Room 2806: Jetzt reden die Opfer
Raum 2806. Die Präsidentensuite des New Yorker Luxushotels Sofitel. Am 14. Mai 2011 verbringt Dominique Strauss-Kahn (DSK), der damalige IWF-Chef und als Umfragenfavorit quasi designierte zukünftige Präsident von Frankreich, neun Minuten mit Nafissatou Diallo, einem Zimmermädchen aus Guinea, in der Suite. Später wird die Polizei im Gang der Suite auf dem Teppich Spuren des Spermas von DSK und am Körper von Diallo finden. Sie spricht von einer brutalen Vergewaltigung, oral. Er spricht von „einvernehmlichem Sex“, bis heute.
Diese neun Minuten werden nicht nur das Leben der beiden Beteiligten entscheidend verändern; sie werden auch Frauen in der ganzen Welt die Augen öffnen und die amerikanische Justiz beeinflussen. Vor allem aber werden sie zum Vorläufer eines sieben Jahre später platzenden Skandals: der Affäre Harvey Weinstein. Die wiederum wird der Auslöser der MeToo-Bewegung werden.
Die vierteilige Netflix-Serie gibt vor allem den Opfern Raum. Auch wenn sie ebenso minutiös den Behauptungen zugunsten des Beschuldigten nachgeht (bis hin zu dem Gerücht, Präsident Sarkozy persönlich habe seinem Rivalen das Zimmermädchen auf den Hals gehetzt).
Erstmals spricht Nafissatou Diallo ausführlich. Wir sehen eine Frau Mitte 40, deren damals 15-jährige Tochter inzwischen erwachsen ist und die überzeugend erzählt, wie gut es ihr nach ihrer Flucht aus Guinea mit ihrem Job in dem Hotel und ihrer kleinen Wohnung in der Bronx ging. Und welcher Bombeneinschlag es für sie war, als ihr in der schon geräumt geglaubten Suite der halbnackte Mann im Bademantel entgegen kam, den sie vergebens angefleht habe, sie zu verschonen.
Wir sehen auch die inzwischen 40-jährige Tristane Banon, eine hübsche Französin mit langem blondem Haar aus gutem Hause. Sie erzählt, wie sie mit Anfang 20 DSK für ein Buch interviewen wollte. Der habe sie in eine fast leere Wohnung bestellt und sei dort über sie hergefallen. Sie habe sich nur knapp, mit zerrissenem BH und Slip, nach draußen retten können. „Es schien ihm zu gefallen, Gewalt auszuüben“, erinnert sich Banon. Ihre Mutter, Politikerin bei den Sozialisten wie DSK, rät der Tochter von einer Anzeige ab.
Erst später erfährt Tristane, dass die Mutter mal ein Verhältnis mit dem Partei-Granden gehabt hatte. In der Talkshow, in der Banon sieben Jahre später die Erfahrung berichtet, lächelt die Runde amüsiert, über den von ihr genannten Namen Strauss-Kahn wird bei der Ausstrahlung ein Piepton gelegt.
Wir sehen auch Mounia R., deren Alter schwer zu schätzen ist, so gequält und zerstört ist das Gesicht der sichtbar einst schönen Frau. Sie berichtet, wie sie von Zuhause weggelaufen ist, weil „ein Verwandter“ sie missbrauchte, wie sie in die Prostitution geriet („Ich brauchte das Geld“) und wie im Jahr 2011 DSK, für den sie „gekauft“ worden war, sie trotz ihres Widerstandes und ihrer Tränen weit über das Übliche hinaus brutal behandelte, ja vergewaltigte.
Mounia hatte das auch 2015 in einem Prozess vor dem Strafgericht in Lille ausgesagt. Strauss-Kahn ist dort in der sogenannten „Affäre Hotel Carlton“ vier Jahre nach New York angeklagt wegen „schwerer Zuhälterei“ – und wird freigesprochen. Seine Kumpanen aus dem Rotlichtmilieu, die mit „ausreichend Material“ für den zukünftigen Präsidenten über Jahre „Sexparties“ in der ganzen Welt organisiert hatten - wo immer der IWF-Chef sich gerade aufhielt, bis hin nach Washington -, werden verurteilt.
Nafissatou, Tristane, Mounia – all das war ihnen in den Jahren passiert, in denen Eingeweihte junge Frauen schon lange zu warnen pflegten: Niemals mit DSK alleine in einen Aufzug oder in einen Raum gehen! Alle wussten Bescheid. Doch niemand hätte ihn gehindert, 2012 Präsident von Frankreich werden zu wollen.
Wir sehen in dem Dokumentarfilm auch aktuell befragte WeggefährtInnen von DSK, SozialistInnen und GroßbürgerInnen wie er, die von einem „Verführer“, der eben „die Frauen liebt“, sprechen, wie Ex-Kulturminister Jack Lang (selber in Marrakesch der Polizei aufgefallen wegen seiner Vorliebe für sehr kleine Jungen). „Warum hätte er das tun sollen“, fragt Ex-Justizministerin Elisabeth Guigou, 75. Schließlich sei Strauss-Kahn doch ein „charmanter, brillanter, intelligenter Mann“, der ihr „niemals zu nahe gekommen“ sei.
Bittere Pointe: Guigou, die noch im Jahr 2020 so redet, wurde gerade zur Vorsitzenden einer „Sonderkommission gegen sexuellen Missbrauch von Kindern“ ernannt. „Eine nicht zu übertreffende Demonstration der französischen Rape-Culture“, kommentierte die Frauenzeitschrift Marie-Claire die lächelnden Statements der linken, selbstgefälligen Elite und Weggefährten des von ihnen einst vergötterten und als zukünftigen Präsidenten von Frankreich erträumten Strauss-Kahn.
Dass DSK wider Erwarten doch nicht Präsident wurde, ist dem Mut eines schwarzen Zimmermädchens und dem zunehmenden Bewusstsein in Amerika für den Unterschied zwischen sexueller Lust und sexueller Gewalt zu verdanken. In Paris wäre so eine Affäre wie in Raum 2806 wohl lässig auf Seite geschoben worden.
In New York war es knapp für DSK, sehr knapp. Er war in allerletzter Sekunde aus dem Flugzeug nach Paris geholt worden, wo man ihn nur aufspürte, weil er sich ein liegengelassenes Handy nachtragen ließ. Und ohne die Nibelungentreue seiner rasch herangeeilten (und inzwischen längst geschiedenen) schwerreichen dritten Ehefrau, Anne Sinclair, und das Geld und Renommee der in Frankreich sehr bekannten TV-Moderatorin, ohne den berühmt-berüchtigten Anwalt Benjamin Brafman, Experte fürs Schmutzige, wäre wohl Anklage erhoben worden gegen DSK.
Und auch der demonstrative Auftritt der Rabbiner aus der jüdischen Gemeinde vor dem New Yorker Domizil von DSK – die Idee eines Pariser Freundes, wie der ungeniert in der Dokumentation erzählt – dürfte nicht geschadet haben. Der gute Freund hatte herausgefunden, dass keine Anklage erhoben wird, wenn auch nur ein Mitglied der Jury Zweifel an der Schuld hat. Und da es doch sicherlich auch ein oder zwei Juden in der Jury gäbe…
Die Strategie von Brafman war, klar, das Beschmutzen der Frau. Anders geht das ja nicht bei Verdacht auf ein Sexualverbrechen, bei dem es selten Zeugen gibt; entweder er lügt - oder sie. Strauss-Kahn war im gesamten Verlauf der Untersuchung nicht ein einziges Mal auch nur befragt worden – die Verhöre von Diallo gingen in die Dutzende und ihr Leben wurde bis in die letzten Details durchwühlt. Sie habe beim Asylantrag gelogen, was stimmte, und sie sei eine Prostituierte, hieß es, was nicht stimmte.
Trotz schwerwiegender Beweise wurde das Strafverfahren gegen Strauss-Kahn wegen Vergewaltigung in Raum 2806 nicht eröffnet, sondern eingestellt. Beim anschließenden Zivilverfahren allerdings wurde DSK verurteilt. Er soll Diallo 1.500.000 Dollar Schmerzensgeld gezahlt haben.
Dass Nafissatou Diallo das alles überhaupt durchgestanden hat, ist „der Solidarität der Frauen in der ganzen Welt“ zu verdanken, sagt sie. In New York gingen nicht nur die Zimmermädchen auf die Straße, sondern auch „Karrierefrauen“ und Studentinnen. Und feministische, antirassistische, sowie gewerkschaftliche Organisationen standen hinter ihr. Denn dieser Prozess war nicht nur eine Frage des Machtverhältnisses zwischen den Geschlechtern, sondern auch zwischen den Rassen und Klassen: der alte, reiche, weiße Mann gegen die junge, arme, schwarze Frau.
Übrigens: Auch in Deutschland gab es 2011 einen historischen Fall zum Thema sexuelle Gewalt: Jörg Kachelmann. Eine seiner Geliebten hatte ihn beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben. Es ging ähnlich aus wie bei Dominique Strauss-Kahn, allerdings erst nach acht Monaten Verhandlung. Bei dem „Freispruch aus Mangel an Beweisen“ erklärte der Richter: „Das Gericht konnte die Wahrheit nicht finden.“ Es könne sein, dass Kachelmann gelogen habe, es könne aber auch sein, dass die Freundin gelogen habe. Unberührt von diesen Zweifeln war und ist ein Großteil der Medien parteilich, für die „Leitmedien“ war sogar Monate schon vor Beginn des Prozesses klar: Sie hat gelogen, er ist unschuldig!
In Frankreich gab es damals mehrere große Demonstrationen gegen die Berichterstattung in der Affäre Strauss-Kahn, unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Anschuldigung. In Deutschland ist gegen die extrem einseitige Berichterstattung im Fall Kachelmann während des Prozesses in Mannheim nicht eine einzige Frau auf die Straße gegangen. Dabei ist hier die Lage grundsätzlich ganz ähnlich wie in Frankreich und Amerika, sind in allen drei Ländern, und nicht nur in ihnen, die Zahlen gleich: Nur jeder hundertste (mutmaßliche) Vergewaltiger wird auch verurteilt. Vergewaltigung ist bis heute ein strafloses Verbrechen. Wenn auch nicht mehr lange, wie die Verurteilung von Harvey Weinstein zu 23 Jahren Gefängnis hoffen lässt. In Europa und vor allem Deutschland allerdings wohl noch ein wenig länger.
ALICE SCHWARZER
„Zimmer 2806: Die Anschuldigung“ bei Netflix, 4 Folgen (200 Minuten)