Alice Schwarzer schreibt

Irene Dische packt aus

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Wir schreiben das Jahr 1990. EMMA hatte gerade den Journalistinnenpreis und den Fotografinnenpreis initiiert, und in dieser ersten Jury war auch Gisèle Freund. Die berühmte Fotografin war nach 1945 im Pariser Exil geblieben, wohin die Nazis sie verjagt hatten. In einer Zehn-Zeilen-Information zu jedem Jurymitglied notierte ich, Freund sei als "Kommunistin und Jüdin" von den Nationalsozialisten verfolgt worden. Kurz nach der Veröffentlichung besuchte ich sie in Paris. Die kleine, zähe und inzwischen alte Frau öffnete mir überraschend mürrisch die Türe und ihre Laune hob sich auch in den folgenden Minuten nicht. Auf meine Frage: "Ist was, Gisèle?" schüttelte sie stumm den Kopf. Ich insistierte. Und schließlich stieß eine wütende Gisèle den Satz aus: "Das hat seit den Nazis niemand mehr gewagt, mich als Jüdin zu bezeichnen!" – Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff. In der Tat, in Gisèles großbürgerlichem Berliner Elternhaus hatte sich Anfang des 20. Jahrhunderts niemand mehr als "Jude" verstanden – dazu hatte erst Hitler die Freunds wieder gemacht.

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Ich weiß nicht, ob Irene Dische bei der Lektüre des Textes jüngst im Spiegel zusammengezuckt ist, denn schließlich hat Matthias Matussek es wirklich gut mit ihr gemeint: Statt des "humorlosen Handke" sollte doch besser die Dische den 'Heine-Preis' kriegen, befand der Ressortleiter Kultur. Warum? Das begründete er nicht literarisch bzw. politisch, sondern nur mit einem Wort: Der "Jüdin Irene Dische" stünde der Heine-Preis zu.

Ausgerechnet! Ausgerechnet die Schriftstellerin, die seit ihrer ersten Veröffentlichung, der Kurzgeschichte 'Fromme Lügen' (1991), ironisch bis zynisch anschrieb gegen dieses Etikett, das von WesteuropäerInnen mit jüdischen Vorfahren in den seltensten Fällen selbst reklamiert, sondern ihnen meistens von anderen, von Antisemiten verpasst wurde! Ausgerechnet die Schriftstellerin, die ätzender als kaum eine andere in ihren Texten immer wieder den Philosemitismus als die andere Seite der Medaille Antisemitismus entlarvt hat, soll im Namen ihres "Judentums" geehrt werden!

Doch hören wir auf, zu theoretisieren. Sprechen wir von dem letzten, mitreißenden Buch der Irene Dische, in dem es wieder einmal auch darum geht. Wie sollte es anders sein, wo der Antisemitismus so reingeschlagen hat in die Geschichte der Rothers (die Mutter) und Disches (der Vater). Die wollten zwar eigentlich nur in Ruhe anständige rheinisch-schlesische Katholiken bzw. geniale Wiener Atheisten sein – doch wurden dann brutal von den Nazis zu Juden gemacht.

So dicht ist Irene Disches neuer Roman, 'Großmama packt aus', an dem wahren Leben, dass die Autorin sich noch nicht einmal die Mühe macht, die Namen zu camouflieren. Großmutter Elisabeth Rother, die rheinische Katholikin, hatte das Malheur, einen schlesischen Juden zu heiraten (der seinerseits eigentlich auch nichts mehr zu tun haben wollte mit der Mischpoke) und erinnert sich nun über 359 Seiten post mortem: Vom Himmel aus, versteht sich, in den die Vielbeterin selbstverständlich gekommen ist. Energisch und selbstgerecht, komisch und verzweifelt, aber immer tüchtig, rollt sie die ganze Chose nochmal von vorne auf. Wie sie, der Liebe wegen, diesen zum Katholizismus konvertierten Juden Dr. Carl Rother geheiratet hat (obwohl ihre Familie sie weißgott gewarnt hatte); wie der Carl auch jenseits des gezielten Zeugungsaktes immer was von ihr wollte; wie sie lieber Süßes aß und trank; wie ihre Tochter Renate und ihre Enkelin Irene sie zur Verzweiflung trieben, vor allem wegen ihrer Mannstollheit – wie sie die beiden dennoch irgendwie geliebt hat.

Doch bis "Mops" (so Großmutters Spitzname) nach einem langen rheinisch-geschwätzigen Leben endlich ihren Schlussseufzer ausstoßen kann, passiert so einiges: die knappe Flucht aus Deutschland, die resolute Integration in Amerika, der fatale Hang der Tochter Renate zu jüdischen Männern – denn, ohja, Großmutter ist eine in der Wolle gewaschene Antisemitin – sowie die glückliche Wiedervereinigung mit Haushälterin Liesel.

Dazwischen Enkelin Irene mit ihrem kleinen Bruder Carl, beide grausam unbehaust und entweder sich selbst oder irgendeinem sadistischen Kindermädchen überlassen. Um Irene geht es natürlich eigentlich in Großmutters endlosem Monolog. Mit ihr fängt es an ("Dass meine Enkeltochter so schwierig ist, hängt vor allem mit Carls geringer Spermiendichte zusammen") und hört auf: "Wirklich, es geht nichts über eine Tochter."

Elisabeth Rother war Hausfrau, ihre Tochter Renate Dische (gestorben 2003) Pathologin. Und auch Irenes Metier ist das Sezieren, schreibend. Sie tut das mit einer lakonischen, unsentimentalen, schonungslosen – wenn auch nicht immer uneitlen – Neugierde. Über die Männer erfahren wir in diesem Buch wenig, ihnen hat Irene Dische schon in früheren Texten Denkmäler gesetzt. Dieses Buch aber ist ein Frauenbuch. Das einzige, was die darin agierenden Frauen in Wahrheit interessiert, sind die anderen Frauen. Und es ist ein Buch über Prägungen. Über Identitäten. Über Widersprüche. Widersprüche, die hier nicht nur ausgehalten, sondern regelrecht kultiviert werden. Kurzum: Es ist der Stoff, aus dem die Autorin Irene Dische, die – ganz wie Mutter und Großmutter – heute zwischen Amerika und Deutschland lebt, gemacht ist.

Ob Dische der Heine-Preis zustehen würde, das ist eine andere Frage. Ganz sicher aber sollte er Irene Dische nicht verliehen werden, weil sie "Jüdin" ist. Denn das ist sie gezwungener Maßen, ganz wie Heine. Dem ging es nämlich nicht anders: Auch er ist – nach zahlreichen Versuchen der Emanzipation – von den Antisemiten immer wieder zum Juden gemacht worden.

Irene Dische: "Großmama packt aus" (Hoffmann und Campe)

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