Ilse Lenz: Wir dürfen nicht die Brücken einreißen

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Wer kann noch wie miteinander reden? Diese Frage drängte sich mir auf, als ich die Debatte um die Genderforschung in diesem Sommer verfolgte. Schon zuvor waren harte wechselseitige Angriffe innerhalb der feministischen Öffentlichkeit aufgetaucht, so eskalierte der Streit nun. In der Debatte wird zunehmend personalisiert und totalisiert, statt sich über Inhalte auszutauschen oder auseinanderzusetzen. Es wird abgegrenzt und ausgegrenzt, bisherige Brücken zwischen sehr kontroversen Standpunkten werden abgebrochen. Es droht ein Zerbrechen der feministischen Öffentlichkeit – vom Streit zur Sprechverweigerung bis zur grundlegenden Spaltung. Die Fragmentierung der feministischen Öffentlichkeit würde einen unersetzlichen Verlust für die Feminismen aller Richtungen bedeuten.

Zunächst möchte ich auf einige Grundfragen der Geschlechterforschung eingehen. Ich lade Sie, die LeserIn, auf eine Reise durch das Geschlecht ein, wie es von verschiedenen ForscherInnen gesehen wird.

Die erste Frage lautet, was ist Geschlechterforschung? Darunter werden die vielfältigen Ansätze gefasst, die sich mit Geschlecht in Kultur und Gesellschaft wissenschaftlich-kritisch auseinandersetzen. Sie arbeiten interdisziplinär, bauen auf verschiedenen Theorieansätzen auf und setzen eine Vielzahl empirischer Methoden ein. Das ist eigentlich selbstverständlich, muss aber leider angesichts weit verbreiteter Zerrbilder zur Genderforschung immer wieder eigens festgehalten werden.

Der Begriff Gender (der internationale Terminus) bezeichnet das soziale Geschlecht. Gender als das soziale Geschlecht wurde lange von Sex, dem biologischen Geschlecht, unterschieden.

In einem ist sich die sehr diverse ­Geschlechterforschung also einig: Geschlecht stellt keine eindeutige biologische Bestimmung oder gar ein Schicksal dar, sondern wird durch kulturelle und soziale Prozesse in bestimmten Kontexten gestaltet. Das zeigen schon die vergleichende Ethnologie oder die Geschichtswissenschaft: Am Beispiel etwa von ­kriegerischen Königinnen in Westafrika oder den kinderversorgenden Vätern bei den Trobriandern haben sie dargelegt, wie sich Gender weltweit unterscheidet: ­Geschlecht ist sozial konstruiert.

Die konstruktivistische Geschlechterforschung hat die These in zwei Punkten zugespitzt: Geschlecht kommt nicht aus einem sozialen ‚Wesen‘ von Frauen oder Männern, sondern es wird durch das soziale Wissen, insbesondere die Diskurse darüber, „wie Geschlecht sein soll“, geformt und vermittelt. In ihrem alltäglichen Leben stellen die Menschen ihre Vorstellung von ihrem Geschlecht dar, sie verkörpern den coolen Typen oder den sensiblen Vater oder die kluge und sexy Führungsfrau. In anderen Worten, entsprechend diesem Wissen wird Geschlecht ‚gespielt‘, performativ dargestellt. Laut Butler ist es ein ­Effekt von Gender-Diskursen und Wissen.

Aber auch die Wahrnehmung der geschlechtlichen Körper, also von Sex, ist durch die menschlichen Erkenntnismöglichkeiten, insbesondere die Sprache geformt. Auch wenn BiologInnen oder MedizinerInnen durch das Mikroskop blicken, interpretieren sie ihr Material sprachlich und formen es dabei kulturell. Dabei verarbeiten sie den wahrgenommenen ‚Geschlechtskörper‘ und setzen sich mit ihm auseinander. Das Verhältnis von ‚Biologie‘ und ‚Kultur‘, von biologischer Körperlichkeit und ihrer Wahrnehmung und sprachlich-kulturellen Verarbeitung, ist heute eine Schlüsselfrage für die Geschlechterforschung.

Die konstruktivistischen Ansätze behaupten allerdings keineswegs, dass Geschlecht beliebig wählbar wäre und ­Menschen gar zwischen verschiedenen Gendern hin- und herspringen könnten. Denn indem Geschlecht als Natur auf­gefasst und so im Wissen verankert wird, wird es zur Herausforderung wie zur Zwangsnorm für die Menschen, die ihre Selbstbilder und Lebensentwürfe in Auseinandersetzung damit entwickeln und gewinnen. Keine Frau, keine Lesbe und keine Mann-zu-Frau-Transsexuelle entgeht etwa der Anforderung, sich mit weiblichen Körpernormen wie „schön und schlank Sein!“ auseinanderzusetzen und ihren eigenen Weg zu finden, wenn auch auf verschiedene Weisen. Die Geschlechterforschung beschäftigt sich mit den Zwängen, den Ambivalenzen und den Freiheitschancen, die dem Geschlecht innewohnen. Sie führt die Frage von Simone de Beauvoir radikal fort, was es heißt, dass man ‚zur Frau oder zum Mann gemacht wird‘ und was alle Geschlechter damit machen und machen können.

Konsens besteht also, dass Geschlecht in der Gesellschaft geformt und nicht von der Biologie diktiert wird. Doch die Zugänge zu Gender sind vielfältig. Denn Geschlecht begründet sowohl Unterscheidungen, also Differenzierungen, wie auch Ungleichheiten, die in Wechselwirkung mit anderen Ungleichheiten, zum Beispiel nach Klasse, Migration oder Begehren treten. Der Frage, wie Geschlechterunterschiede zu Ungleichheiten werden und so Macht- und ­Herrschaftsverhältnisse begründen, gehen sowohl strukturtheoretische wie auch diskurstheoretische Ansätze nach.

Die strukturtheoretische Richtung sieht Geschlecht als gestaltende Kraft wie auch als Ergebnis sozialer Strukturen.

Frauen wurden danach nicht aus biologischer Berufung Hausfrauen, sondern weil ihnen in der geschlechtlichen Arbeitsteilung im neopatriarchalen Kapitalismus die unbezahlte Hausarbeit zugewiesen wurde. Während sie weiterhin den Löwenanteil der Care-Arbeit erledigen, werden sie gegenwärtig im flexibilisierten Kapitalismus zunehmend auf den Arbeitsmarkt geholt, aber häufig in irregulären Beschäftigungsformen wie Teilzeitarbeit usw. Begleitet werden solche strukturellen Veränderungen von einem Wandel der Frauenbilder, wie von der alleinigen Mutternorm zur Powerfrau, die zuhause und im Beruf alles ganz alleine schaffen soll.
In dieser Sicht wird Geschlecht als Strukturkategorie von Ungleichheiten und Herrschaft in gesellschaftlichen Verhältnissen hergestellt und durchformt und strukturiert diese Verhältnisse zugleich. Als die wesentlichen Strukturen, die das Geschlecht formen, wurden das Neopatriarchat, der Kapitalismus und der Nationalstaat diskutiert: Migrantinnen sind danach nicht vorrangig aufgrund ‚ihrer traditionellen Kultur‘ unterdrückt, wie es oft behauptet wird, sondern auch, weil sie auf dem Arbeitsmarkt tendenziell diskriminiert werden und im Rahmen des Nationalstaats rechtlich und kulturell tendenziell als ‚Andere‘ behandelt werden.

Die strukturtheoretischen Ansätze beziehen sich vor allem auf die Gesamtgesellschaft oder auf Organisationen wie Betriebe oder Schulen. Aber sie betonen auch die Seite der Subjekte und ihrer Handlungsmacht: LehrerInnen wie SchülerInnen erscheinen nicht einfach als ­Opfer patriarchaler Verhältnisse, sondern sie können die Schule auch verändern.

Ferner stehen sie vor der Herausforderung, dass die Strukturen sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert haben.

Heute sind Frauen auf dem Arbeitsmarkt und in der Politik aktiv, sie leben in heterosexuellen oder lesbischen Beziehungen oder auch alleine. Deswegen wurde vorgeschlagen, die geschlechtlichen Machtverhältnisse mit dem Begriff der Geschlechterordnung zu erfassen. Damit werden die jeweiligen geschlechtlichen Arbeitsteilungen und Machtverhältnisse, wie auch die Sexualitäten erfasst. Die Geschlechterordnung wird durch das Genderwissen legitimiert.

Im klassischen Kapitalismus galt das ­Ernährer-/Hausfrauenmodell. Der Mann verdiente, die Frau kümmerte sich um Mann, Kinder und Haushalt. Gegenwärtig zeichnet sich nun der Übergang zu einer flexibilisierten Geschlechterordnung ab, lautet eine These. Die Genderbilder und die Arbeitsteilungen flexibilisieren sich. Frauen dringen ins berufliche Mittelfeld und die Politik vor und haben teil an öffentlicher Macht. Damit nehmen auch die Unterschiede zu, wie etwa zwischen Unternehmerinnen und prekarisierten Migrantinnen.

In den Metropolen ist Geschlecht vielfältig geworden, wie es die Lebensformen entlang des LGBT-Spektrums und klassisch- oder neu-hetero anzeigen. Die Flexibilisierung der Geschlechterordnung und des Geschlechts sind allerdings nicht gleichzusetzen mit Emanzipation oder Gleichheit.

Diskurstheoretische Ansätze untersuchen vor allem die kulturellen Konstruktionen und diskursiven Aushandlungen von Geschlecht, Sexualitäten und Körpern. Sie sind von Judith Butler wie auch von postmodernen Ansätzen beeinflusst. Wie etwa Paula Villa und Sabine Hark in ihrem neuen Buch „Unterscheiden und herrschen“ aufzeigen, wirken rassistische und Genderdiskurse zusammen, um unsere Lebensweise in Kategorien der Über- und Unterordnung zu fassen. Solche Unterschiede werden im alltäglichen Reden und Handeln ‚gemacht‘ und erweisen sich als zutiefst wirkmächtig.

In der queeren Genderforschung wird die diskurstheoretische Richtung mit einem Fokus auf Sexualitäten und Heteronormativitätskritik fruchtbar weiter­geführt. Der Schwerpunkt liegt auf diskursiven Ausschlüssen, Grenzziehungen und auch neuen Einschlüssen entlang des LGBTTI-Spektrums etwa durch sexistische und rassistische Bilder und Repräsentationen.

Die strukturellen und diskurstheoretischen Ansätze haben unterschiedliche Zugänge, aber sie stehen nicht gegeneinander, sondern können sich im Idealfall ergänzen. Denn Strukturen kommen erst durch kulturelle Bilder und Normen in den Köpfen und Gefühlen der Beteiligten an und umgekehrt bieten Strukturen den institutionellen Rahmen, in dem solche Bilder und entsprechende Praktiken immer wieder ausagiert werden. Wenn Mädchen von einer Karriere als Supermodel träumen, dann geht das sowohl auf die Botschaft der Massenmedien wie auch ihre eingeschränkten Berufsmöglichkeiten wie auch auf ihre Wünsche nach Aufstieg und Anerkennung zurück.

Beide Richtungen nehmen nun verstärkt intersektionale Perspektiven auf und fragen, wie verschiedene Strukturkategorien wie Geschlecht, Klasse, Migration oder Begehren miteinander zusammenwirken. Wurde in der deutschen Diskussion früher vor allem Klasse und Geschlecht betrachtet, so werden unter dem Einfluss des Schwarzen Feminismus nun zunehmend die Wechselwirkungen von Rassifizierung und Sexismus untersucht. Ein Beispiel sind rassifizierende und vergeschlechtlichte Bilder und Diskurse von MigrantInnen, wie etwa die aller jungen islamischen Männer als potentielle Täter.

Diese Diskussionen sind brisant und noch am Anfang. Sie dürfen weder durch pauschale Stereotypisierungen über die Köpfe der Beteiligten blockiert werden, wie sie sich in der kollektiven Abwertung der Frauen mit Kopftuch ausdrücken. Noch dürfen sie durch einen positionalen Essentialismus (Villa) versperrt werden, nach dem von der sozialen Position etwa einer weißen Person auf ihr Bewusstsein geschlossen wird oder kulturelle und religiöse Motive nicht mehr individuell untersucht werden.

Anstelle einfacher kollektiver Zuschreibungen (von der Bekleidung auf die ­Gesamtperson) wäre es weiterführend, die Widersprüche und Ambivalenzen aufzuzeigen: Warum etwa tragen viele islamische Bildungsaufsteigerinnen ein Kopftuch und warum lehnen andere es ab? Und wie ­reagieren andere Menschen oder Institu­tionen wie die Schule oder die Betriebe?

Die Genderforschung hat sich im Austausch mit der Praxis entwickelt. Die angewandte Forschung begleitet die Gleichstellungs- und Bildungsarbeit in einem fruchtbaren Austausch. Doch arbeitet die Genderforschung im Feld der Wissenschaft und beobachtet die Praxis eigenständig und kritisch mit wissenschaft­lichen Methoden. Nur aufgrund dieser Distanz kann sie der Praxis das zurück­geben, was sie braucht, nämlich unabhängige methodisch gesicherte Ergebnisse.

Ähnlich verhält es sich mit dem Spannungsfeld zwischen Geschlechterforschung und Feminismus. Die Forschung kann und wird Fragen aus der feministischen Debatte und Praxis beziehen. Aber sie wird sie für die empirische Forschung kritisch methodisch aufbereiten und sie von ihrer Beobachterposition her unabhängig bearbeiten.

Wie könnten die Debatten konstruktiv(er) verlaufen? Man könnte Kriterien für die Diskussion entwickeln und ich tue das nun an meinem Beispiel: Zunächst sollte ich die Position, die ich kritisieren möchte, inhaltlich begreifen. Dies belege ich, indem ich ihre wesentlichen Ansätze und Geltungsgründe kurz wiedergebe. Auf dieser Grundlage kann ich feststellen, inwiefern ihre Begründungen für mich überzeugend sind und wo sie mir inhaltlich verkehrt erscheinen. Zugleich respektiere ich die Kritisierte: Persönliche Vorwürfe und Personalisierungen sind tabu. Kollektivzuschreibungen wie ‚alte weiße Männer‘ belegen genauso wenig wie ‚toxische Männlichkeit‘ und kommen in die Mülltonne überlebter Floskeln. Und EMMA-­LeserInnen wie auch NetzfeministInnen werden zumindest bei mir zum Beiwort für taffe kluge Diskussionspartne­rInnen.

Ilse Lenz
Die Autorin ist emeritierte Professorin für Geschlecht und soziale ­Ungleichheit an der Ruhr-Universität ­Bochum. In ihrem neuen Buch „Einwanderung, Geschlecht, Zukunft?“ zeigt sie, wie sich die Teilhabe an Bildung und Beruf nach Geschlecht und Migration seit 2000 verändert hat.

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