Das Ende der Kindheit?
Angeblich wollen alle sie - und trotzdem gibt es sie kaum, die Ganztagsschule. Was ist eigentlich los im Entwicklungsland Deutschland?
Frauke rauft sich die Haare. Auch der zehnte Telefonanruf war vergebens: "Nein, wir sind keine Ganztagsschule", sagte jede Schulsekretärin am anderen Ende der Leitung. "Nein, einen Hort haben wir auch nicht." Gleich kommt Tochter Hilke aus dem Kindergarten. Und nichts ist geregelt. Die Bielefelderin ist Amtsleiterin und will berufstätig bleiben - doch "Wohin mit Hilke?"
Spätestens nach dem Kindergarten klafft für Millionen Mütter ein Loch. Die Schulkinderbetreuung am Nachmittag ist immer noch Privatsache. Resultat: JedeR dritte SchülerIn ist nachmittags allein zu Haus.
Deutschland ist in Sachen Ganztagsschule Entwicklungsland. Angeblich liegt das am mangelnden Geld. Aber in den neuen Bundesländern ist die Lage besser: In Mecklenburg-Vorpommern, in Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen gibt es an den Grundschulen (noch) Hortplätze für jedes Kind, ein Relikt aus DDR-Zeiten. Die Frauen dort beklagen zwar, dass die Betreuung jetzt etwas kostet.
Wie Renate aus dem thüringischen Pößneck: "Ich habe einen Stundenlohn von acht Mark. Da sind 90 Mark für den Hort einfach zu viel."
In Frankreich, England, Dänemark und Schweden machen sich Kinder und Jugendliche erst nachmittags auf den Heimweg, in Belgien gilt das zumindest für die Sechs- bis Zehnjährigen. In Luxemburg gehen Grundschüler an drei Nachmittagen in die Schule. Und in Italien hat immerhin noch jedeR Fünfte länger Unterricht.
In Deutschland besucht nur jedeR 20. SchülerIn eine der rund 1.000 Ganztagsschulen (Sonderschulen nicht mit eingerechnet). Bei den Grundschulen stellt noch nicht mal jede 100ste eine Betreuung bis 16 Uhr sicher. Und das, obwohl zwei Drittel aller Mütter minderjähriger Kinder berufstätig sind.
Alle wollen die Ganztagsschule.
Nur durch die Medien geistert noch ab und zu das Bild von den armen ganztags betreuten Kindern und dem "Ende der Kindheit", wie in dem "Zeit"-Artikel von Susanne Gaschke. Die schrieb im April 2000 erst einmal vehement gegen die Ganztagsbetreuung ("machen die Kinder nachmittags um 5 Uhr nicht gelegentlich einen weggetretenen Eindruck?"), um dann in der darauf folgenden Woche doch dafür einzutreten: "Die Ganztagsschulen müssten ausgebaut werden - wenn es gar nicht anders geht, zunächst an sozial benachteiligten Standorten."
Aha. "Zeit"-Redakteurinnen sollten also ihre Stelle aufgeben und endlich eine gute Ganztagsmutter sein - "Zeit"-Putzfrauen aber dürfen weiter arbeiten und ihr Kind in die Ganztagsschule schicken. Haben wir es so richtig verstanden, Frau Kollegin?
Berufstätige Mütter wollen die Ganztagsschule schon lange - auch jede zweite Hausfrau. 14 von 15 Müttern sind laut einer Brigitte-Umfrage mit der Kinderbetreuung unzufrieden.
Warum also gibt es nicht mehr Ganztagsschulen, wie in Milda in Thüringen? Da sagen die Kinder tatsächlich: "Schule macht Spaß." Sie erleben nicht nur Pauker, sondern PädagogInnen, mit denen sie gemeinsam lernen, essen, spielen, toben, leben.
"Es ist nie langweilig. Wir haben hier viele Tiere, auch Geckos", strahlt der 10-jährige Claus. "Und wir müssen keine Hausaufgaben machen."
Und die LehrerInnen? "Bei vielen Gelegenheiten, auch außerhalb meiner Fachstunden, erleben mich die Schüler von verschiedenen Seiten, und ich lerne sie auch besser kennen", sagt Pädagogin Katja Jahn.
Und die Eltern? Die stehen Schlange. Obwohl im lange schwarz und nun schwarz-rot regierten Thüringen die Eltern den Mehraufwand zahlen müssen: 120 Mark monatlich.
Selbst konservativen PolitikerInnen geht das Wort Ganztagsschule mittlerweile ganz locker über die Lippen. Jährlich eine neue Ganztagsschule, wie sie die rot-grüne Hamburger Senatsregierung plant, ist dem schulpolitischen Sprecher der CDU, Wolfgang Beuß, angesichts des steigenden Bedarfs viel zu wenig. Der Christdemokrat: "Die Betreuung kann für alle Kinder ab der 5. Klasse eine sinnvolle Förderung darstellen."
Und in der familienpolitischen Broschüre der CDU heißt es: "Schulen sollten in die Lage versetzt werden, den Wünschen der Eltern nach einer Ganztagsbetreuung zu entsprechen." Auch FDP, Grüne und PDS fordern: "Ausweitung der Ganztagsschulen." Und die SPD sowieso.
Die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände hat sogar eine ganze Broschüre "Für mehr Ganztagsschulen" veröffentlicht. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt zu Emma: "Frauen können ihr berufliches Potenzial nicht entfalten, solange sie unter mangelnden Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder leiden.
Der Wirtschaftsstandort Deutschland braucht qualifizierte Frauen - nicht zuletzt wegen des wachsenden Fach- und Führungskräftemangels." Gut gebrüllt, Löwe.
Warum aber passiert nichts, obwohl Gewerkschaften, ErziehungswissenschaftlerInnen, LehrerInnen, ÄrztInnen, SchulpsychologInnen, der Kinderschutzbund, der Akademikerinnenbund und das Zentralkomitee deutscher Katholiken in trauter Einigkeit für ein erweitertes Lern- und Erziehungsangebot in allen Schulformen plädieren?
Die ideologische Debatte, in der die Ganztagsschule der Gesamtschule gleichgesetzt und beide verteufelt wurden, scheint verloren zu sein. Und die Eltern haben mit den Füßen abgestimmt und ziehen Ganztagsschulen anderen vor - so sie denn angeboten werden.
Im "Bündnis für die Ganztagsschule" trommeln seit 1992 Ganztagsschulverband, Arbeitgeberverband, Wissenschaftler und Gewerkschaften gemeinsam. Stefan Appel, Vorsitzender des Ganztagsschulverbandes und Leiter einer Ganztagsschule ist überzeugt: "Wir hätten weniger Schulverdrossenheit, Apathie, Aggression, Zerstörung."
Doch trotz aller Lippenbekenntnisse der politisch Verantwortlichen ist die Zahl der Ganztagsschulen in den letzten Jahren deutschlandweit kaum gestiegen, liegt immer noch unter sechs Prozent. Wo hakt es denn nun? Ganztagsschulen kosten Geld: rund ein Drittel mehr als traditionelle. Sie brauchen mehr LehrerInnen, mehr Räume, eine Kantine. Diese Kosten müssten die Länder aufbringen.
Manche Länder machen das Geld locker: Brandenburg zum Beispiel richtete seit 1994 ganze 74 Ganztagsschulen ein (davon 68 Gesamtschulen, die verpflichtend an drei Nachmittagen bis 16 Uhr geöffnet haben). Es liegt damit an der Spitze der neuen Länder. Das kleine Sachsen-Anhalt zählt 35 Ganztagsschulen - darunter nur fünf Gesamtschulen - mit Vor- und Nachmittagsunterricht, Freizeitangeboten, Mittagessen.
Neues auch im Westen: Das größte Bundesland Nordrhein-Westfalen hat die meisten Ganztagsschulen: 444, davon 208 Gesamtschulen, die meist in den 70er und 80er Jahren eingerichtet wurden. In den 90ern kam der größte Teil der 149 Hauptschulen, 26 Gymnasien und 22 Realschulen hinzu. Relativ dicht ist auch das Betreuungsnetz in den Stadtstaaten Berlin, Bremen, Hamburg. Dünn im Saarland, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Hessen, Bayern.
Doch selbst diese wenigen Ganztagsschulen müssen kämpfen, denn sie bleiben vom Rotstift nicht verschont: Lehrerstellen werden gestrichen, wie in Hessen, sowohl unter der SPD-, wie auch unter der jetzigen CDU-Regierung. Und die meisten Bundesländer wollen denn auch in Zukunft das vergleichsweise teure Modell nur in sozialen Brennpunkten umsetzen.
Billiger als die gut ausgerüstete Ganztagsschule ist die Zusammenarbeit mit Jugendhilfe-Trägern wie Sportbund, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden. Die arbeiten nach Unterrichtende an den Schulen, bieten Mittagessen und Hausaufgabenbetreuung, beschäftigen die Kids am Nachmittag. Die Länder haben dafür begrenzte Fördertöpfe, den großen Rest zahlen die Kommunen.
Übrigens: Die Ganztagsschule ist keine neue Erfindung. Sie ist uralt. Es gab eine Zeit, in der war die Ganztagsschule die Regel.
Die Kinder gingen zur Schule, wie ihre Eltern in die Handwerksbetriebe: vormittags und nachmittags; zu Mittag wurde gemeinsam gegessen. Um die Jahrhundertwende war Schluss damit: Den Kleinen, so die Begründung, sollte der zweifache Schulweg erspart bleiben. Was eigentlich dahinter steckte: Die Kinder sollten auf dem Land und in den Betrieben mitarbeiten. Und die Mütter nicht so stark in die Berufe drängen.
Es gab eine Zeit, in der galt die alleinige Erziehung in der Familie als schädlich für Kinder. "Kleinfamilien sind nicht geeignet, die nachfolgende Generation auf die Bewältigung ihrer Geschlechterrollen, ihrer späteren Familienrollen sowie ihrer Berufsrollen vorzubereiten." Das Kind brauche Distanz und die Einbindung in eine Gruppe Gleichaltriger, um sich zu einem selbstständigen Menschen zu entwickeln, hieß es im Jahr 1973 in einer Studie des Familienministeriums. Gilt das nicht mehr?
Hochrechnungen zufolge planen 2,3 Millionen Ganztagsmütter den Weg zurück in den Beruf. Doch den können sie nur antreten, wenn die Politik endlich mehr Geld locker macht für die Zukunft der Kinder und Frauen.