Wir wissen nicht, was wir anrichten

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Herr Dr. Korte, was genau ist eine Geschlechtsdysphorie?
Etwas allgemeiner gefasst sprechen wir von einer Körper-Geschlechts-­Inkongruenz. Das bedeutet, dass das geschlechtsbezogene Identitätsgefühl eines Menschen und dessen körperlich-biologisches Geschlecht nicht zusammenpassen. Das allein ist aber noch nicht zwangsläufig ein krank­hafter Zustand. Besteht jedoch ein relevanter Leidensdruck, ist die medizinisch korrekte Bezeichnung Genderdysphorie; bei der extremsten Form, der transsexuellen Geschlechtsdysphorie, äußern die Betroffenen den starken Wunsch, die wahrgenommene Diskrepanz mit körperverändernden Maßnahmen zu verringern.

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Was passiert, wenn Sie die Diagnose „Geschlechtsdysphorie“ gestellt haben?
Es geht am Ende immer darum, mit dem oder der Betroffenen gemeinsam in einem längeren diagnostisch-­therapeutischen Prozess die größtmögliche Sicherheit darüber zu erlangen, ob der Wunsch nach sozialem Geschlechtsrollenwechsel und ge­schlechtsangleichenden körperverändernden Maßnahmen erstens zeitlich überdauernd ist und ob zweitens nur auf diesem Weg der Leidensdruck reduziert werden kann. Es geht also auch darum, mögliche Alternativen aufzuzeigen.

Um die Entscheidung hinauszuzögern, werden Kindern immer häufiger so genannte Pubertätsblocker gegeben. Sie sehen das kritisch.
Zutreffend ist, dass man zunächst eine rasche Verringerung des Leidensdrucks erreicht, wenn man verhindert, dass Bart bzw. Brüste wachsen. Aber was passiert in der gewonnenen Zeit? Diese Pubertätsblocker beeinflussen die normale körperliche und psychosexuelle Entwicklung, beeinträchtigen zudem die Libido. Und wie soll sich dann der oder die Jugendliche mit seiner oder ihrer Sexualität auseinandersetzen? Könnte zum Beispiel das eigentliche Thema eine abgewehrte Homosexualität sein? Das ist unter diesen Bedingungen gar nicht nachprüfbar. Hinzu kommt: Bei einem Großteil der Minderjährigen bestünde ohne die frühzeitige Weichenstellung durch Einleitung einer Hormonbehandlung eine reelle Chance, dass die Geschlechtsdysphorie im Laufe der Pubertät überwunden werden würde oder die Betroffenen einen anderen Umgang damit fänden. Früher lag der Anteil derjenigen, die bei dem Wunsch nach körperverändernden geschlechtsangleichenden Maßnahmen blieben, bei 15 bis 20 Prozent. Seit Pubertätsblocker gegeben werden, liegt er bei nahezu 100 Prozent. Es gibt zunehmend Studienergebnisse, die den Einsatz von Pubertätsblockern bei geschlechtsdyphorischen Kindern bedenklich erscheinen lassen. Wir wissen noch viel zu wenig, was wir da anrichten.

Aber was ist zum Beispiel mit einem präpubertären Jungen, der sich als Mädchen fühlt, und nun in Panik gerät, weil ihm demnächst ein Bart wächst und er in den Stimmbruch kommt?
Wenn das ein Junge mit einer anhaltenden Geschlechtsdysphorie vom transsexuellen Typus ist, wäre es in der Tat segensreich, Bartwuchs und Stimmbruch zu verhindern. Deshalb wäre es ein unschätzbarer Vorteil, diejenigen Jugendlichen zu identifizieren, für die eine Geschlechtsangleichung tatsächlich die einzige Lösung ist. Denn die Folge ist, dass der Mensch lebenslang Hormone nehmen muss und sich womöglich auch einer oder mehreren OPs unterzieht. Das Problem: Es gibt keine verlässlichen Parameter, anhand derer ich den weiteren Verlauf sicher vorhersagen kann.

In Ihrer Ambulanz kommen auf einen Jungen inzwischen acht Mädchen. Wie erklären Sie sich das?
Eine Ursache könnte sein, dass eine zunehmende Anzahl von Mädchen sich heutzutage unter dem Druck des gesellschaftlichen Schönheits- und Schlankheitsideals mit den anstehenden Anforderungen der Pubertät überfordert fühlt. Ein Teil dieser Mädchen sieht in dem Geschlechts(rollen)wechsel einen vermeintlichen Ausweg. Man könnte die Geschlechtsdysphorie also auch als „moderne“ Störung betrachten, die teilweise an die Stelle der Anorexie tritt, also der Magersucht.

Leben wir inzwischen nicht in einer Gesellschaft, in der Mädchen die gern Fußball spielen oder sich in andere Mädchen verlieben, sozial anerkannt sind?
Nein, offensichtlich nicht. Wir erleben gerade ein konservatives Rollback. Da müssen wir uns ja nur die Spieleindustrie anschauen. Da ist die Welt ganz klar aufgeteilt in Rosa und Hellblau. Da waren wir in den 70er- und 80er-Jahren schon mal weiter. Und homosexuell zu sein und sich dieses einzugestehen, ist für viele Jugendliche bis heute nicht so einfach.

Wird also unangepasstes Rollenverhalten quasi wegoperiert?
Überspitzt könnte man das so sagen, ja. Und was das bedeutet, hat die Gesellschaft meines Erachtens überhaupt noch nicht erfasst.

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Trans sein: Der Druck ist riesig

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Frau Müller, wie haben Sie reagiert, als ihre Tochter Ihnen eröffnete, sie fühle sich als Junge und wolle einen männ­lichen Körper?
Wir fanden das merkwürdig, weil unsere Tochter vorher nie geäußert oder den Eindruck gemacht hatte, dass sie sich im „falschen“ Körper fühlt. Uns schien, dass sie diese Idee bekommen hat, weil sie in einem Jugendzentrum in Kreise gekommen ist, die ihr das Transsein als einfache Möglichkeit zur Lösung ihrer Probleme angeboten haben. Und dann wurde sie von allen Seiten bestätigt und darin bestärkt. Von den Lehrern, von den Sozialarbeitern, von den Therapeuten.

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Auch die Therapeuten haben diesen plötzlichen Wunsch nicht hinterfragt?
Unsere Tochter hatte sich einen Therapeuten gesucht, der in der Szene als „transaffirmativ“ bekannt ist.

Und warum finden Sie das problematisch?
Das große Problem ist, dass häufig ganz andere Probleme hinter der angeblichen Genderdysphorie stecken, von verdrängter Homosexualität bis sexueller Missbrauch. Und ich finde es fahrlässig, dass man sich auf die Diagnose Genderdysphorie kapriziert und die darunterliegenden Probleme gar nicht behandelt.

Ihre Tochter hatte in der Klasse Pro­bleme, weil sie nicht in das gängige Mädchenschema gepasst hat. Hat sie selbst das nicht als möglichen Auslöser für ihren Wunsch gesehen?
Wir haben sie mit diesen Argumenten nicht erreicht. Die so genannten Detransitioner, also Transgender, die den Geschlechtswechsel wieder rückgängig machen, berichten, dass es einen wahnsinnigen Druck aus der Peergroup gibt, wenn man sich erstmal das Etikett „trans“ aufgeklebt hat.

Gab es auch Druck auf Sie als Eltern?
Natürlich. Alle Selbsthilfegruppen, die ich im Netz gefunden habe, sind „transaffirmativ“. Man soll sein Kind unbedingt bedingungslos bestätigen. Und es wird einem ein wahnsinnig schlechtes Gewissen gemacht, weil man angeblich das wahre Wesen seines Kindes und seine Bedürfnisse all die Jahre nicht gesehen hat. Es wird einem suggeriert: „Jetzt kannst du diese Sünde wieder gut machen, indem du die medizinische Transition unterstützt.“ Ich verwende absichtlich diese religiösen Begriffe, weil diese Szene tatsächlich ein sektenartiges Verhalten an den Tag legt.

Dabei geht es doch immerhin um schwere medizinische Eingriffe in einen gesunden Körper.
So ist es. Aber dass da eine medizinische Behandlung folgt, die irreversible Folgen hat, wird total bagatellisert. Man selbst fragt sich ja: Was bringt jemanden dazu, etwas so Dramatisches mit seinem Körper zu machen? Aber die Jugendlichen selber empfinden das offenbar nicht als so radikal. Die Schwelle, seinen Körper hormonell oder sogar chirurgisch zu verändern, ist total gesunken. Das ist ein großes Problem: Man hat entpathologisiert, wo man hätte entstigmatisieren müssen.

Sie haben vor kurzem den deutschen Ableger der amerikanischen Eltern-­Selbsthilfegruppe „Parents of ROGD-Kids“ gegründet.
Ja. Bei uns geht es um Kinder, die ohne vorherige Anzeichen in der Pubertät oder danach den Wunsch nach einem Geschlechtswechsel äußern. Und diejenigen, die den plötzlichen Transitionswunsch ihres Kindes hinterfragen, werden ganz schnell in die rechte, reaktionäre oder religiöse Ecke gestellt. Hingegen wird den Eltern, die ihr Kind im neuen Geschlecht bestätigen, suggeriert, dass sie sich als Avantgarde fühlen können. Um es nochmal ganz deutlich zu sagen: Wir haben kein Problem damit, dass unsere Kinder transitionieren. Wir haben ein Problem damit, dass sie das später bereuen könnten. Wie aktuell mit dem Thema umgegangen wird, ist gegenüber allen unverantwortlich. Denn es wird einen Backlash geben. Und der wird vor allem die extrem kleine Minderheit treffen, für die die Transition tatsächlich der richtige Weg ist.

Wie geht es Ihrer Tochter jetzt?
Sie trägt kurze Haare, Männerkleidung und bindet sich die Brüste ab. Sie lässt sich mit einem männlichen Vornamen und als „er“ ansprechen. Hormone hat sie, soweit wir wissen, noch nicht genommen.

IM NETZ www.parentsofrogdkids.com/wer-wir-sind

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