Wie weiblich ist Caitlyn Jenner?

Caitlyn - ehemals Bruce - Jenner, fürs Cover der Vanity Fair fotografiert von Annie Leibovitz
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Alle bejubeln ihren Mut. Lady Gaga bedankt sich bei ihr, Barack Obama gratuliert und das „Entertainment and Sports Programming Network“ (ESPN) will dem ehemaligen Olympiasieger im Zehnkampf jetzt einen Preis für ihre Courage verleihen. Nach 65 Jahren in einem Männerkörper lebt Caitlyn Jenner, ehemals Bruce, jetzt als Frau und hat sich nicht nur ihren Körper, sondern auch ihr Gesicht chirurgisch in ihrem Sinne formen lassen. „Call me Caitlyn“ wünscht sie sich auf dem Cover der aktuellen Vanity Fair, die der Verwandlung des ehemaligen Sport-Helden zur Super-Frau stolze 22 Seiten widmet, inklusive Fotos von Star-Fotografin Annie Leibovitz.

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Haben Männer und Frauen unterschiedliche Gehirne?

Aber in die Begeisterung über Jenners Mut mischen sich auch kritische Stimmen. Zum Beispiel die von Elinor Burkett. „What Makes a Woman?“ fragt die amerikanische Journalistin und ehemalige Professorin für Women’s Studies in der New York Times. Der Vanity-Fair-Titel „eröffnet uns einen Einblick in Caitlyn Jenners Idee von einer Frau: Push-Up-Korsett, laszive Pose und viel Mascara“. Aber Burkett kritisiert nicht nur, dass Jenner sich offenbar widerstandslos in das gängige weibliche Schönheitsideal fügt. Sondern, dass sie einem Biologismus das Wort redet, den Feministinnen zu überwinden versuchen.

„Mein Gehirn ist viel mehr ein weibliches als ein männliches“, hatte Jenner kurz nach seinem Coming Out im April 2015 gesagt. „Haben Frauen und Männer unterschiedliche Gehirne?“ fragt nun Elinor Burkett. „Als Larry Summers als Harvard-Präsident das behauptete, waren die Reaktionen darauf gnadenlos. Er wurde als Sexist und Höhlenmensch beschimpft. Aber als Bruce Jenner das Gleiche sagte, wurde er für seinen Mut und sogar für seine Fortschrittlichkeit gepriesen.“ 

Über dieses Messen mit zweierlei Maß wundert sich die Feministin Burkett sehr. „Ich habe einen Großteil meiner 68 Jahre dagegen gekämpft, dass Frauen – unsere Gehirne, unsere Herzen, unsere Körper – in Schubladen gesteckt und wir auf verstaubte Stereotype reduziert werden. Und jetzt muss ich feststellen, dass viele Menschen, die ich dabei an meiner Seite wähnte, plötzlich daran glauben, dass winzige Unterschiede in männlichen und weiblichen Gehirnen riesige Folgen haben und dass uns eine Art Geschlechts-Schicksal eingebrannt ist. Dabei ist das die Art Unsinn, mit dem Frauen jahrhundertlang unterdrückt wurden.“ 

Frauen wird das Recht verwehrt, sich als Frauen zu definieren

Und der Biologismus geht weiter. Frausein (oder Mannsein) definiere sich eben nicht nur über eine Vagina oder einen Penis. „Was es für mich und viele andere Frauen schwer macht, uns hinter die Transgender-Bewegung zu stellen, ist unter anderem, dass immer mehr Transmenschen die Tatsache missachten, dass eine Frau zu sein auch bedeutet, bestimmte Erfahrungen gemacht zu haben“, erklärt Elinor Burkett. Und die unterscheiden sich bei biologischen Frauen eben gewaltig von denen von Transfrauen.

„Ihre weibliche Identität ist nicht meine weibliche Identität. Sie haben nicht in Geschäfts-Meetings gelitten, bei denen Männer nur mit ihren Brüsten gesprochen haben. Sie sind nicht nach dem Sex mit der Horrorvorstellung wachgeworden, dass Sie am Vortag vergessen haben, die Pille zu nehmen. Sie mussten nicht damit klarkommen, dass das Gehalt Ihrer männlichen Arbeitskollegen höher war als Ihr eigenes. Und sie mussten nicht mit der Angst leben, womöglich zu schwach zu sein, um sich gegen einen Vergewaltiger zu wehren. Das sind die Realitäten, die die Frauengehirne formen.“

Während eine Transfrau wie Caitlyn Jenner sich in Vanity Fair als „echte Frau“ inszeniert, geht die Transbewegung in den USA immer öfter dazu über, Frauen das Recht zu verwehren, sich als Frau zu definieren. So berichtet die Journalistin Katha Politt, dass Abtreibungs-Initiativen auf Druck von Transgender-Aktivisten das Wort „Frau“ aus ihrem Namen streichen. So benannte sich die Initiative „Fund Texas Women“, die Frauen, die ihre Schwangerschaft abbrechen wollen, Hotel- und Reisekosten finanziert, um in „Fund Texas Choice“. Begründung: „Mit dem Namen ‚Fund Texas Women‘ haben wir Transmenschen ausgeschlossen, die eine Abtreibung brauchen, aber keine Frauen sind.“ 

Eine Frau zu sein bedeutet eben auch, bestimmte Erfahrungen gemacht zu haben.

Am „Mount Holyoke College“, einer Kunsthochschule für Frauen, wurde eine Aufführung von Eve Enslers „Vagina Monologen“ abgesagt. Das Stück habe „eine extrem eingeschränkte Perspektive darauf, was es heißt, eine Frau zu sein“.

„Wir haben die eingeschränkte Sicht auf Frauen und Männer schon in Frage gestellt, als die meisten AmerikanerInnen das Wort ‚Transgender‘ noch nie in ihrem Leben gehört haben“, ätzt Elinor Burkett. „Deshalb spielen unsere Töchter heute mit Autos genauso wie mit Puppen, und deshalb trauen sich die meisten von uns heute, dienstags einen Rock und donnerstags Jeans zu tragen.“ 

Der Kampf gegen die Geschlechterstereotype sei noch lange nicht vorbei, sagt die Feministin, „und Trans-AktivistInnen könnten in diesem Kampf unsere natürlichen Verbündeten sein“. Dazu aber sei ein gemeinsames Commitment nötig: „So lange Menschen X- und Y-Chromosomen produzieren, die zur Entwicklung von Vaginas und Penissen führen, wird fast allen von uns bei der Geburt ein Geschlecht 'zugewiesen'. Aber was wir mit diesem Geschlecht machen, ist fast vollständig veränderbar. Wenn das die ultimative Botschaft der Trans-Community ist, dann heißen wir sie herzlich willkommen, zusammen dafür zu kämpfen, dass alle den Raum bekommen, so zu leben, wie sie wollen – ohne dabei von Rollenerwartungen eingeschränkt zu werden. Aber die Identitäten von Frauen zu unterminieren und unsere Erfahrungen zu leugnen oder gar auszulöschen - das können wir in diesem Kampf nicht gebrauchen.“ 

 

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Alice Schwarzer schreibt

Brief an meine Schwestern

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Liebe Irene,

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als wir gestern Abend in unserem Stammlokal saßen, eigentlich für eine gemütliche Stunde, gerieten wir uns plötzlich politisch in die Haare. Zu unser beider Überraschung. Denn eigentlich sind wir uns in grundsätzlichen politischen Fragen fast immer einig. Wir kennen uns ja auch seit vielen Jahren, wir wissen, was wir voneinander zu halten haben.

Unser Gespräch wurde rasch heftig, und wir mussten uns abrupt trennen, konnten nicht weiterreden. Darum heute mein Brief. Es geht mir immer noch um Transsexuelle.

Anlass unserer Differenz: Ich erzählte dir, dass EMMA die Kontaktanzeige einer Transsexuellen bringt, „Carmen (ehemals männlich)", sucht Freundin. Du fandest das reichlich daneben. „Sowas hat doch in EMMA nichts zu suchen. Das sind doch gar keine richtigen Frauen!". Ich war nicht deiner Meinung und versuchte Dir zu erklären, warum. Das will ich jetzt hoch einmal tun. Weil mir deine Meinung wichtig ist. Und weil ich weiß, dass du damit in der Frauenbewegung nicht allein stehst.

Wir werden nicht als Frauen geboren, wir werden dazu gemacht. Beauvoirs Credo bleibt Kern jeder feministischen Analyse. Wollen wir sozial oder erotisch oder intellektuell oder psychisch ausbrechen aus der Frauenrolle, stoßen wir auf Widerstand, Spott und Gewalt. Wer weiß das besser als du und ich, als wir Feministinnen? Unser Ziel ist, in aller Schlichtheit und Vermessenheit, die Menschwerdung von Frauen und Männern. Endlich männlich und weiblich sein können und dürfen! Dafür kämpfe ich.

Nicht immer geht unsere Auflehnung gegen die Halbierung von Menschen in Männer und Frauen (und gegen die Herrschaft der einen über die anderen) nur über den Kopf. Oft haben wir ausbrechenden Frauen selbst Biographien, die es uns erleichtern, das Aufgesetzte der Rollenzuweisung zu erkennen, an den Stangen des Käfigs der Weiblichkeit zu rütteln.

Nun gibt es aber darüber hinaus Lebensläufe und -bedingungen, die einen sehr frühen, sehr tiefen Zweifel in bezug auf die geforderte Geschlechtsidentität pflanzen. Irgendeine Weiche ist „falsch" gestellt worden. Resultat: ein biologisch „männliches" Wesen mit einer „weiblichen" Seele. Oder ein biologisch „weibliches" Wesen mit einer „männlichen" Seele. Menschen also, die in ihrem Körper eine „falsche" Seele haben, die zwischen den Geschlechtern sind, Transsexuelle.

Diese Transsexuellen, von denen heute in der Bundesrepublik etwa 3.000 leben, haben nichts mit Transvestiten gemein. Transvestiten - Bezeichnung, die man gemeinhin auf Männer anwendet, die Frauenkleider tragen - lieben den Reiz der Kleider des anderen Geschlechts auf ihrem Körper, mit ihrem Körper selbst sind sie durchaus in Frieden. Transsexuelle aber wollen sich nicht „verkleiden". Transsexuelle wollen nur eines: endlich ihren Körper in Einklang bringen mit ihrer Seele.

In dieser Gesellschaft gibt es eine Schublade „Frau" und eine Schublade „Mann", dazwischen nichts. Darunter leiden nicht nur die Transsexuellen. Darunter leiden die meisten Frauen (und einige Männer). Für Transsexuelle aber eskaliert der Konflikt bis zur Neurose: sie wenden sich selbstzerstörerisch gegen den eigenen Körper.

Die Existenz des Transsexualismus beweist: Die Seele ist stärker als der Körper - sie bestimmt die Geschlechtsidentität. Der Körper ist nur Vorwand für diese Zuweisung. Lebensläufe von Transsexuellen sind Schicksale. Heimlichkeit, Demütigung, Verzweiflung. Erst seit 1981 ist es in der Bundesrepublik für eineM Transsexuelle/n rechtlich möglich, die Identität zu ändern: aus Karl wird nun auch im Ausweis Carmen, aus Michaela Michael.

Dass den meisten Transsexuellen der neue Ausweis nicht genügt,   sondern dass sie auch einen „neuen" Körper wollen, ja ihnen das   Voraussetzung zum Weiterlebenkönnen scheint - das ist schlimm. In einer vom Terror der Geschlechtsrollen befreiten Gesellschaft wäre Transsexualismus schlicht nicht denkbar. Transsexualismus scheint mir der dramatischste Konflikt überhaupt, in den ein Mensch auf dem Weg zum „Mannsein" oder „Frausein" in einer sexistischen Welt geraten kann.

In diesem Konflikt haben die Transsexuellen selbst keine Wahlmöglichkeit mehr: ihr Hass auf den „falschen" Körper ist   weder durch Argumente noch durch Therapien zu lösen. Transsexuelle sind zwischen die Räder des Rollenzwangs geraten. Einziger Ausweg scheint ihnen die Angleichung von Seele und Körper. Preis: die Verstümmlung des Körpers. Und: die Zerschlagung aller sozialen Zusammenhänge.

Seit Ende der 70er Jahre nun sind Transsexuelle in Frauenzentren aufgetaucht, genauer: Frauen, die einst einen Männer-Körper und eine Männer-Realität hatten. Oft sind sie engagierte Feministinnen. Was mich nicht überrascht. Wer schließlich   hätte schmerzlicher am eigenen Leibe erfahren, was es heißt, „keine richtige Frau" zu sein?

In den Frauenzentren, vor allem in den Lesbengruppen, reagierten viele abwehrend auf die Transsexuellen. Nein, „solche" hätten in der Frauenbewegung nichts zu suchen, das wären ja gar keine richtigen Frauen, die hätten schließlich Jahrzehnte männlicher Sozialisation hinter sich... Das war der Tenor heftiger, interner Debatten Anfang der 80er Jahre. Inzwischen haben sich die einst Transsexuellen und jetzt Frauen zum Teil selbst organisiert. Ich war nie einverstanden mit der abweisenden Reaktion mancher Feministinnen. Mehr noch: Ich war und bin darüber empört! So wie über dich gestern abend, Irene. Die hätten nichts „bei uns" zu suchen, sagst du, und wendest dich ab.

Siehst du denn nicht, dass Carmen nicht nur eine Schwester ist wie alle anderen, sondern sogar eine, die zu uns herabgestiegen ist? Denn ein Mann, der Frau wird, hat einiges zu verlieren in einer Männergesellschaft, das weißt du doch nur zu genau. Und eine biologisch männliche Transsexuelle ist dann auch objektiv Frau, wenn sie Körper und/oder Pass geändert hat. Sie kann ihr Frausein von nun an ebenso wenig aufkündigen wie du und ich. Und wenn du sie nun zurückstößt, machst du genau dasselbe wie der Rest der Gesellschaft: du denkst in den unerbittlichen Kategorien „Mann" und „Frau".

Und darum sind Carmen, Michaela, Maria, Karin, sind sie alle meine Schwestern. Und ich würde mir wünschen, dass sie in Zukunft auch deine Schwestern sind. Und, dass du weiter mit mir kämpfst gegen Verhältnisse, die aus Körpern Gefängnisse machen, in denen nur maßgeschlagene Seelen Platz haben.

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