Alice Schwarzer schreibt

Im Namen des SPIEGEL

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Am 30. September 2001 verschwindet in Saarbrücken der fünfjährige Pascal. Spurlos. Bis heute. Erst 14 Monate später kommt man auf die Spur von 13 Verdächtigen, von denen fünf mehrfach gestehen. Vier werden verhaftet. Die Aussagen der Geständigen decken sich im "Kerngeschehen". Dennoch spricht Richter Ulrich Chudoba die vier Angeklagten (einer war inzwischen verstorben) nach drei Jahren und 148 Verhandlungstagen frei – und das, obwohl er es selbst für "höchstwahrscheinlich" hält, dass "die Angeklagten die Taten begangen haben". Staatsanwalt Josef Pattar kann sich nicht abfinden mit den Freisprüchen und geht in Revision. Am 13. Januar 2009 bestätigt der Bundesgerichtshof in Karlsruhe die Freisprüche. Denn, so Richterin Ingeborg Tepperwien, die Beweisführung sei "Sache des Tatrichters", und dabei seien dem Tatrichter keine "Rechtsfehler unterlaufen".

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Das ist das Ende eines Prozesses, in dem es um vielfachen Kindesmissbrauch und einen Mord ging, der jahrelang ganz Deutschland bewegt hat – und in dem in den Augen aller unparteiischen Teilnehmer viele Fragen offen und große Zweifel bestehen blieben. Nur ein Mensch hat nie gezweifelt, nur einer wusste von Anfang an, dass alle Angeklagten unschuldig sind: die Spiegel-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen, 64. Und sie kannte auch den bzw. die wahre Schuldige: Esther Fehrer, die Pflegemutter von Kevin (Pseudonym).

Kevin hatte, ganz wie Pascal, in der als Tatort verdächtigen Tosa-Klause verkehrt und ist vielfach missbraucht worden. Das bestätigte eine Gutachterin "mit hoher Wahrscheinlichkeit" (mehr kann ein Gutachter nicht sagen). Und dafür wurde bereits 2003 Peter S. zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, mit anschließender psychiatrischer Unterbringung.

Als Peter S. bei der Vernehmung gefragt worden war, ob er etwas mit dem Missbrauch von Kevin und Pascal zu tun habe, antwortete er: "Ja." Die Tosa-Wirtin Christa W. habe ihn, der als Pädophiler bekannt war, gefragt, ob er mal "den Kleinen bumsen" wolle. Als er das bejahte, habe Christa W. gesagt, er könnte das Kind für 20 Mark im Kämmerchen "ficken". Was er dann getan habe.

Doch das kann die Spiegel-Reporterin bis heute nicht hindern zu behaupten: Der Missbrauch der Kinder war eingebildet, Kevin eingeredet von der Pflegemutter. Als der allseits als "unbefriedigend" und "bedrückend", wenn nicht gar als "skandalös" empfundene Freispruch der Angeklagten aus der Tosa-Klause in Karlsruhe bestätigt wird, ist Friedrichsen dabei und gibt, gestiefelt und gespornt, stramme Interviews vor dem Gerichtsgebäude:

"Der Pflegejunge, der das Verfahren überhaupt in Gang gebracht hat, wurde von der Pflegemutter manipuliert", diktiert die Journalistin ihren Kollegen von den Stuttgarter Nachrichten in den Block. "Das hat die Staatsanwaltschaft nicht gemerkt. Sie ist der Überzeugung der Pflegemutter gefolgt, die glaubte, ein sexuell misshandeltes Kind aufgenommen zu haben. Und genau das war der Ursprung des Pascal-Verfahrens. Denn die Pflegemutter hat ihrem Kind so lange Bilder Pascals gezeigt, bis ihr Sohn sagte, er sei mit Pascal befreundet gewesen; ja, er sei zusammen mit Pascal missbraucht worden."

Journalistische Pflicht zur Objektivität bzw. Suche nach der Wahrheit – was schert's die Reporterin eines "Leitmediums" mit Millionenauflage?! Wenig von dem, was die als "renommiert" geltende Gerichtsreporterin da  behauptet, stimmt. Es gibt für ihre Unterstellungen und Behauptungen wenige Beweise bzw. nur solche für deren Unrichtigkeit.

In Gang gebracht hatte die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Missbrauch von Kevin und dem Verschwinden von Pascal nicht etwa die Pflegemutter, sondern die Zeugin Gabriele G. Nach einer eigentlich schon abgeschlossenen polizeilichen Vernehmung der Zeugin (im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Kevin) zögerte Gabriele G., ging bis zum Aufzug … und brach da zusammen. "Das ist ja noch längst nicht alles …", stammelt sie.

Jetzt kommt die Sache ins Rollen. 14 Monate nach dem Verschwinden von Pascal. Also unter maximal ungünstigen Voraussetzungen für die Spurensuche. Pascal soll über Monate in der Tosa-Klause missbraucht worden sein, wo auch sein Stiefvater verkehrte (der inzwischen verstorben ist, ebenso die Mutter). Angeboten wurde er, sagen die Zeugen, von Christa W., für 20 Mark Nutzungsgebühr. An dem besagten 30. September 2001 sollen sich die Männer im Hinterzimmer über Pascal hergemacht haben, Dieter S., Michael C. und Martin R. Die Frauen Christa W. und Andrea M. sollen ihnen behilflich gewesen sein. Die grausamen Details seien hier ausgespart. Am Ende war das Kind tot und wurde in einem blauen Müllsack entsorgt, sagt Andrea M.

Andrea M. ist die Mutter des kleinen Kevin und war der Vormundschaft von Christa W. unterstellt (ganz wie Kevin es war, bis ihr diese entzogen wurde). Andrea M. ist ein wahrhaft tragischer Fall. Schon ihre Mutter war Prostituierte. Sie wurde von Pflegefamilie zu Pflegefamilie geschoben und ging als Teenager zur Mutter zurück, die sie mit auf den Strich nahm. Andrea M. war 19, als ihre Mutter ermordet wurde – von Andrea's Freund.

Seither bekam die geistesschwache Frau insgesamt fünf Kinder, Väter unbekannt. Auf Anraten von Christa W. behielt sie das letzte, Kevin. Bis heute lebt Andrea M. in einer Wohngemeinschaft mit Christa W.

Christa W., 56, ist eine schillernde Gestalt. Die Medien erwähnen immer wieder ihren IQ von 140. Sie war Jugendschöffin (!), und es heißt, sie sei SPD-Mitglied. Und immer, wenn ihr jemand ans Zeug wolle, verweise sie auf ihre starken Beschützer. Die intelligente Christa W., die von der Anklage als Antreiberin der Tat bezichtigt wurde, führt seit Jahren fragwürdige Kneipen, in denen Gelegenheitsprostituierte wie Andrea M. verkehren sowie Freier und Pädophile. In ihrer Kneipe und in ihrer Wohnung versammelt sie labile Frauen und Männer um sich, die unter ihrer Fuchtel stehen. So sehen das Polizei, Staatsanwalt und Richter. Sowie die meisten Medien.

Nur Gisela Friedrichsen sieht alles mal wieder ganz anders. Sie hat jetzt auch noch ein Buch zu dem Fall Pascal veröffentlicht; ein rares Dokument der menschlichen Verantwortungslosigkeit, juristischen Borniertheit und journalistischen Unprofessionalität. Denn darin behauptet Friedrichsen nicht nur nochmals die sichere Unschuld der Angeklagten, sie schüttet auch erneut einen Kübel von Unterstellungen und Häme über der Pflegemutter aus und verfasst einen wahren Loreroman über die Angeklagte Christa W.

Über 22 Seiten erzählt Friedrichsen das Rührstück der "vom Schicksal nicht verwöhnten" Christa W. Dass die Eltern sie nicht geliebt hätten, weil sie nur ein Mädchen war und ein Krüppel dazu (sie zieht ein Bein nach). Wie neidisch der Bruder immer auf sie gewesen sei (er sagte negativ über seine Schwester aus in dem Prozess). Wie sie immer so ganz anders war als die anderen. Friedrichsen über Christa W.:

"Stets ist sie perfekt geschminkt, mal malte sie mit ihren fein manikürten und mit vielen Ringen geschmückten Händen täglich das Gesicht, das ihr gefällt. Denn sie findet sich alles andere als schön. Dabei sind ihre Züge ebenmäßig, ihre Haut ist zart, und ihre hellwachen Augen erfassen sofort jede Situation. (…) Sie ist die Chefin, und sie weiß das. 'Deshalb haben es Männer mit mir immer schwer gehabt', sagt sie amüsiert. 'Wenn mir einer erklären wollte, wo es langgeht …' Sie winkt ab. Sie tut, was sie für richtig hält und was ihr gefällt." uswusf.

Zur Erinnerung: Hier ist die Rede von einer Frau, die seit Jahren Lokale mit fragwürdigem Publikum und äußerst fragwürdigen Geschäftsgebaren hat, und die der systematischen Kuppelei mit Kindern und als Strippenzieherin bei der Ermordung von Pascal angeklagt war. Doch bei Friedrichsen geht es munter weiter mit der Rührstory. Ein Kind, ein Mann, der schlägt; noch ein Kind; ein Mann, der trinkt; die erste Kneipe; die dritte Ehe und die vierte; ab 1999 die Tosa-Klause. Und vor allem: ein ganz großes Herz. Christa W. nimmt sich, laut Friedrichsen, der Ärmsten der Armen an. "Bevor einer ertrinkt, hol ich ihn rein. Denn die gehen sonst unter." Christa W., die Frau mit dem IQ von 140 und dem großen Herz, kassiert derweil deren Sozialhilfe und "Nebeneinkünfte".

Eine dieser von Christa W. Geretteten ist Andrea M., die Mutter von Kevin. Die Frau mit dem kindlichen Verstand nennt Christa W. ihre "Mutsch", eine Art Ersatzmutter. Friedrichsen: "Wie oft versuchte Christa, sie davon abzuhalten, anschaffen zu gehen, schon wegen der Gefahr, schwanger zu werden! Wenn du es schon nicht lassen kannst, sagte Christa manchmal zu ihr, dann nimm wenigstens Geld dafür."

Woher Friedrichsen weiß, dass es so war? Von Christa W., klar! Auch, dass die anderen über Andrea M. sagten: "Am Ficken hat sie halt Freude." Doch macht Friedrichsen sich auch durchaus ihre eigenen Gedanken über Andrea M.: "Vielleicht hielt sie dies (das 'Ficken') für jene Selbstbestimmung und Freiheit, die man ihr im Frauenhaus eingeredet hatte. Warum tat sie es sonst?"

Ins Frauenhaus war Andrea M. wiederholt vor Christa W. geflüchtet, aber immer wieder zu ihr zurückgekehrt. Ganze 20 Mal hatte Andrea M. ihre Tatbeteiligung am Mord gestanden, in entscheidenden Punkten im immer gleich bleibenden Wortlaut (So wie die Geständnisse aller fünf Angeklagten im "Kerngeschehen" bis zuletzt übereinstimmten). Doch Andrea M. zog ihre Geständnisse zurück, nachdem sie wieder in das Haus von Christa W. gezogen war.

Auch die zunächst mitangeklagte Gabriele G. hat im Gespräch mit Prof. Rösler zehn Monate später ihre Aussagen zurückgezogen. "Sie habe", referierte der Richter in der Urteilsverkündigung über die Zeugin Gabriele G., "schon zu viel gesagt. Irgendwann kämen die ja doch raus und dann wisse sie nicht, was geschehe. Die K. und der R. hätten sie bedroht. Sie solle immer nur an ihre Tochter denken. Sie habe Angst, dass etwas geschehe."

Es wird keinen neuen Prozess im Fall Pascal geben. Und auch die Leiche von Pascal wird wohl nie mehr auftauchen. Es wird also keine Gerechtigkeit für den, die Täter geben. Aber es könnte wenigstens eine Gerechtigkeit für die Opfer geben.

Übersicht Dossier: Opfer als Täter

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