Alice Schwarzer schreibt

Inge Meysel: Die Halbjüdin

Inge Meysel, Cover-Girl der Januar-EMMA 1987.
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Gesehen haben wir uns zum ersten Mal im Frühling 1971, in einer Theatergarderobe in West-Berlin. Ich wollte Inge Meysel, die „Mutter der Nation“, dafür gewinnen, das Manifest der 374 Frauen („Ich habe abgetrieben und fordere das Recht für jede Frau!“) zu unterschreiben. Das Manifest erschien. Ohne ihre Unterschrift. Sie hatte es sehr ernsthaft erwogen, aber dann doch im letzten Augenblick gezögert. Die Aktion war ihr „zu heikel“. Verständlich. Sieben Jahre später gab sie mir keinen Korb. Als, auf die Initiative von EMMA hin, zehn Frauen den Stern verklagten wegen erniedrigender und menschenunwürdiger Titelbilder, war Inge Meysel dabei. Zwar ließ sie sich beim Prozess von Henri Nannen charmant die Hand küssen, in der Sache aber blieb sie hart. Es war nicht das erste und wohl auch nicht das Letzte Mal, dass Inge Meysel engagiert auf die Barrikaden ging. Dass die zarte Person einen Charakter aus Granit hat, ist bekannt. Dass sie nicht immer einfach ist, ebenfalls - aber warum sollte sie auch. Für das Gespräch fahre ich nach Hannover, wo sie gerade gastiert. Heute ist sie im Hotelbett: eine Grippe, die mit Tomatensuppe und Gin bekämpft wird. Genauer: sie residiert im Bett. „Meine Mutter“, sagt Inge Meysel, „war ein General“. Sie ist auch einer. Zum Umgang mit ihrer Seele gehört ein Samthandschuh, zu dem mit ihrem Dickkopf eine eiserne Faust.

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Alice Schwarzer Es wird selten thematisiert, aber Sie sind eine so genannte „Halbjüdin“. Ihr Vater ist knapp dem KZ entkommen, und Sie selbst hatten Spielverbot und lebten jahrelang im Versteck. Wenn Sie, so wie gestern abend in Hannover, vor überwiegend älterem Abonnement-Publikum spielen - ist Ihnen da nicht manchmal komisch zumute? Ist es nicht makaber, heute urdeutsches Idol und einst die verachtete Nicht-Arierin gewesen zu sein?
Inge Meysel Sie sind ein Elefant, Alice! Elefanten vergessen nie. Auch nach 40 Jahren nicht. Ich verzeihe keinem, aber nachtragend - nein, das bin ich nicht. Was ich nicht mehr wissen will, radiere ich aus. Das ist meine Stärke. Es kann ein Mensch nicht alles behalten. Und nicht mit allem leben. Ich verkehre mit keinem, der mir damals begegnet ist. Aber ich kann auch nicht jeden heute fragen: Wann sind Sie geboren? Außerdem: Dieses Land ist nicht nur das Land Hitlers. Es ist auch das Land von Trudchen Meineke. Das war die Sekretärin meines Vaters, die ihn zwei Jahre lang versteckt hat. Unter Lebensgefahr.

Erzählen Sie mir etwas über Ihren Vater.
Ich bin eine reine Vatertochter! Mit meiner Madka (die Mutter) habe ich viele Krachs gehabt. Er aber war immer für uns da. Julius war nie schwach. Er war zu Hause dominant, weil er der Weisere war, der Klügere. Abend für Abend hat er uns im Schlafzimmer vorgelesen. So habe ich Thomas Mann kennengelernt, und Heinrich Mann und Werfel und alle. Er hat einfach den Spaß mehr begriffen. Für sie war Erziehung: Die Kinder haben zu machen, was ich will. Für meinen Vater war Erziehung: Lass sie doch machen, was sie wollen.

Wie kommt es, dass Sie Ihre Eltern beim Vornamen genannt haben?
Vielleicht, weil sie so jung waren. Mein Vater war 18, als ich auf die Welt kam, meine Mutter war auch 18. Sie war Dänin, das einzige Mädchen unter den neun Kindern vom dänischen Peer Hansen. Und ausgerechnet die schwängerte ein Judenbengel aus Berlin. Dass seine Tochter Mararete mitgemacht hatte, das kam ihm gar nicht in den Sinn. Als dann Hochzeit gefeiert wurde, kamen die Papiere nicht rechtzeitig. Gefeiert wurde trotzdem. Auf Anordnung von Peer Hansen. So kam ich unehelich zur Welt.

Haben Sie die uneheliche Geburt als Makel empfunden?
Erst als ich mit 10 geimpft wurde, erfuhr ich in der Schule, dass ich unehelich geboren bin. Ich werde das nie vergessen. Meine Lehrerin, Frau Mierendorf, guckte in mein Stammbuch und rief mich auf: Ingeborg Hansen. Und dann sagte ich: Ingeborg Meysel, Hansen ist meine Mutter. Darauf sagte meine Lehrerin: Moment mal... ah ja, da ist es ja umgeschrieben... Mein Vater hatte mich also später adoptiert. - Ich nahm das Buch, rannte nach Hause und sagte zu meiner Mutter (was sie mir nie verziehen hat): Was ist denn das für eine Schweinerei? Ich bin ja unehelich zur Welt gekommen! Darauf erklärte mir meine Mutter, dass ich ein „Kind der Liebe“ sei. Später habe ich dann immer zu meinem fünf Jahre jüngeren Bruder gesagt: Merk dir das gut. Du bist nur ein Kind des Urlaubs, aber ich bin ein Kind der Liebe! - Ich hab dann auch gleich alle in der Klasse rasiert. Mit dem Argument: Ihr seid ja alle Normale, ich bin anormal.

Das haben Sie, glaube ich, beibehalten: aus Schwächen eine Stärke machen...?
Ja. Ich habe immer versucht, aus einem Angriff einen Gegenangriff zu machen. Auch heute noch.

Wie lebten Ihre Eltern?
Sie waren sehr lebenslustig. Sie gingen leidenschaftlich gern ins Theater. Aber auch gern auf die Rennbahn. Ihr Lieblingstraber hieß Jonny Milz. Und so sollte auch ihr Sohn heißen. Als ich nun zur Welt kommen sollte, hatte meine Großmutter Regina, mein Lieblingsmensch überhaupt, schon vorsorglich ein J aufs Porzellan malen lassen.

Und dann kam Jonny...?
Tja, nur eine Kleinigkeit fehlte - la petite diffêrence.

War Ihr Vater ein bewusster Jude?
Überhaupt nicht. Der wusste noch nicht einmal, wo die Synagoge stand. Meine Großmutter Regina, die war eine gläubige Jüdin. Eine Gutentag aus Breslau, erstklassige Familie. Die ist mit 16 Jahren mit einem 30 Jahre älteren Mann verheiratet worden, den sie erst bei der Verlobung kennengelernt hat. Als der tot war, hat sie in Berlin eine Blusenfabrik auf die Beine gestellt. Sie müssen sich vorstellen, was das in der damaligen Zeit bedeutet hat! Von ihrem Mann gab es übrigens noch nicht mal ein Foto bei ihr. Das kann also keine sehr tiefe Liebe von meiner Regina gewesen sein. - Zu Regina wurde ich alle acht Tage zum Schlafen gebracht. Mein ganzes Glück war immer bei ihr Matze essen, Matze mit Gänseschmalz. Und, wenn sie sagte: Nein, nicht die milchige Tasse. Sie war nämlich strenggläubig, man durfte die Fleischbrühe und die Milch nicht aus ein und derselben Tasse trinken. Mein Weg ist überhaupt gepflastert gewesen von Frauen. Außer meinem Vater. Der war für mich alles: Vater, Ehemann, Geliebter, Freund. Einfach alles: Ibsen und Strindberg und großes Glück. Ansonsten Frauen. Erstklassige Frauen. Schon in der Schule hatte ich eine Direktorin! Eine Freie Demokratin. Sie hat in der Schule - was damals nicht üblich war - deklamatorischen Unterricht eingeführt. Zweimal in der Woche. Von einem ehemaligen Schauspieler. Aber als ich dann eines Tages zu meinem Vater sagte: Ich will zum Theater, sagte der: Du studierst Jura!

Sie haben sich dann doch durchgesetzt, sind auf die Schauspielschule von Ilka Grüning, Lieblingsschauspielerin Ihres Vaters und Gefährtin von Lucie Höflich, gegangen. Das war Ende der 20er Jahre in Berlin. War da nicht mächtig was los in der Kultur? Und auch bei den Frauen?
Emanzipation im heutigen Sinne ist mir damals nicht begegnet. Sicher, Schauspielerinnen waren Göttinnen. Aber Politikerinnen gab es nicht. Es gab nur eine: Rosa Luxemburg. Darum ist die Luxemburg ja so brutal umgebracht worden - weil sie so ein Fremdkörper war. Aber ich kannte nicht eine Frau in leitender Stellung. Auch der Geschäftsführer in der Fabrik meiner Großmutter war ein Mann, die Arbeiter waren Frauen. Allerdings: eine meiner Schauspielmitschülerinnen war zum Beispiel Brigitte Horney, Beggi. Beggi hatte eine wundervolle Mutter, eine Psychologin (Anm.d.Autorin: die berühmte Psychoanalytikerin und Freud-Kritikerin Karen Horney). Aber darüber, dass wir eine Direktorin hatten, lachten sich die Jungsschulen tot. Die schwingt vielleicht die Peitsche, die ist schlimmer als jeder Direktor - so hieß es.

Dennoch kam Inge, noch bevor sie zum Theater kam, zur Politik.
Bei uns zu Hause wurden immer drei, vier Zeitungen gelesen. Julius’ berühmter Satz war: Man höre nicht eines Mannes Rede, man hör sie reden alle beede. Das hat er auch gemacht, wenn’s Krach gab. Dann hat er gesagt: Gretchen, hör mal auf, jetzt wollen wir die Kinder auch mal hören. Dieser Gerechtigkeitssinn ist mir so eingegangen, dass ich mich für Gerechtigkeit umbringen lasse. Darum hasse ich Journaille - nicht Journalisten, für mich ein großer Unterschied.

Und die Politik?
Mein Vater hat immer Busch rezitiert: Ein jeder Jüngling hat einmal den Hang zum Küchenpersonal. Bei mir ist es meine Tochter. - Er war ein Freier Demokrat und litt unter seiner arbeiterseeligen Tochter, die alle ihre Freundinnen im Arbeitermilieu hatte. Auch bei uns im Hause ging ich lieber in die Küche als in unser Esszimmer in der Beletage. Da war es viel gemütlicher, da wurde diskutiert. Und bei uns kriegte ich immer gleich von meiner Mutter eine Schelle, wenn ich sagte: Du redest ja wieder einen Quatsch, Grete. - Ich war beim Reichsbanner zu Hause, war allerdings bei den freien Jungdemokraten eingetreten, weil ich zu der SPD-Jugend keine Beziehung hatte. Meine Antrittsrede bei den Freien Jungdemokraten habe ich am Reichskanzlerplatz, im Hintersaal eines Cafes gehalten. Gegen die Todesstrafe. Mit Schwert und Flammen! Da war ich fünfzehn. Und so bin ich geblieben. Ich hasse, damals wie heute: Rache.

Gab es in der Zeit Schwärme, Jugendlieben?
Für mich war es gar nicht möglich, meine Jungfernschaft zu verlieren. Denn für mich war klar: Bist du mit einem Mann zusammen, kriegst du ein Kind. Und eines wusste ich: Ich wollte kein Kind haben. Ich konnte es mir nicht leisten, einen dicken Bauch zu bekommen. Ich wollte Theater spielen. Männer waren gestrichen, bis 21, dann ist es doch noch passiert. Aber da hatte ich schon längst eine Liebesbeziehung zu einer Frau. Mit einer Kollegin. Tempi passati.

Nach der Schauspielschule bei der Grüning ging das ja dann ganz schnell mit den Engagements...
Ja, das war wundervoll. Ich bekam meine ersten Kritiken. Ein Kritiker schrieb: Von diesem Mädchen, das sage ich mit erigiertem Zeigefinger (mit erigiertem Zeigefinger!) wird man noch hören. Und ein anderer schrieb: Dieses Mädchen wird Karriere machen - wenn sie sich nicht eines Tages zu sehr gefallen sollte. Ein Satz, an den ich später oft gedacht habe. Damals habe ich vor lauter Stolz und Freude morgens immer quer über die Straße gerufen: Haben Sie schon die Kritik in der Abendzeitung gelesen?! Haben Sie sich schon die BZ gekauft?! Quer über die Straße.

Das Glück währte nicht lange. Bald kam das Spielverbot für die Halbjüdin Meysel.
Also das war ein bisschen anders. Erst feierte ich noch Erfolge im Schauspielhaus Leipzig. Da war Hermine Körner. Die von mir hochverehrte Hermine Körner. Und die sagte nach einem Auftritt von mir: Ganz Claire! Ganz Claire Waldoff! - Da habe ich laut geweint. Denn ich kannte Claire Waldoff nur dick und rothaarig. Na ja, rothaarig war ich ja auch... Ich dachte: Die sehen mich alle falsch. Die sehen meine Seele ja gar nicht, meine zarte Seele! Die sehen gar nicht meine traurige Seite. Ich bin doch so tragisch...

Haben Sie Neigungen zur Melancholie?
Ja. Aber das hat ja jeder Komiker.

Dann kam 1933.
Dann kam 1933. Und ich habe wirklich gesagt: Papa, regt euch nicht auf. Das dauert höchstens sechs, sieben Monate... Am Morgen nach der Machtergreifung, am 1. Februar 1933, wurde in Leipzig Walden abgeholt, ein Schauspielerkollege und Kommunist, von der SA zusammengeschlagen und ins KZ gesteckt. Wir haben ihn nie wiedergesehen. Erst da haben wir begriffen, was los war... Vier Wochen später erklärten Schauspieler und zwei Schauspielerinnen, sie könnten mit der Halbjüdin Meysel nicht mehr spielen. 1933. In einem Theater, das einwandfrei demokratisch war. Es ging ja alles so rasant schnell.

Und was haben Sie da gemacht?
Ich ging mit Helmut Rudolph, meinem Lebensgefährten, nach Danzig. In die freie Hansestadt Danzig. Da hatte Hitler noch nichts zu sagen. Aber das Theater war schon der Reichstheaterkammer angeschlossen. Ich kriegte dann Arbeit beim Sender. Als Sprecherin.

Und die Eltern? Und Großmutter Regina Meysel?
Regina war gottseidank schon 1928 gestorben. Und meine Tante Paula ist 1935 auf freiwillige Art gestorben. Wir hatten eine Zyankalikapsel, die mein Vater besorgt hatte. Mein Bruder wurde eingezogen. Ein großer Blonder. Ein richtiger Reklame-Goi. Erst als er in Frankreich wegen „Tapferkeit vor dem Feind“ befördert werden sollte, kriegten die raus, dass er ein „Mischling“ war.

Und wieso haben Sie so rasch Spielverbot bekommen?
Weil meine Mutter 1934 das offizielle Gesuch eingereicht hatte, dass ich als „Tochter einer Dänin und Arierin“ und „eines Helden aus dem Ersten Weltkrieg, der im Krieg den Arm verloren und das Eiserne Kreuz erster Klasse bekommen hatte“, weiterspielen dürfte. Das war ein schwerer Fehler. Meinem Vater war schon seine Firma „arisiert“ worden, so nannte man das. Als ich dann aus Danzig zum Urlaub nach Berlin kam, lag da eine Ladung vor: zur Reichstheaterkammer kommen. Ich bin also hin. Da saß ein junger Mann, der mich kannte. Ich dachte, der wird mir erlauben, weiterzuspielen. Darauf sagte er mir: Tja, eines ist dumm - dass Ihr Vater lebt. Wenn er tot wäre, wäre das einfacher. Darauf habe ich angefangen zu lachen, wirklich, und habe ihm gesagt: Wissen Sie, wir sind eigentlich ganz zufrieden, dass er noch lebt... Ich habe die Sondererlaubnis nicht gekriegt. - Das alles passierte im obersten Stock. Da gab es so ein wundervolles altes Berliner Treppenhaus, so geschwungen, wo man so runtersehen konnte. Als ich aus dem Zimmer kam, da habe ich wirklich einen Augenblick gedacht: Wenn ich hier springe, bin ich allet los. Und dann habe ich gedacht: Und Papa? Ist das jarnischt? Nein: hier wird nicht gesprungen!

War das auch demütigend für Sie?
Demütigend? Nein. Ich war so getroffen, dass ich nur noch die Wut gekriegt habe! Dem Papa wurde dann das Eiserne Kreuz aberkannt. Er durfte seine Bändchen nicht mehr tragen.

War das ein Grund, warum Inge Meysel 40 Jahre später das Bundesverdienstkreuz abgelehnt hat?
Ja. Was so’n Ding wert ist, wenn’s drauf ankommt, wusste ich ja: nichts, gar nichts. Außer einer Grabzeile: Träger des Bundesverdienstkreuzes. Und da ich keine Todesanzeige bekomme, sondern als Mutter der Nation in den Himmel einfahre, brauche ich sowas nicht. Schon gar nicht von Herrn Carstens.

Wie ging das weiter? Gab es damals schon die Zyankalikapsel?
Ja. Die hatte ich immer bei mir, im Portemonnaie, das ich am Leib trug. Die Angewohnheit habe ich heute noch. Ich habe immer das Nötigste bei mir, Geld, den Safeschlüssel. Weil ich mir sage: Wenn dir mal was passiert - einen Griff kannst du immer machen. Das ist das Erbe der Nazizeit...

Inge, immer auf dem Sprung...
Ja. Ich hätte mich auch bestimmt schon beim Laufen durchs Rote Meer umgedreht! Ich hätte nachgesehen, wie weit die Welle ist. Und gerufen: Lauft schneller, Freunde! Die Welle kommt!

Und in Hamburg, wo Sie ab 1936 mit Ihrem Lebensgefährten lebten? Kam da die Welle?
In Hamburg war ich Frau Rudolph für die Leute. Spielen durfte ich nicht. Aber nun wenigstens zuschauen. Heimlich, bei den Proben. Dafür war ich so dankbar. Ich habe in der Zeit seine Rollen immer mitgearbeitet. Ich glaube, ich war seine beste Regisseurin. Ich selbst habe immer zu Hause gespielt, für Cognac. Cognac war mein Drahthaar, aber ein echter. Ihm habe ich alles vorgespielt. Wenn ich traurig war, legte er mir seine Schnauze auf die Knie und sagte: Na, so schlimm ist es auch wieder nicht.

Und was wurde aus den Eltern?
Die hausten in einer Wohnung in einem Zimmer, und mein Vater hatte nur halbe Essensrationen, so wollten es die Nürnberger Rassengesetze. Aber mein Vater hatte ungeheuer viele Freunde. Die brachten ihm oft heimlich zu essen. Und zu rauchen. Gaben’s ab oder legten was vor die Tür. Es ging also gut. 1941 wurde Vater in Berlin dann von der Straße weg verschleppt. Er kam ans Reichspietschufer, wo die Gestapo saß. Da waren lauter jüdische Menschen, die abtransportiert werden sollten. Na, und da ist ein SS-Mann mit einer Konkorde über ihn gestolpert. Es war der berühmte Heydrich persönlich: Warum fehlt dem Mann da ein Arm? An der Somme liegengeblieben, hat mein Vater ganz automatisch geantwortet, ganz wie zu Hause. Da hat der SS-Mann gesagt: Raus mit dem Kerl. Raus, raus. Vater lief nach Hause und sagte sofort zu meiner Mutter: Hier müssen wir verschwinden. Beim nächsten Angriff auf Berlin ist er mit seinem Dackel zu Fuß bis nach Müggelheim gegangen. Da haben ihn seine Ex-Sekretärin, Trudchen Meineke, und ihr Mann in ihrem Keller versteckt. Wenn die erwischt worden wären, wären sie gehenkt worden. Alle. Trudchen Meineke. Der Name ist für mich mit Lettern eingeschrieben in die Geschichte der Helden des deutschen Volkes! - Und während mein Vater da im Keller saß, und Berlin brannte im Bombenhagel, hat er sich gesagt: Mehr. Noch mehr! Lieber alle hops gehen, damit der Spuk endlich ein Ende hat.

Und die Mutter?
Die ist zur mir nach Hamburg gekommen, wo ich sie mit durchgebracht habe. Sie hat unangemeldet bei mir gelebt, also ohne Lebensmittelkarten. - Am 8. Mai, dem Tag der Kapitulation, habe ich meine Mutter in den Arm genommen und habe gesagt: Grete, von jetzt ab ist es nicht mehr die Gestapo, die morgens um 6 Uhr klingelt. Von jetzt ab ist es der Milchmann.

Und die Zyankalikapsel?
Die habe ich in die Toilette geschmissen... Mein Julepa hat dann leider nur noch bis 1950 gelebt. Er ist eigentlich daran gestorben, dass das nicht eingetreten ist, was er erhofft hat: eine endgültige Befreiung. Er ist eigentlich nie darüber weggekommen, was draus geworden ist. So hatte er es sich nicht vorgestellt: dass dieselben Leute wie vorher auf den Pöstchen saßen, dass kaum etwas passierte...

Und wie war das für Sie?
Das ist eben meine Kraft. Er ist dran kaputtgegangen. Ich muss bis heute darüber lachen. Das Absurde ist ja auch: Ich bin ja noch nicht einmal eine Jüdin. Wenn ich Regina gewesen wäre, dann hätte das Ganze wenigstens einen Sinn gehabt. Aber ich? Ich sollte ja in der Schule den ersten Preis als evangelische Schülerin bekommen... Das ist das Dilemma von Mischlingen. Dass sie immer sagen können: Ich bin ja gar kein Neger, kein Jude; meine Mutter ist ja Weiße, ja Arierin. Und ich bin so ein Mischling.

Also hat Inge Meysel nie irgendwo wirklich dazugehört?
Genau. Ich stehe daneben. Ich stehe immer daneben. Bei vielen Dingen. Nur nicht beim Theaterspielen. Ich wäre in keinem Lande glücklicher geworden als hier. Nur in einer einzigen Stadt, die ich leider erst vor 15 Jahren zum ersten Mal kennengelernt habe: in New York. Das ist keine Stadt, das sind 30 Städte und 30 Menschenrassen. Ich sage Ihnen: Wenn ich in dieser Stadt 30 Jahre jünger gewesen wäre, hätte ich eine Weltkarriere gemacht!

Na, die deutsche Karriere war und ist ja auch nicht schlecht. Was war eigentlich Ihre liebste Rolle?
Meine beste Rolle war die in „Der rote Strumpf“. Die Geschichte einer alten Frau, die durchs Leben verrückt geworden und wieder zum Kind geworden ist. Das ist meine beste Rolle in der Darstellung. Weil ich dort wirklich ein Mensch ohne jegliche Mache sein konnte. Da ist kein falscher Ton.

Hat die Berühmtheit Ihr Leben verändert?
Zuerst habe ich es genossen. So wie früher, wenn ich über die Straße rief: Haben Sie schon die BZ gekauft?! Und John Olden, mein Mann, mit dem ich ja 19 Jahre zusammen war, hat es auch genossen. Wenn er zum Beispiel im Restaurant einen Tisch bestellt hat, und die Leute sagten bei meinem Anblick: Ach, Sie sind’s, Frau Meysel! Und führten uns prompt an einen besseren Tisch, dann sagte John: Siehst du, jetzt bist du berühmt. Und wenn ich ihn fragte: Was sagst du eigentlich, wenn der Portier im Theater immer zu dir sagt: Guten Abend, Herr Meysel? Dann weiß ich wenigstens, antwortete er, dass du was bist. Viel schlimmer wäre, er würde sagen: Sagen Sie mal, Herr Olden, zu wem wollen Sie eigentlich? - Er hatte einen wundervollen Humor. Er hatte meinen Ruhm wirklich genossen. Ich gar nicht. Ich habe ihn als selbstverständlich hingenommen. Mir war immer klar, dass ich eines Tages was werde.

Sie haben mit Ihrem 1965 gestorbenen Mann, dem Regisseur John Olden, ja auch sehr viel gearbeitet.
Und ob! Er war auch mein wichtigster Kritiker. Wir haben da immer so einen Schnack gehabt: So wie man rauf kommt, kommt man runter. Auch wenn es kein Stück von ihm war, kam er auf die Hauptprobe und sagte dann abends zu mir: Das darf doch nicht wahr sein, was du da machst! Nicht so gefühlsbetont. Das Ganze kannste schneller spielen. Mach’n Strich, Inge, mach’n Strich.

Und mit wem redet Inge jetzt über ihre Arbeit?
Mit ihm! Ich guck nach oben und frage: War’s gut so?

Und... Wie ist es mit den Freunden? Und den Freundinnen?
Meine Freunde sind überwiegend homosexuelle Männer. Weil sie empfindsamer sind und sensibler. Mit richtigen Männern habe ich ständig Streit.

Und Frauen?
Mein Verhältnis zu Frauen ist weniger gelassen. Bei Frauen, die mir missfallen, werde ich wütend und böse. Bei Männern ist das anders. Wenn mir da jemand missfällt, sage ich einfach: Das hat doch keinen Zweck mit uns.

Und welche Art von Frauen gefallen Ihnen?
Frauen, die Frauen bleiben - auch, wenn sie Feministinnen sind. Die, die nicht männlicher sein wollen als die Männer. Dieser Männlichkeitswahn bei Frauen, den mag ich nicht. Diese männlichen Frauen, die haben schon so einen Ton, so einen fordernden Ton. Die gehen sofort in medias res, die dulden gar kein Vorspiel mehr. Das sind die, die sicher auch mit Männern wundervoll umgehen können. Weil sie nämlich den männlichen Ton anschlagen. Warum nur? Das schönste an Frauen ist ihr Charme, ist ihre Einfühlsamkeit: auf einen Menschen eingehen, aber das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Sie, Alice, haben so etwas an sich, wenn Sie so alle Viertelstunde zu mir sagen: Na schön, aber nun kommen wir mal wieder zur Sache...

Was schätzen Sie an Menschen?
Als erstes Mutterwitz. Als zweites absolute Toleranz. Und als drittes: Zivilcourage.

Und an sich selbst?
Meinen Jähzorn. Meine Intoleranz. Und, aber auch: meine Zivilcourage. Was auch geschieht: Mein letztes Wort würde immer ein mutiges Wort sein. Und wenn ich darüber kaputtgehen würde.

Haben Sie sich das damals auch gesagt, als Sie 1966 in Berlin den alternden lesbischen Fernsehstar „Sister George“ spielten und dafür in Grund und Boden verrissen wurden? Die Berliner Morgenpost schrieb über die „hemmungslose Expansion ihrer Mittel“. Und alle waren sich einig, es sei ein Skandal. - Oder haben Sie wirklich so schlecht gespielt?
Ich habe glänzend gespielt!

Und warum der Misserfolg?
Weil es keiner wissen wollte. Keiner wollte von der Meysel wissen, wie einer Lesbierin im Abstieg zumute ist und welche männliche Wut sie bekommen kann. Diese Sister George ist ja ein alternder TV-Star, sie verliert ihre jüngere Freundin, trinkt, es geht bergab. Zum Schluss bietet man ihr die Rolle einer Kuh auf der Weide an.

Sie haben jüngst für den Stern bei der Ausstellung „Eva und die Zukunft“ vor einem Bild als Ihrem Lieblingsmotiv posiert, das zwei überdimensionale, nackte Frauen wollüstig beim Liebesspiel zeigt.
Auf dieser Ausstellung sah ich zuerst so ein Ostbild von einer Arbeiterin mit einer Fahne. Irgendwo ein Streik bei den Webern oder so. Sie geht mit der Fahne voran. Und ihr folgen lauter Männer. Da habe ich gesagt: Das könnte ich sein. Aber das Bild ist dann leider nicht genommen worden... Und dann kam ich zu dem besagten Bild von Gustave Courbet. Da habe ich gesagt: Da ist alles drin, was man sich wünschen kann: Liebe, Zuneigung, Sich-Vergessen, Eintauchen. Und in allem ist jede Frau drin, auch ich. - Da hat die Redakteurin geantwortet: Ist das nicht ein lesbisches Bild? Und da habe ich gesagt: Meine Liebe, Sie verstehn nichts - das ist ein Liebesbild! Das ist ein Liebesakt. Und der könnte zwischen jedem stattfinden. Ganz egal, ob Mann und Frau oder Mann und Mann oder Frau und Frau.

Ihr Kommentar im Stern zu dem Bild lautete: „Die Liebe zwischen Frauen ist eine Zukunft“. - Was meinten Sie damit?
Ich glaube, dass sehr viele Frauen zuerst aus Enttäuschung durch Männer zu Lesbierinnen werden - dann aber sehr oft merken, dass ihr Zärtlichkeitsbedürfnis durch eine Frau besser ausgefüllt wird. Also, ich glaube, dass viele Frauen, die nicht verbittert werden wollen und sich das Gefühl für die Breite bewahren wollen, dann bewusst lesbisch werden.

Sie sind auf das Klischee der „Mutter der Nation“ festgelegt worden. Schließt das Erotik aus?
Das zu sagen, ist Ihrer nicht würdig! Dreiviertel der Männer in der ganzen Welt nennen nach drei, vier Jahren der Liebesseeligkeit ihre Frauen Mutti. Das reizt sie, weil sie doppelt schlafen: mit der Geliebten und der Mutter.

Also keine kränkende Einengung?
Doch. Die Einengung der Journaille. Denn die Einengung aufs Klischee geschieht eigentlich nie vom Publikum her, sondern immer nur von der Kritik. Wenn man nur mal einen warmen Ton anschlägt, oder einen verzweifelten, oder einen gütigen, oder auch einen bösen, dann verbreitet die Kritik sofort das Schlagwort: Mutter der Nation. - Dabei bin ich doch überhaupt kein mütterlicher Typ. Ich bin aggressiv, ich bin jähzornig, ich gehe für jedes Unrecht auf die Palme und komme da schwer wieder runter. Ich bin politisch eine linksorientierte Person, also überhaupt eine kämpferische Natur.

Womit hat das Schlagwort von der Mutter der Nation eigentlich angefangen? Mit den „Unverbesserlichen“?
Viel früher. Mit dem „Fenster im Flur“ im Hebbel-Theater. Da hat der Luft eine Hymne geschrieben. Und der Karsch. Und Ritter. Hymnen. „Das ist nicht eine Mutter, sie hat alle Mütter gespielt.“ - Das hat zunächst keiner begriffen, der mich kannte. Bis dahin hatte ich immer nur Salondamen oder Charakterrollen gespielt...

Inge, Sie sind heute berühmt und alt. Ich glaube...
Sie sind wohl verrückt! Ich bin doch nicht alt!

...Sie sind berühmt und alt - und beides ist man immer nur in den Augen der anderen.
Sehr richtig. Sehr gut.

Das ist nicht von mir. Das hat Sartre mir mal gesagt.
Muss ich mir merken. Ein kluger Mann. Ich vergesse manchmal wirklich mein Alter. Ich nehm’s gar nicht zur Kenntnis, um ehrlich zu sein. Aber oft, sehr oft guck ich in den Spiegel. Und ich habe sehr viele Spiegel in meinem Haus. Und diese Spiegel bringen mich zur Raison. Ich guck immer wieder rein und sage: Na, Frau Meysel, so jung sind se auch nicht mehr.

Als wir den Termin gemacht haben, war das gar nicht so einfach. Erst mussten Sie drehen, in Berlin und London. Dann fuhren Sie nach China. Dann ging’s auf Theater-Tournee. Wie sind die Zukunftspläne von Inge Meysel?
Zukunft? Wenn ich 80 werde, spiele ich noch einmal meine liebste Theaterrolle: Die 80-jährige Maude in „Harold und Maude.“ Denn sie ist wie ich, wir haben eines gemeinsam: Wir sind beide Rebellen. - Dafür gibt’s leider kein schönes weibliches Wort...

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