Kein Grund zur Freude...
Wir hatten uns zu einer Wahlparty getroffen, saßen gemeinsam vor dem Fernseher, tranken Wein, knabberten Käsestangen und kommentierten das Geschehen. Vorher aber hatten wir unsere persönlichen Wahlprognosen abgegeben. Alle acht. Und siehe da: Da war nur eine, die den Einbruch von Union und SPD nicht vorausgesehen hatte und keine, die nicht mit dem „Schockerfolg“ der AfD gerechnet hatte. Warum? Haben wir geheime Zugänge zum Weltwissen? Nein. Wir schauen einfach genau hin und hören noch genauer zu.
Schaltet die Radikalität der Gefühle den Verstand aus?
So wie einst der Soziologe Pierre Bourdieu 1962 nach der Selbstbefreiung der Algerier von den französischen Kolonialherren. Er warnte früh vor der „Gefühlsradikalität“ der Landbevölkerung, die bei den Revolten führend gewesen war, weil sie die Gedemütigsten waren. Die Kolonialherren hatten ihnen ihr Land via Enteignung geraubt und sie durch millionenfache Zwangsumsiedlungen entwurzelt und entfremdet. 30 Jahre später, 1991, wählten sie, wie von Bourdieu befürchtet, mehrheitlich den FIS, die faschistoiden Islamisten (die dann von dem postsozialistischen Militär gestoppt wurden). Parallelen?
Wenn diese Gefühlsradikalität als Resultat eigener, bitterer Erfahrungen nicht gepaart sei mit einer analytischen Verstandesradikalität, könne sie leicht in die falsche Richtung schießen, so Bourdieu. Der französische Soziologe lebt nicht mehr. Sonst würde er angesichts der 20,5 Prozent WählerInnenstimmen für die AfD in Ostdeutschland wohl wieder vor der Gefühlsradikalität warnen. Er würde sie allerdings auch ernst nehmen, statt sie zu rügen und sich darüber zu erheben.
Über eine Million WählerInnen sind von der CDU/CSU zur AfD gewechselt. Eine halbe Million von der SPD zur AfD. Und fast eine halbe Million von der Linken zur AfD. Da ist es nur folgerichtig, dass Sahra Wagenknecht sagt, ihre Partei müsse sich „selbstkritisch“ fragen, was sie falsch gemacht habe. Auch CSU-Herrmann findet zu recht, das müsse „uns zu denken geben“. Und ebenso weiß Manuela Schwesig, dass „das Volk“ murrt: „Ihr habt uns nicht mitgenommen bei der Flüchtlingsfrage.“ Was ein großes, aber nicht das einzige Problem ist.
Er will zurück
zu "rechts und
links". Wie
schön einfach.
Und die Kanzlerin? Die möchte nun nicht mehr über die Vergangenheit reden, sondern über die Zukunft. Versteht man, bei den Fehlern, die sie gemacht hat. Selbst gestern ließ sie sich gerade noch zu einem „Wir konnten die Sorgen der Menschen nicht vollständig ausräumen“ hinreißen. Will sagen: Die dummen Menschen haben immer noch nicht verstanden, dass sie sich umsonst Sorgen machen. Oder?
Und dann der SPD-Kanzlerkandidat, der noch am Wahlmorgen angekündigt hatte, er werde in Bälde regieren. Der sank an diesem Wahlabend fast auf Schröder-Niveau. Er gab alle Schuld Merkel. Schulz erinnerte allen Ernstes daran, dass die SPD die einzige Partei gewesen sei, die sich im Parlament gegen die Rechten gestellt habe. Das war 1933, gegen die Nationalsozialisten. Will Schulz etwa eine Parallele ziehen zu der AfD von 2017? Ich fürchte, ja.
Der zukünftige Oppositionsführer kündigte an, er wolle „wieder zurück zu links und rechts“. Das ist ja auch so schön einfach. Links ist die SPD, klar. Und rechts ist die AfD, auch klar. Aber was sind die Millionen Überläufer? Ex-Linke und Neu-Rechte? Oder BürgerInnen, die es einfach leid sind mit der Selbstgerechtigkeit der Volksparteien?
Wie auch immer. Der Karren steckt tief im Dreck. Und dann schlägt bekanntlich die Stunde der Frauen. Bei der CDU wird als denkbarer Nachfolger von Merkel statt der arg strapazierten von der Leyen nun Annegret Kramp-Karrenbauer genannt. Bei den Grünen schlägt sich Katrin Göring-Eckardt tapferer denn je. Und Sahra Wagenknecht ist eh der beste Kerl in der Linken.
Fast doppelt so viele Männer wählten die AfD. Auch im Westen.
Ja, sogar bei der traditionell frauenfreiesten Partei, der SPD, regt sich etwas. Der besonnene Ernst der SPD-Ministerpräsidentin Manuela Schwesig hob sich bei Will wohltuend ab von den polemischen Pöbeleien des Parteivorsitzenden in der Elefantenrunde. Und da sind ja auch noch Arbeitsministerin Andrea Nahles oder die baden-württembergische Landespartei-Vorsitzende Leni Breymaier, zum Beispiel. Und selbst Lindner ließ sich gestern auffallend viel mit uns bisher unbekannten Frauen fotografieren.
Denn da ist noch etwas. In Ostdeutschland haben 26 Prozent der Männer ihr Kreuz bei der AfD gemacht (und 17 Prozent der Frauen). Im Westen waren es 13 Prozent Männer (gegen 8 Prozent Frauen). Die Westzahlen liegen im Trend. Traditionell werden die Rechten in Deutschland von quasi doppelt so vielen Männern gewählt wie von Frauen. Und diesmal kommt noch ein Motiv dazu: „Mutti muss weg!“ (O-Ton Taxifahrer).
Ein Grund mehr, jetzt den Schulterschluss unter Frauen zu üben: gegen die Vermachoisierung der Republik. Ärmel krempeln, Mädels!
Alice Schwarzer