Der Kampf um das Neutralitätsgesetz

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Als das Berliner Landgericht im Februar 2017 einer Grundschullehrerin, die wegen ihres Kopftuchs abgelehnt worden war, eine Entschädigung zusprach, erklärte der grüne Justizsenator Dirk Behrendt: „Das ist ein guter Tag für die Antidiskriminierung - und wohl der Anfang vom Ende des Berliner Neutralitätsgesetzes.“

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Ist das Gesetz wirklich eine Hürde für die Integration?

Das Neutralitätsgesetz besagt, dass Justiz- und PolizeibeamtInnen sowie LehrerInnen „keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole“ und „keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen“ dürfen. Denn: „Das Land Berlin ist zu weltanschaulich-religiöser Neutralität verpflichtet. Deshalb müssen sich Beschäftigte des Landes Berlin in den Bereichen, in denen die Bürgerin oder der Bürger in besonderer Weise dem staatlichen Einfluss unterworfen ist, in ihrem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis zurückhalten.“ Beschlossen wurde das Gesetz 2005 von der Koalition aus SPD und Die Linke unter dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD).

Doch seit der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) heißt und in der Hauptstadt Rot-Rot-Grün regiert, steht das Neutralitätsgesetz unter Beschuss. Anfang Dezember beschloss die Landesdelegiertenkonferenz der Grünen in einem Leitantrag, die Abschaffung des Neutralitätsgesetzes zu fordern. Denn: Das Gesetz sei „eine der Hürden für eine gelungene Integration“. Auch wenn Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) sich klar für das Neutralitätsgesetz ausspricht, kann so mancheR sozialdemokratische Abgeordnete der grünen Attacke durchaus etwas abgewinnen. Und auch Die Linke will jetzt, im Windschatten der Grünen, „das Neutralitätsgesetz auf den Prüfstand stellen“.

Dagegen geht nun die „Initiative PRO Berliner Neutralitätsgesetz“ auf die Barrikaden. Die Initiative, die sich im Oktober gegründet hatte, ging soeben mit einem Appell für den Erhalt des Neutralitätsgesetzes an die Öffentlichkeit. „Das Berliner Neutralitätsgesetz leistet einen wichtigen Beitrag zur friedlichen Gestaltung von Vielfalt: Es garantiert staatliche Neutralität da, wo Menschen der Staatsgewalt nicht ausweichen können“, heißt es in dem Appell, der darauf hinweist, dass in Berlin 60 Prozent konfessionslose Menschen leben.

Oder ein Beitrag zur friedlichen Gestaltung von Vielfalt?

Der Appell benennt aber auch, wovor die GegnerInnen des Gesetzes offenbar die Augen verschließen: „In zunehmendem Maße werden muslimische Schüler*innen von Mitschüler*innen unter Druck gesetzt, das Kopftuch zu tragen oder andere religiös motivierte Verhaltensvorgaben (etwa Einhaltung der Fastenvorschriften) zu befolgen. Ein solcher Druck würde sich durch eine religiöse Bekleidung der Lehrkräfte erhöhen.“ Auch die problematische Rolle der konservativen bis reaktionären Islamverbände beleuchtet der Appell: „Wir dürfen außerdem nicht verschweigen, dass es ein Interesse von konservativen religiösen und islamistischen Kräften gibt, das Berliner Neutralitätsgesetz abzuschaffen.“

Dem grünen Argument, das Neutralitätsgesetz bedeute ein „Berufsverbot“ für muslimische Lehrerinnen hält der Appell entgegen: „Es geht bei der Umsetzung staatlicher Neutralität nicht um eine Missachtung der Religionsfreiheit, sondern um Grenzen der Religionsfreiheit, die den Betroffenen lediglich eine räumlich und zeitlich eng gefasste Zurückhaltung während der Ausübung einer Tätigkeit im Öffentlichen Dienst abverlangt.“

Unter den 60 ErstunterzeichnerInnen sind viele fortschrittliche MuslimInnen oder Menschen aus dem muslimischen Kulturkreis wie die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün und die Gründerin der liberalen Ibn Rushd-Goethe-Moschee, Seyran Ates; die Filmemacherin Güner Balci und der Psychologe Ahmad Mansour, der mit radikalisierten Jugendlichen arbeitet; der Islamwissenschaftler Ralph Ghadban und die Publizistin und Terre des Femmes-Vorstandsfrau Necla Kelek.

Unterzeichnet haben aber auch PolitikerInnen von SPD und Grünen wie die Bezirksbürgermeisterin von Neukölln, Franziska Giffey (SPD), oder Walter Otte, der Sprecher der „Bundesarbeitsgemeinschaft Säkulare Grüne“. Letztere ist mit der Haltung ihrer Berliner KollegInnen überhaupt nicht einverstanden: „Es wäre ein völlig falsches und unverständliches Signal, würden wir Grüne die staatliche Neutralität im Öffentlichen Dienst aufgeben“, sagt Otte. Die „Berufsverbots“-Behauptung hält der säkulare Grüne für Unfug: „Die große Mehrheit der Musliminnen in Berlin trägt kein Kopftuch.“

Und wo liegen die Grenzen der Religionsfreiheit?

Auch EMMA-Herausgeberin Alice Schwarzer und die Terre des Femmes-Geschäftsführerin Christa Stolle, die seit Jahrzehnten gegen eine falsche Toleranz gegenüber reaktionären Kräften unter dem Deckmantel der Religion kämpfen, gehören zu den ErstunterzeichnerInnen des Appells. Den hat die „Initiative PRO Berliner Neutralitätsgesetz“ in den letzten Tagen an den Regierenden Bürgermeister, die zuständigen SenatorInnen und die Fraktionen im Berliner Abgeordnetenhaus verschickt. Sie werden demnächst darüber zu entscheiden haben, ob die Hauptstadt dem Einfluss von Reaktionären und Islamisten nachgibt – oder ihm Widerstand entgegensetzt.

Wer unterschreiben möchte, sendet eine E-Mail mit Name, Wohnort und Funktion an PRO-neutralitaet-berlin@gmx.de

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