Selma Lagerlöf erschafft sich selbst

Foto: Hansen & Weller, Kopenhagen
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Meine wirkliche Geschichte ist eine einzige lange Variation des Wortes Wille“, erklärte Selma Lagerlöf als 35-Jährige in einem Brief an Sophie Elkan. Sie hatte sich gerade frisch in die fünf Jahre ältere, wohlhabende Schriftstellerin verliebt. Von heute aus gesehen erinnert dieser Satz daran, wo wir herkommen. Selma Lagerlöf scheint uns nahezulegen, dass auch die Macht darüber, sich in einer Geschichte zu verorten, eine Sache des Willens sei und nicht abhängt von der Toleranz oder Güte anderer. „Es ist so, als hätte ich meine Begabung selber geschaffen, indem ich sie mir herbeiwünschte.“

Ich erinnere mich an einen Tag im ­August 1998, als ich mir das anschaute, was sich Selma Lagerlöf mithilfe ihrer ­Begabung erschaffen hatte. Keine zehn Kilometer von meinem eigenen Haus in Värmland entfernt, das ich stolz erstanden hatte, befand sich das Gut der „Dichterfürstin Schwedens“. In Mårbacka besuchte ich ihre hellverputzte Villa, erbaut vom Architekten Isaf Gustaf Clason. Der Garten strahlte die Lässigkeit nordischen Gärtnerns aus; akkurat gemähter Rasen, ein paar verwitterte Bänke, umstanden von wuchernden Blumen, Kräutern, Birn- und Apfelbäumen, darunter Säcke voll „Mårbackas havrekraft”, das damals eigens auf dem Gut produzierte Hafermehl.

Als Selma Lagerlöf 1858 auf Mårbacka geboren wurde, lag der nächste Bahnhof 40 Kilometer entfernt, lebten in Värmland verarmte Bauern inmitten riesiger Fichtenwälder, und auf dem Gut stand ein einfaches Holzhaus. Die Villa ließ die Schriftstellerin bauen, als sie weit über 60 Jahre alt war. Da hatte sie bereits den ­Literatur-Nobelpreis erhalten und mit dem Geld das Gut zurückgekauft, das ihr Vater, vom Alkoholismus in den Ruin getrieben, in ihrer Jugend verhökert hatte. Da hatte sie ihre großen Werke „Gösta Berling“, „Jerusalem“ und „Nils Holgerssons wunderbare Reise“ schon geschrieben, „Die Löwenskölds“ und ihre Autobiografie noch vor sich, und machte das, was ihr am besten gefiel, „abwechselnd Schreiben und Landwirtschaft“.

Man sagt, die Beschaffenheit der Landschaft habe Einfluss auf das Wesen der Menschen, die in ihr leben. Sprache und Denken werden von der Landschaft geschmirgelt. Menschen am Meer denken anders als Menschen im Gebirge, weil die natürlichen Widerstände andere seien. Die konkrete Erfahrung von Geologie und Botanik moduliere den Charakter. Ich erinnere mich, etwas Ähnliches gedacht zu haben, als ich Mårbacka zum ersten Mal besuchte. Der Gedanke, dass mein Sommerhaus mich in die Lage versetzen würde, nun genau jene Natur zu erfahren, die diesen besonderen Charakter moduliert hatte, beflügelte mich.

Von Lagerlöfs Büchern hatte ich noch keines gelesen. Und es waren dann nicht die Wiesen und Äcker, nicht Obstgarten oder Wald und ebenso wenig der Himmel über dem Fluss Emtan, die mir diese Frau an jenem Tag schlagartig vor Augen führten. Es war ein Satz. Vielleicht fiel er während der Führung durch die großzügigen Wohnräume, die mit Kupfertöpfen bestückte Küche, die beeindruckende ­Bibliothek und das mit Sophie Elkans Möbeln eingerichtete Eckzimmer: „Ich wusste und war bereit, es allen zu sagen, die es hören wollten: Dass ich besser schreiben konnte als die meisten unserer Romanautoren.“

Diesen Satz äußerte Selma Lagerlöf 1892, zu einer Zeit, in der niemand hören wollte, was eine Frau zu sagen hatte. In der niemand wollte, dass sie schrieb, schon gar nicht besser als ein Mann. Zu einer Zeit, in der Frauen, die schrieben, von Literaturkritikern verlacht wurden als „famagudinnor“ oder „sagotanter“ – Göttinnen der Gerüchteküche oder Märchentanten.

Es war ein widerständiger Charakter, den die Värmländische Landschaft da zurechtgeschmirgelt hatte. Lagerlöf war pragmatisch, eigensinnig, besitzergreifend und stur. „Ich finde es unzulässig, zu schreiben, man wolle ins Wasser gehen“, antwortete sie 1906 auf einen Brief ­Valborg Olanders, ihrer anderen großen Liebe, die es gewagt hatte, verzweifelt zu sein darüber, dass sie sich Selmas Herz mit ­Sophie Elkan teilen musste. „Wer sich einer anderen versprochen hat, sie braucht und das zukünftige Wohlbefinden auf sie setzt, darf nicht auf diese Weise über sein eigenes Schicksal verfügen.“

Inwieweit ein Mensch die Macht hat, über das eigene Schicksal zu verfügen, war etwas, das sie beschäftigte. Ihr Schicksal sah sie im Schreiben. Und war schon früh mit unumstößlicher Sicherheit überzeugt, dass sie schreiben konnte. „Irgendwann einmal würde die Familie eine echte Begabung hervorbringen“, schrieb sie an Sophie. „Ich möchte annehmen, dass ich das bin, denn es ist ­nötig, dass man an sich selbst glaubt. Denk dir, dass ich das von mir geglaubt habe, seit ich acht Jahre alt war.“

Einige ihrer Werke drücken aus, was diese Frau an immenser Widerständigkeit besaß. Ihre ungezügelten, komplexen Epen, zugleich archaisch und modern, stellten die gesellschaftlichen Geläufigkeiten auf den Kopf. Der Roman, mit dem sie debütierte, „Gösta Berling“, passte in keine der Kategorien, die der literarische Markt jener Zeit vorsah; er war weder ­realistisch noch Avantgarde. Und wegen der überbordenden Fantasie, der Abenteuer, der mystischen Überhöhungen und gewaltigen Satzmassive war er nicht einfach unter Damenroman zu verbuchen.

Nach Erscheinen des Buches riet ihr ein Kritiker, sie solle die Kunst des Konzentrierens lernen, um ihre Fantasie zu bändigen. Ein anderer befand, sie schreibe so unnatürlich, dass er davon Kopfschmerzen bekäme. Man unterstellte ihr, sie verstünde selbst nicht, was sie schriebe. Nervöses Leiden wurde ihr attestiert und krankhafter Wahn, ihr Stil als affektiert und kindisch abgetan, ihre Charaktere als unlogisch und nebulös.

Sie sagte allen diesen Kritikern, dass ihr Roman sich von jedem anderen Roman unterscheide. Dass man ihren Roman deshalb nicht wie irgendeinen anderen Roman beurteilen könne. Und entwarf noch mehr solcher unlogischen und nebulösen Figuren wie Gösta Berling, der entlassene Pfarrer, der zum Spielball anderer wird. Sie schrieb weiterhin über zerbrechende Ehen, selbstbewusste Frauen, unfähige Männer, über zerrissene, widersprüchliche Figuren, die uns nicht bei Tageslicht und nüchtern gegenübertreten, sondern wie rasende Schatten, gejagt von Flammen, die angefacht werden vom allgegenwärtigen Tod. „Je wilder, umso besser“, hielt sie Georg Brandes, einem damals mächtigen dänischen Kritiker entgegen, der von ihr verlangte, sie solle beim nächsten Mal ihr fiktives Personal einschränken und sich auf Mann, Frau und Kind konzentrieren, weil sich ihr fiktives Personal nicht so ­verhielt, wie sich Mann, Frau und Kind nach Meinung dieser Kritiker zu verhalten hatten.

„Gösta Berling“ las ich am Ufer des Fryken, einem See, über den der Held des Romans eines Winters im Pferdeschlitten jagt. Ich hatte schon oft an diesem See gesessen. Jetzt sah ich ihn. Värmland mochte diese Autorin hervorgebracht haben. Aber es war die Autorin, die dieser Landschaft ihren Charakter gab, sie modulierte wie niemand vor und niemand nach ihr.

Es wäre falsch zu behaupten, sie hätte sich vom Einfluss ihrer Zeitgenossen, ihrer Häme, ihrer Kritik, von Lob und Bewunderung befreien können. Mit 70 bekannte sie, dass der Gegenwind bei ihrem Debüt ihr die Flügel gestutzt habe. Bewunderung genoss sie und litt gleichzeitig unter den ständigen Ansprüchen, den Besuchen und der Bittstellerei ihrer vielen Bewunderer. Auch bei Erscheinen des dritten und vierten Buches reiste sie mit Sophie Elkan, ihrer geliebten „Reisegefährtin“, ins Ausland, um eine Distanz zwischen sich und die Wucht der Rezensionen zu bringen.

Ihr war die Symbolkraft bewusst, die von ihr als erstem weiblichen Mitglied der Schwedischen Akademie ausging. Die Peti­tion fürs Frauenwahlrecht unterschrieb sie nicht nur, sondern formulierte sie 1905 gleich selbst, weil sie ihre Signatur nicht unter schlecht geschriebene ­Texte setzen wollte. „Der Wunsch meiner Jugend, dieselbe Machtstellung wie der Mann zu ­erlangen, ist aufs Neue in mir erwacht.“

Die Rolle der Nationaldichterin füllte sie geduldig aus; auch aus finanziellen Gründen. Von ihrer Großzügigkeit hingen eine Vielzahl von Menschen ab. Sie unterstützte beinahe ihre gesamte Familie und förderte viele Frauen, weil sie nie ­vergaß, dass engagierte Frauen sie gefördert hatten: Eva Fryxell, die in Stockholm einen Lesesalon unterhielt, Sophie Adlersparre, die einflussreiche Feministin, die eine eigene Literaturzeitschrift herausgab und der jungen Dichterin, als sie ihr ­Talent erkannte, finanzielle Unterstützung durch Fredrika Limnell vermittelt hatte. Ohne diese Hilfe wäre „Gösta Berling“ kaum fertig geworden.

Auf Mårbacka beschäftigte Lagerlöf über 70 Angestellte, zu viele, um mit Milch und Mehl Gewinn zu machen. Aber sie brachte es nicht übers Herz, ­jemandem zu kündigen.
Ihre unerschütterliche Unbescholtenheit aber hat sie Zeit ihres Lebens nicht verloren, diese sture Besessenheit, die es ihr ermöglichte, ganz ihrer inneren Eingebung zu vertrauen.

„Wie viele erfolgreiche Guerillas im Krieg der Geschlechter“, stellte Joan Didion über eine andere große Eigensinnige, über Georgia O’Keeffe fest, „scheint auch sie schon früh ein untrügliches Gespür dafür gehabt zu haben, wer sie war, und die Gewissheit, dass sie es würde beweisen müssen.“

Oberflächlich betrachtet, wuchs Selma als Bauernkind auf. Sie spielte im Stall und kletterte auf Bäume, sie war für das Zerschlagen der Zuckerhüte und das ­Auffüllen der Petroleumlampen zuständig, und abends hörte sie mit ihren Geschwistern die Spukgeschichten ihrer Tante Nana, Märchen von Hans-Christian ­Andersen und Gedichte der trunksüchtigen Dichterberühmtheit Carl Michael Bellmann, die ihr Vater las. Mit neun las sie die gesamte Bibel im Glauben, ihren Vater so vom Alkoholismus zu heilen.

Sie wollte schön sein wie ihre große Schwester Anna, hinkte aber, weil die linke Hüftgelenkpfanne mangelhaft ausgebildet war. Als ihr ein Indianerroman in die Hände fiel, war sie von den „Schurken“ so begeistert, dass sie beschloss, Dichterin zu werden. Sie hatte keine Ahnung, wie. Ihr war noch nie eine Dichterin begegnet. Ihr Vater konnte nicht mal den Hausunterricht noch bezahlen. Also las sie Shakespeare. Mit 20 erfand sie Puppenspiele und führte sie mit ihrer jüngeren Schwester Gerda im Salon auf.

Ans Stockholmer Lehrerinnenseminar ging sie gegen den Willen ihres Vaters und finanzierte sich die Ausbildung mit einem Kredit, den ihr Bruder Johan ihr besorgte. Stoisch ertrug sie, dass man sie verlachte wegen des värmländischen Dialekts, stoisch trug sie als Einzige kurzes Haar, das sie auf ihrer ersten Auslandsreise wieder wachsen ließ, „weil es im Ausland unmöglich war, kurze Haare zu ­haben“.

Als sie 23 war, schwankte unter ihr die Erde. Ihr war eingefallen, wovon ihr erstes Buch handeln würde. „Sie musste eine ganze Weile stehen bleiben, bis die Straße wieder zur Ruhe gekommen war, und sie sah erstaunt auf die Vorbeigehenden, die ganz ruhig gingen und nicht merkten, was für ein Wunder geschehen war.“

Menschen, die nichts merken. Vielleicht war sie darüber irgendwann weniger erstaunt. Vielleicht wurde es ihr egal. In der Zeitung las sie über sich, dass sie eine Frau wäre, der es an Erfahrung mit der Liebe mangele. „Die ganze Zeit fühlt man, dass die Autorin eine unverheiratete Dame ist, für die ein großer Bereich des Lebens … ein Buch mit sieben Siegeln ist“, urteilte Georg Brandes. „Die Erotik nimmt einen gewaltigen Raum in ihrer ‚Saga‘ ein. Aber … die Küsse sind ohne Glut … und die Umarmungen kalt wie der Schnee der Nacht.“

Sie aber hatte Brandes eine wichtige Erfahrung voraus. Sie wusste, dass „man jeden beliebigen Menschen lieben kann“, und liebte eine Frau, und sie wusste, dass sie so leidenschaftlich, wie sie eine Frau liebte, auch zwei Frauen lieben konnte.

Sophie Elkan lernte sie 1894 kennen. Da unterrichtete sie noch an einer Mädchenschule in der südschwedischen Provinz, wohnte mit ihrer mittellosen Mutter und Tante zur Untermiete bei einem Zollbeamten und schrieb nachts. Acht Jahre später war sie eine international ­bekannte Autorin und verliebte sich in Valborg Olander. Mit Sophie, die den Rahmen ihrer Liebe mit einem klaren „Hands off“ abgesteckt hatte, bereiste sie Europa und die arabische Welt. Valborg war die „Schriftstellergattin“, bei der das Motto „Hands off!“ hingegen nicht galt. Sie setzte sich wie Selma für das Frauenwahlrecht ein, half ihr mit der umfang­reichen Korrespondenz, kümmerte sich um die Finanzen, lektorierte und schrieb die Manuskripte ins Reine. Beiden blieb Selma lebenslang treu.

„Ich träumte immer, ich sei ein Mann und würde schöne Frauen wie Fräulein Tyselius lieben, die meine erste Liebe war“, bekannte sie gegenüber Sophie. Und an Valborg schrieb sie selbstbewusst: „Lass dir gesagt sein, dass meine Träume in Erfüllung zu gehen pflegen.“

Selma Lagerlöf war gewillt, auf ihre Weise glücklich zu sein, und weder Eifersucht noch irgendein Zeitgeist und schon gar nicht die Meinungen der Außenwelt, wie man nicht glücklich zu sein hatte, brachten sie von diesem Willen ab.

1998, als ich Mårbacka besuchte, veröffentlichte ein dänischer Journalist ein Buch, in dem er argumentierte, dass ­Lagerlöf die Liebe versagt geblieben sei. Sie habe sie in ihren Werken durch den Tod sublimiert. Die Ansicht dieses Journalisten ist so herablassend, wie die von Brandes ein Jahrhundert zuvor. Der Journalist hätte es besser wissen können. 1998 waren die 2.051 erhaltenen Briefe an Sophie Elkan und die 1.364 an Valborg Olander bereits zugänglich. „Wer von niemandem geliebt wird“, schrieb Selma Lagerlöf an Sophie, „muss sterben.“ Sie aber lebte bis ins hohe Alter von 82 Jahren.

Antje Rávic Strubel hat lange in Schweden gelebt und beschäftigt sich gerne mit Schriftstellerinnen-Biografien. Zuletzt erschien ihr Roman „In den Wäldern des menschlichen Herzens“ (Fischer).

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Über Selma Lagerlöf: Hrsg. Holger ­Wolandt: Liebe Sophie – Liebe Valborg. Eine Dreiecksgeschichte in Briefen; Wolandt: Selma Lagerlöf. Värmland und die Welt. Eine Biografie. Von Lagerlöf: Die Erinnerungen; Die Löwenskölds (alle vier Urachhaus); Die Geschichte von Gösta Berling (Piper).

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