„Wahl zwischen Pest und Cholera“

Demo am 8. März in Ankara gegen die zunehmende Entrechtung: "Frauen gemeinsam sind stark!"
Artikel teilen

Zurzeit findet in der Türkei ein Machtkampf unter muslimischen Männern statt. Erdogans Allmacht gegen die konspirative Hizmet-Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, die den Justiz- und Polizeiapparat unterwandert haben soll. Erdogan reagiert mit einem „Putsch von oben“, in dem er die Korruptionsermittlungen verhindert und die Ermittler einfach entlässt. Dass die Korruptionsvorwürfe sich auf Erdogans und die Söhne von Ministern beziehen, zeigt, was die viel beschworene „Familienpolitik“ auf der Ebene bedeuten kann.

Anzeige

Die beiden jetzt verfeindeten Männerbünde haben gemeinsame Ziele. Sie stehen für eine neo-osmanische Türkei und, im Namen der Familie und des Islam, gegen die Selbstbestimmung von Frauen. Sie wollen beide das islamische Patriarchat. Sie entrechten beide die Frauen und bekämpfen die Frauenrechtlerinnen, wie die Feministinnen in Van oder Mersin.

Schikanen gegen autonome Frauenzentren

Die Polizei von Van im Osten der Türkei kam zwischen drei und vier im Morgengrauen. Sie holten zwölf Frauen aus ihren Betten und verhafteten sie. Die Frauen waren Aktivistinnen vom Frauenzentrum Vakasum. Gleichzeitig wurde in ihre Vereinsbüros eingebrochen und Computer und Unterlagen beschlagnahmt. Am selben Tag wurden weitere Organisationen und Frauenvereine in der Stadt durchsucht und geschlossen. Die Anklage lautete: Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und Verstoß gegen das Familiengesetz. Das war am 4. Mai 2012.

Eine ähnliche Operation fand am 25. September 2012 im tausend Kilometer weiter süd-westlich gelegenen Mersin nahe der syrischen Grenze statt. Dort wurden 42 Personen festgenommen und fünf Frauen der Organisation „Istar“ über sechs Monate in Untersuchungshaft festgehalten, bis die Unsinnigkeit der Anschuldigungen zu offensichtlich wurden. Das Zentrum soll im März 2014 wieder eröffnet werden.

Der Vorwurf, mit terroristischen Organisationen zusammenzuarbeiten, kann jeden autonomen Verein treffen, auch Gewerkschaften oder Kulturzentren. Besonders dann, wenn kurdischstämmige Mitglieder darin vermutet werden. Der Vorwurf, gegen das 2008 verabschiedete „Gesetz zum Schutz der Familie“ verstoßen zu haben, ist allerdings neu.

Frauenorganisationen wie „Vakat“, „Istar“ oder auch „Kamer“ oder die „Fliegenden Besen“ machen seit Jahren auf die verheerende Situation von Frauen und Kindern vor allem in den noch von Clan und Großfamilien bestimmten Gebieten Ostanatoliens aufmerksam. Vier von zehn Frauen geben in Untersuchungen an, Gewalt in der Familie ausgesetzt zu sein. Die „Selbstmordrate“ vor allem bei jüngeren Frauen ist, seit Ehrenmord als „normale“ Straftat geahndet wird, erschreckend gestiegen und trotzdem beklagen die Frauenorganisationen etwa tausend so genannte „Ehrenmorde“ im Jahr.

Die Verbesserung der Lage der Frauen ist ein Kriterium für einen möglichen EU-Beitritt und Teil des so genannten „Fortschrittsberichts“. Aus diesem Grund werden Bildungs- und Hilfsprojekte unabhängiger Frauenorganisationen von der Europäischen Union auch finanziell unterstützt.

Das Gesetz stellt Staat & Familie vor das Recht des Einzelnen.

Die AKP-Regierung reagierte auf diesen Druck mit dem „Gesetz zum Schutz der Familie“ (2008). Doch mit Familie sind nicht nur die Kleinfamilien aus Mann, Frau und Kindern gemeint, sondern „alle, die unter einem Dach leben“: Großeltern, Brüder, Schwestern, Onkel und Tanten, Nichten und Neffen. Der Clan soll also geschützt werden. Das entspricht der türkischen Verfassung, die die „Einheit“ von Familie und Staat vor das Recht des oder der Einzelnen stellt.

Neu an dem Gesetz ist, dass Gewalt innerhalb der Familie eingeräumt wird, die geächtet werden muss. Beim genaueren Hinsehen jedoch stellt man fest, dass nichts darüber gesagt wird, wie und welche Straftaten innerhalb der Familie verfolgt werden sollen.

Auch in der Türkei werden Frauen vor allem in Großstädten immer selbstbewusster und eigenständiger. Faktisch werden heute in der Türkei mehr Ehen geschieden als je zuvor. Zwar gibt es immer noch den „Zwang zur Ehe“, aber viele Frauen und Männer entledigen sich dieser „Pflicht“ gegenüber ihren Eltern, indem sie heiraten, um sich dann schnell wieder scheiden zu lassen. Die meisten Scheidungen finden in den ersten drei Jahren nach der Eheschließung statt. Das entspricht nicht dem islamischen Weltbild. Das AKP-geführte Familienministerium hat deshalb scheidungswillige Ehe - leute per Gesetz zu einer staatlichen Zwangsberatung von viermal 90 Minuten durch einen „Familienberater“ verpflichtet.

Das Familiengesetz hat auch konkrete Auswirkungen auf die Arbeit der unabhängigen oft feministischen Frauenvereine. Besime Yag aus dem Frauenzentrum „Istar“ in Mersin berichtet: „Wenn eine Frau bei uns Zuflucht vor ihrem gewalttätigen Mann sucht, möchte sie oft keinen Kontakt und anonym untergebracht werden. Wir erstatten dann gegen den Ehemann Anzeige bei der Polizei. Die Beamten aber informieren den Ehemann, denn der hat laut Familiengesetz das Recht, einen Antrag auf Kontakt und Versöhnung zu stellen. Wenn wir nicht zustimmen, machen wir uns strafbar.

Gewalt gegen Frauen - vor den Augen der Polizei

Immer wieder haben wir deshalb Ärger mit der Polizei oder werden selbst angezeigt.“ Besime berichtet von einem Fall, bei dem sie mit einem Mädchen zur Polizei gingen, weil sie den Vater wegen Vergewaltigung anzeigen wollte. Die Polizei beschuldigte die „Istar“-Frauen, das Mädchen beeinflusst zu haben und informierten den Vater. Der kam auf die Wache und verprügelte seine Tochter vor den Augen der Polizei.

„Das Land ist gespalten“, sagt Besime Yag. Auf der einen Seite sei der von der AKP und den Gülen-Anhängern beherrschte Staatsapparat von Polizei, Justiz und Verwaltung, die die Türkei auf einen islamischen Kurs führen; auf der anderen Seite eine Bevölkerung, die dem ausgeliefert und kaum organisiert ist.

Eine Form der Selbstorganisation waren bisher die autonomen Frauenvereine. Deren Einfluss lässt die AKP nicht ruhen. Als Gegenprogramm wurde 2012 von der Frau des Ministerpräsidenten, EmineErdogan, und Familienministerin Fatma Sahin die staatliche Beratungsorganisation „Sönim“ gegründet (Zentrum für Prävention und Schutz gegen Gewalt). Offiziell dienen diese Beratungsstellen der Gewaltprävention und dem Schutz der Frauen.

In der Praxis sieht das so aus: Eine hilfesuchende Frau kommt zur „Sönim“-Beratungsstelle und erhält dort Unterstützung und für maximal 15 Tage Unterkunft in einem Frauenhaus. In der Zeit organisiert „Sönim“, dass ein Imam der Religionsbehörde Diyanet zu der Frau kommt und sie überredet, in die Ehe zurückzugehen. Dann wird der Ehemann dazu gerufen und beide bekommen eine „islamische Anleitung“ zur Rettung ihrer Ehe.

Demokratische Kräfte müssen gestärkt werden!

Inzwischen wurden in 22 Städten solche „Sönim“-Einrichtungen gegründet; auffällig oft dort, wo bereits unabhängige Frauenvereine tätig sind. Anderen Frauenorganisationen, auch den kommunalen Einrichtungenin den Gemeinden, die nicht der AKP zuzurechnen  sind, soll so das Wasser und vor allem das Geld abgegraben werden.

Erdogan wie Gülen, die politischen Bewegungen des türkischen Islam, zielen auf eine vollständige Kontrolle über das gesellschaftliche Leben. Nachdem es dem Erdogan-Staat gelungen ist, die Verwaltung, die Polizei und die Justiz im Griff zu haben und die Presse weitgehend zu kontrollieren, will man jetzt auch die zivilgesellschaftlichen Bereiche kontrollieren, die unabhängigen Frauenorganisationen allen voran.

Wie auch immer der Machtkampf zwischen Erdogan und Gülen also ausgehen wird – es ist die Wahl zwischen Pest und Cholera. Die einzigen wirklich demokratischen Kräfte sind die bedrängten und bedrohten unabhängigen Kräfte. Sie gilt es zu unterstützen!

Artikel teilen

Artikel teilen

Als im Sommer in Istanbul die Proteste wegen der Zerstörung des Gezi-Parkes ausbrachen, da machte der Reuters-Fotograf Osman Orsal ein Foto, das zum Sinnbild dieser Proteste werden sollte: das Bild von der Frau im roten Kleid. Mit einer Tasche über dem Arm war Ceyda Sungur, die an der Istanbul Technik Universität unterrichtet, nach der Arbeit in den Park gekommen, um zu demonstrieren. Sie ging die Reihe der Polizisten entlang, da machte einer plötzlich einen Schritt auf sie zu und sprühte ihr Tränengas direkt ins Gesicht. Die Sprühfahne aus dem Tränengasbehälter (der Polizist selbst trug eine Gasmaske) war so heftig, dass die dunklen Locken Ceyda Sungurs zur Seite wehten. Genau diesen Augenblick hat Orsal festgehalten.

Das Bild verbreitet sich in Windeseile über Twitter und Facebook. In der Türkei löste es eine Sympathiewelle aus, und nachdem Abgeordnete in Italien es gesehen hatten, erschienen die Frauen in roten Sommerkleidern im Parlament. Auch in Deutschland zeigten Frauen so ihre Unterstützung: Bei den Solidaritätskundgebungen hatten viele rote Kleider an. In Izmir bestückten die Leute ein Billboard mit der Frau im roten Kleid. In der ganzen Türkei zieren Graffiti ihrer Umrisse Häuserwände.

Es hat in der Türkei noch nie eine Protest­bewegung gegeben, bei der Frauen eine so herausragende Rolle gespielt haben wie jetzt. Eine Umfrage von Konda (eine Istanbuler Immobilienberatungsfirma) hat ergeben, dass 51 Prozent der ­DemonstrantInnen Frauen sind. Es ist ein Protest, der ältere und jüngere Türkinnen vereint, sie kommen aus der gebildeten Mittel- und Oberschicht, aber auch immer mehr Frauen aus sozial schwachen Milieus schließen sich den Demonstrantinnen an. Mit Tränengasmaske und Taucherbrille im Gesicht treten sie der Polizei entgegen. Und auch jene, die sich aufgrund ihres hohen Alters nicht mehr dazu in der Lage sehen, haben eine Form gefunden, ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen: Mit Kochgeschirr stellten sie sich allabendlich um Punkt 21 Uhr in Fenster und auf Balkone und schlugen Krach.

Die 62 Jahre alte Architektin Mücella Yapici, Präsidentin der Türkischen Architekten- und Ingenieurskammer, gehört zu den Initiatorinnen des Protests. In einem Interview sagte sie, die wie zahlreiche ­andere Frauen zwischenzeitlich festgenommen worden ist: „Frauen können sehr mutig sein. Ihr Reflex, Dinge zu verteidigen, die Leben garantieren, ist stärker ausgeprägt als bei Männern.“

Die Wut der türkischen Frauen ist ­gewaltig. Bei den Treffen, die seit der Räumung des Gezi-Parks täglich in den Parks von Istanbul und anderen Städten abgehalten werden, wird viel darüber diskutiert. Gerade die Frauen wollen endlich in einem Land leben, in dem eine Frau die gleichen Rechte und die gleiche Achtung genießt wie ein Mann. Sie haben genug vom autoritären Regierungsstil von Ministerpräsident Erdoğan, der sich auf eine Art und Weise in das Privatleben der Menschen einmischt, die vor allem Frauen benachteiligt.

Erdoğan möchte nämlich nicht nur ­bestimmen, wie viele Kinder eine Frau zu bekommen hat – nämlich drei –, sondern auch wie: ohne Kaiserschnitt. Abtreibungen bezeichnet er als „Mord“. Er hat so lange dagegen gewettert, dass man sich inzwischen in vielen Krankenhäusern in ­vorauseilendem Gehorsam weigert, den medizinischen Eingriff durchzuführen. Wird jedoch eine Frau vergewaltigt, von ihrem Mann geschlagen, aus Gründen der Ehre umgebracht, oder Mädchen als ­Kinderbräute von ihren Eltern verheiratet, schauen Polizei und Justiz in der Regel weg.

Die türkische Menschenrechtsorganisation Bianet führt eine Statistik über ­Gewalt gegen Frauen, die nur jene Fälle zählen kann, die in den türkischen ­Medien zur Sprache kommen, also die Spitze des Eisberges. Allein in der ersten Hälfte des Jahres wurde in der Türkei über 86 Fälle berichtet, in denen Männer Frauen umgebracht und 66 Fälle, in denen sie Frauen vergewaltigt hatten. Die tatsächliche Anzahl dürfte weitaus höher liegen, da viele Morde als Selbstmorde ­getarnt werden und nur ein Bruchteil der Vergewaltigungen zur Anzeige kommt.

Lange wurde in der Türkei kaum über all das gesprochen. Doch das mutige Auftreten der Frauen während der Proteste hat weite Teile der türkischen Gesellschaft sensibler für das alltägliche Unrecht gemacht. Es wird in der Öffentlichkeit nun nicht mehr geschwiegen, Politikerinnen wie die CHP-Abgeordneten Emine Ülker Tarhan stellen laut Forderungen. Die Frauenrechte sind ein Gradmesser für ­Demokratie, Erdoğan aber schweigt darüber. In dem patriarchalen Denken, das seiner Politik zugrunde liegt, sollen Frauen in der Abhängigkeit des Mannes belassen werden und nicht selbst über ihr Leben entscheiden. Viele AKP-Wähler teilen die Einstellung des Präsidenten.

Welche Folgen das im Alltag für Frauen haben kann, offenbarte sich auch Ende Juli in Gestalt des konservativ-muslimischen Rechtsanwalts und einflussreichen Sufi-Denkers Ömer Tuğrul Inançer. Bei einem Auftritt im staatlichen Fernsehen TRT bezeichnete er den Anblick von schwangeren Frauen als öffentliches Ärgernis. Sie sollten sich nicht außerhalb des Hauses zeigen, sagte Inançer, denn sie anzusehen, sei „nicht schön“: „Frauen, die im siebten oder achten Monat schwanger sind, können ja von ihrem Ehemann im Auto ausgefahren werden, um ein bisschen frische Luft zu schnappen.“

Vor dem Ausbruch der Proteste wäre eine solche Aussage wahrscheinlich einfach verklungen. Diesmal aber reagierten die Frauen sofort. Auf Facebook und Twitter riefen sie unter #direnhamile (leistetwiderstandschwangere) zu Demonstrationen auf. Tausende gingen daraufhin in Istanbul und Ankara auf die Straße. Sehr viele schwangere Frauen waren unter den Demonstranten, aber auch Männer und Frauen, die sich aus Solidarität Kissen unter die T-Shirts gestopft hatten.

Auch Kanzlerin Angela Merkel zeigte sich entsetzt über die Ausschreitungen der Polizei in der Hochphase des Protests. Und die Grünen-Politiker Claudia Roth und Cem Özdemir reisten nach Istanbul, um den Aktivisten des Gezi-Parks ihre Solidarität zu demonstrieren. Klare Stellungnahmen von deutsch-türkischen PolitikerInnen, die in diesem Jahr erstmals für den Bundestag kandidieren, gab es kaum. ­Offenbar fürchten sie, in Deutschland Wählerstimmen aus dem konservativ-­muslimischen Milieu zu verlieren.

Ob in der Türkei eine echte Demokratie eine Chance erhält und Frauen endlich mehr Rechte zugestanden werden, das sollte kein Thema von wahltaktischen Manövern sein. Die türkischen Frauen müssen unterstützt werden, und sei es, indem man sich hier öffentlich zu ihrem Anliegen bekennt.
Karen Krüger verbrachte einen Teil ihrer Schulzeit in der Türkei. Als die Gezi-Park-Proteste aus­brachen, berichtete die FAZ-Redakteurin drei Wochen lang von Istanbul aus.

Anzeige
Weiterlesen
 
Zur Startseite