsten Not von der der Korruption und Männerbündelei müden Basis an die Spitze ihrer Partei gespült. Was sie von nun an mit der vorauseilenden Anpassung einer Frau unter Männern dankte. So erwähnte sie in ihrer 26 Seiten umfassenden Parteitagsrede von 2000 die Frauen- und Familienpolitik nur noch mit knapp sieben Zeilen. "Es stellt sich die Frage", räsoniert die (damals noch) ledige, kinderlose Physikerin aus dem Osten, "ob die Gleichstellung der Frau wirklich nur über Erwerbstätigkeit erreicht werden kann." Ausgerechnet.

Seither war wenig bis nichts aus dem Munde der Vorsitzenden über die Frauen zu hören. Sie befolgte damit eines der ehernsten Gesetze der Berliner Republik, in der das Wort "Frauen" das Unwort der Stunde ist. Politikerinnen, die sich für Frauen einsetzen, sind verbrannt oder zu für "Gedöns" zuständige "Frauenpolitikerinnen" degradiert. Dies wissend, hielt Merkel sich bedeckt. Doch es nutzte ihr wenig: Sie wurde auch als Vorsitzende reichlich als Frau vorgeführt.

Aber auch der härteste Widerstand konnte die zu ihrem Glück chronisch unterschätzte Merkel nicht von ihrem diskreten Weg zur Macht abbringen. Jetzt ist sie also angekommen. Jetzt könnte, ja müsste sie sich erlauben, sich an die Frauen zu erinnern. Und an die Ossis sowieso. Denn beides ist sie ja nun mal - mit allen Vor- und Nachteilen dieser Prägungen. Der Vorteil ist das gelassene Selbstbewusstsein einer qualifizierten Wissenschaftlerin - der Nachteil ist, dass sie den emanzipatorischen Aufbruch der Frauen im Westen nicht miterlebt hat. Sie weiß nicht, dass Widerstand sich lohnt. Sie weiß nicht, dass Frauen die Spielregeln brechen müssen, wenn die nur den Männern dienen. Und sie weiß nicht, dass sie auch durch Selbstverleugnung nicht aus ihrer Frauenhaut rauskommen wird. In den Augen der anderen, vor allem ihrer Gegner, wird sie immer eine Frau bleiben.

Auch eine Kanzlerin Merkel wird vom ersten Tag an nicht nur nach ihren Taten beurteilt werden, sondern mit zweierlei Maß gemessen. Wollte sie dem entkommen, müsste sie hundert Prozent Frau und hundert Prozent Kerl zugleich sein, müsste beide Rollen auf einmal besetzen, beide Sprachen sprechen. Was nicht zu leisten ist.

Bild ließ der Kandidatin raten, sich als "charmant" zu präsentieren – ein undenkbares Vokabular für einen Kandidaten. Außerdem, für wie dumm werden wir WählerInnen eigentlich gehalten? Als hätten die Menschen nicht gerade dieses ganze Blendwerk satt! Ganz im Gegenteil: Die Stunde der Glaubwürdigkeit und Authentizität hat geschlagen. Und dazu gehört eben auch, dass diese Kanzlerkandidatin eine Frau ist - und die anderen Frauen das nicht vergessen werden.

Die Frauen erwarten zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Alternative zu der frauenfreien Politik der Kraftmeier. Was nicht etwa eine "Reduzierung" von Merkels Programm bedeuten würde, wie jüngst zu lesen war, sondern im Gegenteil die längst überfällige Erweiterung um die Interessen der Hälfte der Bevölkerung - zu der, wie es bisher aussieht, demnächst wohl auch eine Kanzlerin gehören wird.

Von einer Frau im Kanzleramt wird traditionell von allen eine menschenorientiertere Politik erwartet - und von den Frauen speziell eine stärkere Vertretung ihrer Interessen. Gerade ihre Erwartungen an eine Kanzlerin werden hoch sein, ob das Merkel passt oder nicht. Was auch für die Frauenpolitikerinnen innerhalb der CDU/CSU gilt. Sie sind entschlossen, der Kandidatin rechtzeitig für das zum 11. Juli angekündigte Programm ihren Forderungskatalog zu präsentieren.

Auf diesem Forderungskatalog stehen unter anderem: Maßnahmen gegen die Benachteiligung von Frauen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, Fortführung des von Rotgrün eingeleiteten Ausbaus von Ganztagskindergärten und –schulen, Umsetzung der in den CDU/CSU-Fraktionen bereits beschlossenen Bestrafung der Freier von Zwangsprostituierten (sowie im gleichen Atemzug die Reform der fatalen Prostitutionsreform von 2002). Und nicht zuletzt die aktive Förderung und Sicherung der Menschenrechte der in Deutschland lebenden Mädchen und Frauen aus dem muslimischen Kulturkreis.

Wird die Kandidatin sich diesen Forderungen stellen? Oder wird sie sich in Sachen Frauen dumm stellen, wie sie es in den letzten Jahren getan hat? Das Problem ist, dass Angela Merkel inzwischen selbst vergessen zu haben scheint, wer sie ist und woher sie kommt. Doch „wenn so wichtige Züge zur Nebensächlichkeit erklärt werden, kann es nicht überraschen, dass ihr Bild so unklar erscheint“, moniert selbst die Süddeutsche Zeitung. Denn: „Als politisch Unbekannte kann Angela Merkel Kanzlerin werden, das Land regieren kann sie aber so nicht.“

Anders gesagt: So richtig es ist, sich als weiblicher Mensch nicht im Frausein einschließen zu lassen – so falsch ist es, dieses Frausein zu leugnen. Sicher, Selbstverleugnung macht den Weg nach oben zunächst leichter für eine Frau in der Männergesellschaft. Aber das ist eine Falle. Denn Selbstverleugnung frisst auch die eigenen Wurzeln. Und damit die eigene Identität. Profil und Programm einer Kanzlerin Merkel hängen also nicht zuletzt von ihrer Ehrlichkeit ab. Ihrer Ehrlichkeit zu sich selbst.

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