Essstörungen durch Corona

Foto: KatarzynaBialasiewicz/istock
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Corona geht Frauen an die Gesundheit. Nun also auch Essstörungen?
Sigrid Borse Wir alle erleben durch die Pandemie gerade eine Zeit von großer Unsicherheit und Überforderung. Junge Frauen mit Kindern und junge Mädchen trifft es besonders. Wenn Kitas und Schulen schließen und auch die Großeltern als Unterstützung wegfallen, fällt alles auf sie zurück. Essen als Halt, Anker, Trost. Es ist der Versuch, Kontrolle zurückzugewinnen.

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Warum gerade Magersucht?
Die Beschäftigung mit dem Gewicht und der Figur wird zum Ersatz für verlorene Strukturen im Alltag. Frauen sehen schnelle Erfolge, wenn sie abnehmen. Das vermittelt ein Gefühl von Stärke und Kontrolle. Das Abnehmen wird ein sich selbst verstärkender Mechanismus. Hinzu kommen die Video-Konferenzen.

Was bewirken die?
Uns haben Frauen geschildert, wie schwer es für sie ist, das eigene Bild auszuhalten. Das hat bei vielen Frauen eine tiefe Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen ausgelöst, selbst bei Frauen, die ansonsten im Reinen mit sich sind.

Woran merken Sie, dass die Zahlen steigen?
Kliniken, ÄrztInnen, TherapeutInnen und Zentren für Essstörungen schlagen Alarm. Sie verzeichnen einen Anstieg über 100 Prozent! Wir haben im ersten Lockdown ein Krisentelefon eingerichtet. Die Leitungen stehen kaum still.

Diplom-Pädagogin Sigrid Borse.
Diplom-Pädagogin Sigrid Borse.

Welche Frauen rufen bei Ihnen an?
Frauen wie Anna. Sie ist 40, hat zwei Kinder, eins ist in der Kita, eins in der Grundschule. Anna hatte als Teenager Bulimie. Die Krankheit hatte sie aber seit 20 Jahren überwunden. Dann kam der Lockdown, das Wegbrechen ihrer Strukturen. Homeoffice, Homeschooling, Haushalt, Versorgung der Eltern. Anna war völlig überfordert. Dazu kam die Angst, nicht allen gerecht werden zu können. Und: das Gefühl, keinen eigenen Raum mehr für sich zu haben. Sie hatte plötzlich wieder Essanfälle, hat erbrochen. Anna steht beispielhaft für tausende Frauen.

Es trifft also hauptsächlich vorerkrankte Frauen?
Frauen, die als Jugendliche bereits eine Essstörung hatten, sind die größte Gruppe unter den betroffenen Erwachsenen, die sich an unsere Beratungsstelle wenden. Und: Essstörungen verlaufen während der Pandemie komprimierter und schneller, weil wir eine absolute Ausnahmesituation erleben. Und das wiederum betrifft vor allem auch junge Mädchen.

Was ist mit ihnen?
Sie haben gerade sehr viel Zeit, oftmals keine geregelte Tagesstruktur und kaum soziale Kontakte. Sie kreisen sehr viel um sich selbst. Familiäre Konflikte treten wie unter einem Brennglas hervor. Es fehlen die Freiräume. Jedes dritte Kind zeigt nach den Ergebnissen der Hamburger Copsy-Studie psychische Auffälligkeiten. Fragt man bei ÄrztInnen und PsychologInnen nach, äußern sich viele besonders besorgt über die Zunahme von Essstörungen bei Mädchen ab zwölf Jahren mit Magersucht, Bulimie oder Binge-Eating, den extremen Heißhunger-Attacken.

Was sind erste Warnzeichen?
Das Thema Körper und Gewicht rückt immer mehr in den Vordergrund. Kalorien werden gezählt, Lebensmittel in Gut und Böse eingeteilt. Die Gedanken an Essen oder Nicht-Essen bestimmen den ganzen Tag. Massives Einschränken der Mahlzeiten, Erbrechen oder Essanfälle sind dann sehr deutliche Zeichen. Oft erleben wir bei den Mädchen auch eine depressive Symptomatik, die Mädchen ziehen sich zurück. Körperoptimierung war und ist noch immer ein riesiges Thema unter jungen Mädchen. Heute sogar stärker denn je durch die Sozialen Medien. Das Gefühl, immer ein perfektes Bild von sich posten zu müssen, erzeugt einen enormen Druck. Und die Pandemie, in der fast alles digital abläuft, wirkt wie ein Brandbeschleuniger.

Was raten Sie Eltern?
Zögern Sie nicht, wenden Sie sich an Beratungsstellen für Essstörungen, an Kinder- und JugendärztInnen, suchen Sie psychotherapeutische Unterstützung! Eltern schaffen das häufig nicht allein und sie unterschätzen, wie gefährlich eine Gewichtabnahme werden kann. Jede zehnte Frau, die Magersucht hat, stirbt daran!

Das Gespräch führte Annika Ross

Tipp: Das Frankfurter Zentrum für Essstörungen hat nun auch einen Podcast zum Thema "StopBodyshaming".

IM NETZ: Bundesweite Hilfemöglichkeiten: www.essstoerungenfrankfurt.de
www.bzgaessstoerungen.de
www.ninette.berlin
Ratgeber Stiftung Warentest für FamIlie und Angehörige

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