Polen: Save the Women!

Warschauer Pionierinnen des Frauenprotestes: Krystyna Kacpura, Kazia Szcuka und Agnieszka Graff.
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21. Januar. Auf der improvisierten Bühne in Washington steht Gloria Steinem, 82, mit Porschebrille und im Lederanzug vor über einer halben Million beim Women’s March. Sie ruft zum Widerstand gegen Trump auf und freut sich über die Frauensolidarität. Als ermutigendes Beispiel zitiert sie die Polinnen. Sie sagt: „Die Regierung wollte die Abtreibung ganz verbieten. Sechs Millionen Frauen haben dagegen protestiert – und sie mussten ihre Absicht zurücknehmen.“ Jubel auf der National Mall in Washington.

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Jubel auch wenig zuvor auf dem Salzplatz in Warschau. Dort steht Marta Lempart auf der Bühne, eine junge Frau mit schwarzer Brille und in einer dicken Daunenjacke. „Seit einem Jahr demonstrieren wir gegen die PiS. Ein Jahr Opposition! Ein Jahr KOD (Anm. d. Red.: Komitee zur Verteidigung der Demokratie). Im Oktober haben wir mit den ‚Black Monday Protests’ unseren größten Erfolg erlebt. Vergesst das nicht. Vergesst die Frauenrechte nicht. Wir kämpfen weiter!“ Die Menge, eine kleine Menschentraube aus Frauen und Männern, die meisten um die fünfzig, die meisten Kinder der ehemaligen Volksrepublik Polen, jubelt. Marta Lempart ist zufrieden.

Lempart, die ein Bauunternehmen leitet, ist seit einigen Wochen zu einer kleinen Berühmtheit im oppositionellen Polen avanciert. Ihr ist zu verdanken, dass am 3. Oktober 2016 über 100.000 Frauen, und auch viele Männer, in 150 Städten Polens nicht zur Arbeit gingen, um mit dieser Arbeitsverweigerung gegen einen Gesetzesentwurf der PiS-Regierung zum totalen Abtreibungsverbot zu protestieren, erzählt sie, als wir uns am Vorabend in ihrer Wohnung am Stadtrand von Breslau treffen. Während ihre Lebensgefährtin uns Bier und Kekse serviert, eine weitere Frau Plakate für die kommenden Protestveranstaltungen rollt und zwei kleine Hunde sich um ihre Gunst streiten, erklärt Lempart, wie es dazu kam. Wie sie eines Nachmittags mit ihrer Freundin Nathalia dachte, man müsse es wie in Island 1975 machen: Einen landesweiten Frauenstreik organisieren, einfach nicht zur Arbeit gehen und stattdessen die Straßen der Städte blockieren. Betonung auf: landesweit. Wie sie sodann eine Facebook-Seite initiierten und es abging wie ein Lauffeuer.

Viele Arbeitgeber haben den streikenden Frauen von sich aus freigegeben

„Das Erstaunliche“, sagt Marta, „war, dass viele Arbeitgeber den Frauen von sich aus frei gegeben haben. In vielen Cafés und Läden wurden die Schichten getauscht, sodass an den Streiktagen nur Männer arbeiteten und die Frauen auf die Straße gehen konnten. Eine solche Art der Solidarität hatten wir lange nicht gesehen.“ Zumal die Faustregel von „Polen A“ (das westliche, reichere, besser ausgebildete) und „Polen B“ (das süd-östliche, ärmere, reaktionäre) hier nicht zum Tragen kam. Alle machten mit, auch kleinere Orte im traditionell konservativen Süden.

Trotzdem – und hier tritt schon nach wenigen Minuten der interne Bruch dieser Bewegung zu Tage – dürfe man nicht glauben, was „die Feministinnen in Warschau“ behaupten, nämlich, dass alle Teilnehmerinnen dieser Protestmärsche „pro-choice“, also für das Recht auf Abtreibung seien. Im Gegenteil! Lempart hält diesen Ansatz für gefährlich, denkt, die Big-City-Girls, die Hardcore-Feministinnen würden damit die Frauen der kleinen Städte verschrecken: „Denn Polen ist ein sehr traditionalistisches Land. Die meisten Frauen wollen, dass die Dinge bleiben, wie sie sind, sie wollen keine radikale Veränderung. Sie sind für den so genannten ‚Kompromiss‘.“

Wie die Dinge sind, was der „Kompromiss“ bedeutet, hatten mir ein paar Tage zuvor jene Big-City-Girls erläutert, die Lempart so misstrauisch beäugt und die wiederum Lempart misstrauisch beäugen. „Am Ende haben wir diese Massendemonstrationen weder mir, noch Lempart, noch einer anderen zu verdanken, sondern Kaczyński“, sagt Barbara Nowacka, Vorsitzende der linksliberalen Twoj Ruch-Partei und Frauenrechtlerin, an einem kalten Morgen in ihrem Büro am Polnisch-Japanischen Institut für Technologie in Warschau.

Frauen mit Fehlgeburt sollten sich einer Untersuchung unterziehen

Jarosław Kaczyński, Anführer der rechtskonservativen PiS-Partei, die seit 2015 das Land regiert, war mit dem Vorschlag eines kompletten Verbots der Abtreibung einen fatalen Schritt zu weit gegangen. Zumal der Gesetzesentwurf auch noch vorsah, dass alle Frauen, die eine Fehlgeburt erleiden, unter Verdacht stehen und einer Untersuchung unterzogen würden. „Das wäre wie in Salvador, nur dass wir statt 20 nur drei Jahre weggesperrt würden“, kommentiert Nowacka und fügt bitter hinzu, „Es ist schön, in einem so zivilisierten Land zu leben.“

Im September trug Nowacka vor dem Parlament den Gesetzesvorschlag einer von ihr gegründeten Bürgerinitiative, die „Save the Women“-Petition vor. Die wurde umgehend abgelehnt. Ihr Antrag sah unter anderem die Lockerung des extrem rigiden Abtreibungsgesetzes, Kostenübernahme von Verhütungsmitteln und bessere Sexualerziehung vor. Sie hatten über 100.000 Unterschriften gesammelt. „Im ganzen Land“, betont Nowacka. „Es war nicht schlau von ihnen, es so schnell abzuschmettern. Das hat die Frauen aufgebracht, die sich durch unsere Initiative mit dem Thema beschäftigt hatten.“

Hier sollte jener „Kompromiss“ erklärt werden, von dem in Polen seit Oktober so viel die Rede ist. Vor 1993, unter den Kommunisten, galt die Fristenlösung, also das Recht auf Abtreibung in den ersten drei Monaten. Seit 1993 ist die Abtreibung in Polen nur noch in folgenden drei Fällen legal: bei Vergewaltigung, lebensbedrohlicher Gesundheitsgefährdung der Schwangeren, bei schwerer Missbildung des Fötus. So die Theorie dieses Kompromisses, der Anfang der neunziger Jahre zwischen der jungen postkommunistischen Regierung und der wiedererstarkten katholischen Kirche geplant wurde. In der Praxis, so versichert Krystyna Kacpura, Vorsitzende der Warschauer Federation for Women and Family Planning, sei die legale Abtreibung in Polen allerdings selbst in solchen Extremfällen quasi unmöglich. Grund: die so genannte „Gewissensklausel“. Sie ermöglicht es jedem Arzt, seiner Patientin eine Abtreibung zu verweigern, selbst wenn sie legal wäre – weil es, so wäre die Begründung, mit seinem Gewissen, seiner Religion, seiner Moral, nicht vereinbar sei.

Jeder Arzt darf eine Abtreibung aus "Gewissengründen" verweigern

„Die Ärzte“, erklärt Kacpura, die pro Woche mehrere solcher Fälle bearbeitet, „greifen immer mehr darauf zurück. Weniger aus Gewissensgründen, sondern eher aus Angst vor der Stigmatisierung. Noch schlimmer ist aber, dass sie ihre Diagnosen oft so lange hinausziehen, dass eine legale Abtreibung nicht mehr möglich ist, selbst wenn es notwendig wäre.“

Die Familienplanerin erzählt von einem jüngsten Beispiel: Ein junges Mädchen, 22, ist schwanger. Sie ist hochdepressiv, nimmt Psychopharmaka, ist in psychiatrischer Behandlung, hat mehrere Suizidversuche hinter sich. Ihr Psychiater hat einen Brief geschrieben und doch will man ihr keine legale Abtreibung gewähren. „Es müsste heißen: Sie stirbt daran, vielleicht würden sie es dann machen“, sagt Kacpura. Einer anderen Frau, die sich das Kind eigentlich wünschte, sagte man nach einer Untersuchung: „Sein Gehirn ist nur zur Hälfte ausgebildet aber, hey, er hat zwei Arme, zwei Beine, er ist so gut wie gesund!“

Für Krystyna Kacpura ist so etwas psychologische Misshandlung: „Man drängt die Frauen dazu, entweder um jeden Preis auszutragen oder aber ein Kind zu bekommen, das nicht lebensfähig ist. Die Situation ist schon schwer genug und dann geht man so mit ihr um. Das ist gegen die Menschenwürde.“ Insgesamt sei die Würde des ungeborenen Kindes in Polen schon lange mehr wert als die der Frau, in Schulen zeige man den Kindern Filme wie „The Silent Cry“, in denen man kleinen Mädchen eintrichtert, Abtreibung sei Mord.

Jedem kleinen Mädchen wird eingetrichtert, Abtreibung sei Mord

Deshalb würden die meisten ungewollt Schwangeren gar nicht erst versuchen, eine legale Abtreibung zu bekommen, sondern direkt in den Untergrund gehen (in Zeitungen findet man recht einfach Annoncen à la „Gynäkologe. Bringt ihre Periode zurück“) oder ins Ausland, nach Deutschland, Slowenien, Österreich. 2015 fanden in Polen rund 2.000 legale Abtreibungen und zirka 150.000 im Rahmen des „Abtreibungstourismus“ statt. Kacpura lacht: „Es ist schon absurd. Im Kommunismus war die Abtreibung lange vor allen anderen legal, viele Europäerinnen, die Französinnen, Deutschen, kamen zu uns. Jetzt kommen wir zu euch.“

Agnieszka Graff ist es gar nicht zum Lachen. Sie sitzt an einem sonnigen Mittag, zwei Tage später, in einem holzvertäfelten Restaurant im „französischen Viertel“ von Warschau und wirkt eher ernüchtert, als vom Erfolg der massiven Frauenmärsche beflügelt: „Vielleicht bin ich eine muffige alte Veteranin, aber ich glaube, die Bewegung hat ihre besten Tage gerade hinter sich.“ Graff, Genderforscherin und Literaturprofessorin an der Warschauer Universität ist tatsächlich eine Veteranin. Sie war bereits in den neunziger Jahren Teil der Manifa, einer Gruppe junger Akademikerinnen, die ihren Unwillen gegen das Patriarchat durch Performances kundtat. Sie gehört zum Congress of Women, während der Streiks las sie aus ihren feministischen Büchern vor.

Natürlich findet auch sie die Streiks unglaublich, seit den Achtzigern hat es keine solche Solidaritätsbewegung mehr gegeben. Allerdings sieht die Akademikerin die Dinge ähnlich wie die Bauunternehmerin: „Die meisten Frauen sind nicht pro-choice. Das ist das dunkle Geheimnis der Bewegung. Wir versuchen ein pro-choice-movement in einem anti-choice-Land zu schaffen.“ Für sie liegt das Problem in der katholischen Kirche. Keiner möchte sich ihr widersetzen, ihre Macht, auch ihre politische, sei immens und unangefochten. Sie sei wie der Patriarch in einer traditionellen Familie: Vielleicht sind nicht alle einverstanden, aber man tut, was der Chef befielt, und hält seinen Mund.

In der Grundschule haben die Kinder mehr Religionsunterricht als Biologie

„Die Leute in Polen sind ge-brain­washed. Stell dir vor: In der Grundschule hat man mehr Religionsunterricht als Biologie und Physik zusammen“, sagt sie. Überhaupt, und das sei sehr bedenklich, spiele sich hier an der Frage der Frauenrechte etwas viel Größeres ab. Es sei das Schlachtschwert eines neuen – von Russland und den USA beförderten – Reaktionismus, der im Kampf gegen die Geschlechtergleichheit seinen gemeinsamen Nenner findet: „Diese Fanatiker, und davon gibt es immer mehr, überall, nicht nur in Polen, für die sind wir Mörderinnen. Es heißt schon lange, wir Frauenrecht­lerinnen seien schlimmer als die Nazis, und Abtreibung sei schlimmer als der Holocaust. Jetzt haben wir erst verstanden, dass sie das verdammt ernst meinen.“ Graff ist tief besorgt. Während wir uns ein Tiramisu teilen, tippt sie lachend in ihr Telefon: „Willst du Kazia Szczuka treffen? Sie ist eine Star-Feministin!“

Wir verabreden uns zum Frühstück. Als Kazia Szczuka ankommt, eine halbe Stunde zu spät, wirkt sie erschöpft. Ihre Mütze hängt ihr im Gesicht, ihre Jacke ist um sie gerollt wie eine Decke, sie bohrt ihre Hände verschlafen in wollene Pulswärmer. Sie habe eine schlimme Nacht hinter sich, sagt Kazia, und beginnt dann doch sehr lebhaft zu erzählen. Von der Tradition des Leidens der polnischen Frau, der „Mutter Polen“, der „Matka Polska“. Darüber hat sie ihre Doktorarbeit geschrieben, bevor sie als Literaturkritikerin ins Fernsehen ging. Deswegen auch der Star: Man kennt ­Szczuka als „Bitch“ aus der polnischen Version von „The Weakest Link“, viele halten sie deshalb für eine Furie. „Die Leute hassen mich aus zwei Gründen: weil ich Feministin bin und weil ich Jüdin bin. Aber am meisten, weil ich Feministin bin“, sagt sie und lächelt müde.

Szczuka war gemeinsam mit Nowacka für die „Save the Women“-Petition verantwortlich. Anders als ihre Freundin Graff ist sie sehr optimistisch: „Auch wenn es in Polen quasi historisch zur Tradition gehört, dass eine Frau leidet, sich aufopfert, wurde durch diese große Bewegung doch ein gewisses Bewusstsein geweckt. Die Frauen haben verstanden, dass ihre Grundrechte, ihre elementare Freiheit in diesem Land mit Füßen getreten wird. Das hatten sie bisher übersehen. Ich denke, die Bereitschaft zu kämpfen, wächst.“ Szczukas nächster Kampf findet nicht in Polen, sondern auf EU-Ebene statt. Gemeinsam mit Nowacka und Kacpura arbeitet sie an einem Bürgervorschlag, der die Reproduktiven Rechte im EU-Recht verankern möchte: „Eine sehr komplizierte Angelegenheit, bisher ist jedes Land für diese Fragen selbst verantwortlich. Dabei geht es hier doch um Grundrechte.“

Der Weg dorthin könnte lang und beschwerlich sein, doch zumindest auf nationaler Ebene haben sie einen großen Sieg zu verbuchen: Am 6. Oktober 2016, drei Tage nach dem Streik, wurde der Gesetzesentwurf von der Regierung (in Einverständnis mit der Kirche) fallen gelassen. Anfang Januar wurden „Die Polinnen“, angeführt von Nowacka, in Paris mit dem „Simone de Beauvoir Preis“ ausgezeichnet. Denn, wie de Beauvoir schon zu ihrer Zeit sagte: „Es genügt eine kleine Krise, eine politische Veränderung, um die Frauenrechte in Frage zu stellen.“ Die Polinnen wissen das schon lange. Sie wollen es sich nicht länger gefallen lassen.

Annabelle Hirsch

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Für das Recht auf Abtreibung in Polen

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So kühn war nicht einmal Pippi Langstrumpf. Wäre sie früher geboren, Rebecca Gomperts hätte die Heldin unserer Mädchentage werden können, und später hätten wir unsere Töchter auf ihren Namen getauft: Nimmt sich ein Schiff und segelt um die Welt, um Frauenleben zu retten! Kämpft gegen die Gesetze der Mächtigen und hilft den Verzweifelten. Unerschrocken. Ist gescheit und schön und freundlich. Hält nichts für unmöglich und hat immer eine Idee. Und tolle Freundinnen an ihrer Seite.

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Alle paar Minu-
ten stirbt eine Frau an einer illegalen Abtreibung

Ist Rebecca eine Piratin, wie ihre Gegner in Irland vermuten? Eine Art Cowboy-Doctor, wie eine amerikanische Anwältin meint? Oder eine Gefahr für sein Land, wie der portugiesische Verteidigungsminister fürchtet?

Eines steht fest: Die Frau hat keine Angst vor Abenteuern. Rebecca Gomperts, 38, von Beruf Ärztin mit dem Fachgebiet Abtreibung. Die in Paramaribo, dem ehemaligen Holländisch-Guyana, Geborene hat Medizin und Kunst studiert, hat eine Nautik-Schule besucht, ist mit Greenpeace auf der Rainbow Warrior II zur See gefahren und hat einen Roman geschrieben. 1999 hat sie dann die Organisation „Women on Waves“ (Frauen auf den Wellen) gegründet.

Dabei ist Rebecca Gomperts eine zarte Erscheinung. Sie hat helle Haut, Sommersprossen und dunkles, langes Haar. Sie hat einen starken Willen, einen festen Blick, eine ruhige, klare Stimme, und sie erzählt, ohne auf Fragen zu warten. Wenn gerade keine Kampagne läuft, ist „Women on Waves“, kurz: WOW, eine One-Woman-Aktion.

Das WOW-Büro liegt in einem Wohnquartier nahe dem Zentrum von Amsterdam. An der einen Wand gibt es eine lange Arbeitsfläche mit drei iMac-Computern, in der Mitte langweilt sich ein Sofa, daneben steht ein langer Tisch mit vielen Stühlen. Rebecca Gomperts offeriert Tee und Kekse. Und erzählt: "Ich habe Medizin studiert, weil ich etwas verändern wollte. Frauenheilkunde hat mich immer interessiert. Also entschied ich mich, Abtreibungsärztin zu werden. Gleichzeitig bewarb ich mich bei Greenpeace, das war einer meiner Kindheitsträume. Ein halbes Jahr später hatten sie einen Platz für mich auf dem Schiff!"

Ende der neunziger Jahre fährt Rebecca Gomperts als Schiffsärztin mit Greenpeace nach Mexiko. "Meine medizinische Ausbildung war unpolitisch. Es wurde nie darüber geredet, dass Abtreibung in anderen Ländern illegal sei und weltweit Frauen an verpfuschten Abtreibungen in Hinterzimmern sterben." Aber das, was sie dann erlebte, öffnete ihr die Augen: "In Mexiko traf ich viele Frauen und Ärzte, die staunten, dass ich Abtreibungsärztin bin. Sie erzählten von Frauen, die ihre Mütter wegen verpfuschter Abtreibungen verloren hatten. Und von ihren Schwestern. Oder von dem schwangeren Mädchen, das von einem Mann vergewaltigt worden war, der ihr Hilfe versprochen hatte. Das hat mich wirklich berührt." So war die Idee geboren: Um die Welt segeln und Frauenleben retten.

Zurück in Amsterdam, begann Rebecca über Statistiken zu recherchieren. Sie war entsetzt. 100.000 Frauen jährlich sterben laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) an illegalen Abtreibungen, weil sie keinen Zugang zu legalen und sicheren Möglichkeiten haben. "Es war schockierend! Ich musste etwas tun."

Viele sagten: "Du bist verrückt!" Andere fanden es großartig, oder gaben ihr Geld, wie die feministische Stiftung Mama Cash. Seither hat „Women on Waves“ auch an Land Wellen geschlagen. Die Medien griffen das Thema auf, noch bevor das Projekt konkret wurde. Denn der Gedanke war kühn: Abtreibungen auf einem Schiff zu praktizieren, das unter holländischer Flagge in internationalen Gewässern segelt und auf dem deshalb niederländisches Recht gilt. Und so Diskussionen in Gang bringen, Meinungen und Gesetze ändern.

"Jedes Jahr entscheiden sich weltweit etwa 52 Millionen Frauen aller Länder, Kulturen und Religionen abzutreiben, aus vielen Gründen", sagt Rebecca Gomperts. "20 Millionen dieser Abtreibungen finden laut WHO unter illegalen und lebensgefährlichen Bedingungen statt." Dass Abtreibungen illegal sind, reduziert ihre Zahl nicht - im Gegenteil. Die Niederlande, in denen eine uneingeschränkte Fristenlösung gilt, haben eine der niedrigsten Abtreibungsraten der Welt. "Die Illegalität der Abtreibung hat zur Folge, dass alle paar Minuten eine Frau auf der Welt stirbt. Und viele weitere Frauen leiden lebenslang unter gesundheitlichen Komplikationen oder werden sozial geächtet. Dabei kann Abtreibung medizinisch ganz einfach sein, wenn sie legal ist. Dann ist sie sicherer als das Benutzen von Tampons."

Weil das Geld nicht reichte, um ein Schiff zu kaufen, entschied sich Rebecca Gomperts 2001 dafür, eins zu mieten. In Zusammenarbeit mit Atelier van Lieshout, einem bekannten niederländischen Künstlerprojekt, entwickelte sie dann „A-Portable“, eine mobile Klinik. Ein gewöhnlicher Transport-Container wurde zum medizinischen Behandlungsraum mit Patientinnen-Liege, Ärztinnen-Stuhl, Schreibplatz und einer Reihe von Schränken an den Wänden. Nach einigem Kampf bekam „Women on Waves“ von der holländischen Regierung die nötigen Lizenzen, um auf dem Schiff die Abtreibungspille (bis zur sechseinhalbten Schwangerschafts-Woche) zu verabreichen. Beratung, Behandlung und Nachbehandlung sollen nach niederländischem Standard durchgeführt werden.

Die Ärztin entwickelte eine mobile Klinik auf einem Schiff 

Der Klinik-Container wurde auf das gecharterte Schiff montiert, das unter holländischer Flagge an die Küsten von Ländern fuhr, in denen Abtreibung verboten ist. 2001 nach Irland, 2003 nach Polen - und 2004 nach Portugal.

Die katholische Ex-Diktatur Portugal ist in der Europäischen Union das einzige Land, in dem abtreibende Frauen bis heute aktiv verfolgt und angeklagt werden. Noch im März 2004 hatte das Parlament einen Antrag der Opposition auf Entkriminalisierung abgelehnt und ein von 120.000 Unterzeichnerinnen gefordertes Referendum verworfen. 20.000-40.000 Frauen pro Jahr sind in Portugal gezwungen, illegal abzutreiben. Wer es sich leisten kann, fährt nach Spanien. Drei Jahre Gefängnis riskiert, wer abtreibt oder einer Frau dabei hilft. 
Im August 2004 nimmt die "MS Borndiep" Kurs auf Figuera da Foz, zwischen Lissabon und Porto. Auf dem Schiff: drei Frauen, drei Männer und der Container. Im Hafen von Figuera da Foz soll es Tage der offenen Türen für die Bevölkerung und die Medien geben, es sind Workshops mit Ärztinnen sowie Aktionen mit Künstlerinnen geplant. Und vielleicht, wenn einige Frauen es wagen, einige "Gesundheitsdienstleistungen" auf offener See, die akute Hilfe und demonstrative Aktion zugleich sind.

Doch soweit kommt es gar nicht erst. Paulo Portas, der portugiesische Verteidigungsminister, sorgt sich um die Gesundheit seiner Landsleute und die "nationale Sicherheit". Er verweigert der „Borndiep“ die Bewilligung zum Einlaufen in die portugiesischen Gewässer und schickt seine Marine aus. Die Kriegsschiffe haben je 107 Mann Besatzung, modernes Gerät und Waffen an Bord, sind 84 Meter lang und 1.400 Tonnen schwer. Eines davon bleibt Tag und Nacht in Sichtweite der Borndiep. Es heisst "Baptista de Andrade" und trägt die Nummer F486. Ausgerechnet. "486?" fragen sich die Frauen auf ihrer Website. "Wissen die, was sie tun - oder machen sie sich über uns lustig?" RU 486 ist der Name der Abtreibungspille.

Wie auch immer: 486 wird eine bittere Pille für Paulo Portas. Die „Women on Waves“ sehen den EU-weit garantierten, freien Verkehr eingeschränkt und ziehen in Coimbra vor Gericht. Ihre Klage wird zwar abgewiesen, aber das Thema dominiert jetzt die öffentliche Diskussion. "Fazer ondas" (Wellen machen) haben sich die vier lokalen Organisationen, die „Women on Waves“ in ihr Land eingeladen haben, auf die Fahne geschrieben. Der "barco do aborto", das Abtreibungsschiff, kommt in den Abendnachrichten, wird in den Printmedien kommentiert und von den Menschen heftig diskutiert.

In Figuera da Foz werden am Hafen täglich Interviews mit Passanten und Exponentinnen gefilmt. In einer Nebenstraße haben Abtreibungsgegner über Nacht Plakate geklebt. Die Stimmung bleibt dennoch gelassen. "Ob sie für oder gegen Abtreibung sind", sagt Maddalena Duarte, 25, eine Soziologie-Studentin, die als Freiwillige in der Kampagne mitarbeitet, "viele finden es einfach lächerlich, dass unser Verteidigungsminister mit Kriegsschiffen aufkreuzt. Es ist eine Schande!"

Maddalena ist eine von etwa 25 Frauen und einer handvoll Männer verschiedener Nationen, die in den drei Wochen fast rund um die Uhr im Einsatz sind. Es gibt ein Hotline-Team; ein medizinisches Team mit Gynäkologin und Krankenschwester; ein Presse-Team, das die Anfragen koordiniert und Rebecca Gomperts den Rücken freihält; ein Sicherheits-Team, das die Frauen begleitet; und ein Web-Team, das im Laufe der Kampagne immer wichtiger wird. Denn dort wird Paulo Portas seine große Niederlage einfahren, während sein Schiff noch immer ein fast leeres Boot bewacht.

Weil die Borndiep nicht einlaufen darf, schippert alle paar Tage Besuch an: mit Wasser und Brot, mit Freiwilligen, mit Journalistinnen und Kamerateams. In aller Herrgottsfrühe warten im Hafen bereits TV- und Filmcrews, freiwillige Helferinnen und der harte Kern der „Women on Waves“: Gunilla Kleiverda, eine in den Niederlanden bekannte Gynäkologin, und Cecilia Costa, 25, eine portugiesische Psychologin, die für die Hotline verantwortlich ist. Übers Wochenende kommen zwei holländische Politikerinnen dazu. Lousewies van der Laan, Fraktionschefin der kleinsten niederländischen Regierungspartei D66 erklärt: "Es ist schon eigenartig, wenn ein europäisches Land auf ein anderes europäisches Schiff so reagiert. Das wird ein Test für den neuen Kommissions-Präsidenten Barroso werden. Wir werden sehen, ob er für die Abmachungen Europas einsteht oder nach wie vor ein portugiesischer Politiker ist."

Dann läuft das Zubringerschiff aus, und das portugiesische Fernsehen spielt auf einem Schnellboot noch eine Weile "Miami Vice" für ein paar gute Bilder. In der Hafenausfahrt winken die Fischer. Nach fast zwei Stunden taucht endlich die Borndiep auf. Applaus, großes Winken, kleine Tränen. Und dahinter, als Silhouette nur, die portugiesische Marine. Wir bringen Wasser, Proviant und Menschenlachen mit. Es ist ein Umarmen und eine Freude. Die Gynäkologin Gunilla Kleiverda öffnet den Container. Das Corpus delicti ist unspektakulär: Gehalten in hellgrün, ordentlich aufgeräumt, alles Mobiliar festgebunden. Zwei Kästchen an der Wand sind versiegelt. Darin: Die RU 486, die Abtreibungspille.

Dieses Schiff fährt bis heute und rettet Frauenleben

Doch die portugiesische Regierung bleibt eisern. Sie begründet ihre Blockade mit der "Respektierung nationaler Gesetze" und dem "Schutz der öffentlichen Gesundheit". Der Verteidigungsminister klagt, das Schiff habe dem Ansehen Portugals erheblichen Schaden zugefügt. Die portugiesische Regisseurin Dina Campos, die über die „Women on Waves“-Kampagne in ihrem Land einen Dokumentarfilm dreht, kommentiert: "Die Zeit der Diktatur ist vorbei. Heute müssen wir keine Angst mehr haben. Wir wollen selbstbestimmt leben!"
Dann, nach fast zwei Wochen Kampagne, geschieht das Ungeheuerliche: Dr. Rebecca Gomperts erklärt - zunächst in einem Interview und dann live in einer Talk-Show im portugiesischen Frühstücksfernsehen - wie eine Frau selber einen spontanen Abort einleiten kann. Der Wirkstoff Misoprostol, der in den Medikamenten Cytotec und Arthotec verwendet wird, kann bei Schwangerschaften in frühem Stadium einen spontanen Abort auslösen. Die Medikamente werden bei Magen-Darm-Beschwerden eingesetzt und sind rezeptfrei in jeder Apotheke erhältlich. Die „Women on Waves“ veröffentlichen nach dem TV-Auftritt auf ihrer Website eine Anleitung dazu. "Wir wollen verhindern, dass Frauen auf gefährliche Abtreibungsmethoden zurückgreifen."

Nach der Sendung stürmen Hunderte von Frauen die Hotline, während Paulo Portas immer noch stoisch die portugiesischen Hoheitsgewässer mit dem Marineschiff F486 verteidigt. Umfragen einer portugiesischen Tageszeitung ergeben: 66 Prozent der Befragten sind mit der Haltung ihrer Regierung nicht einverstanden, 64 Prozent halten Gomperts Aktion für sinnvoll. Die Misoprostol-Anleitung ist kurz nach ihrer Veröffentlichung die meistbesuchte Seite auf der Website von „Women on Waves“. Während der 21 Tage der Portugal-Kampagne wird www.womenonwaves.org rund 2,5 Millionen mal aufgerufen.

"Wenn wir den Kampf gegen den portugiesischen Vereidigungsminister auf dem Rechtsweg gewonnen haben, wird das Schiff nach Portugal zurückkehren", erklärt die unerschrockene Gomperts am Tag der Rückkehr mit fester Stimme. "Denn die Rechte der Frauen sind keine Bedrohung für die nationale Sicherheit."

Christine Loriol - Aktualisierte Fassung. Der Artikel erschien zuerst in EMMA Januar/Februar 2005.

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