Susie Orbach: Die Körper-Krise

Esstörungs-Expertin Susie Orbach: "Wir laufen Gefahr, die Körpervielfalt einzubüßen."
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Wie die meisten Menschen mit Internetzugang finde ich täglich in meiner Mailbox Aufforderungen, mir den Penis verlängern oder die Brüste vergrößern zu lassen, das Lust- und Potenzsteigerungsmittel Viagra zu erwerben, das neueste pflanzliche oder pharmazeutische Mittel zur Gewichtsreduktion auszuprobieren. Diese Ermunterungen überlisten den Spamfilter. Und auch die populärwissenschaftlichen Websites singen Loblieder auf Implantate und Pillen zur Optimierung von Körper oder Gehirn und auf neue Fortpflanzungs­methoden unter Umgehung der herkömmlichen Biologie.

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Unterdessen können kleine Mädchen auf die Miss-Bimbo-Website gehen, um eine virtuelle Puppe zu kreieren, sie mittels Diätpillen ultraschlank zu halten und ihr Brustimplantate und Facelifts zu spendieren. Diese kleinen Mädchen werden zu Teenagern abgerichtet, die von neuen Oberschenkeln, Nasen und Brüsten träumen; während sie in Zeitschriften blättern, wo Seite um Seite ein Look präsentiert wird, der uns noch vor zehn Jahren erschreckt hätte, da die skelettdürren Models an Opfer von Hungerkatastrophen erinnern. Gleichzeitig warnen uns staatliche Stellen vor einer Fettleibigkeitsepidemie. Dein Körper, rufen uns alle diese Phänomene zu, ist dein Kunstwerk, das es zu korrigieren, umzumodeln und zu verbessern gilt. Mach mit! Gönn dir das Vergnügen! Gehöre dazu!

Als praktizierende Psychotherapeutin sehe ich die Auswirkungen dieser Aufrufe zur Veränderung, Verschönerung und Vervollkommnung des Körpers täglich in meinem Sprechzimmer. Die Leute suchen mich nicht unbedingt wegen bestimmter Körperprobleme auf, aber welcher Art ihre seelischen Nöte und Konflikte auch sein mögen – früher oder später kommen fast immer Probleme mit dem Körper zum Vorschein; als ob es absolut alltäglich wäre, eine Geschichte über sich selbst zu erzählen, in der die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper eine zentrale Rolle spielt. Wie so viele von uns haben die Menschen, mit denen ich arbeite, den Wunsch, dies oder jenes an ihrem Körper zu verändern, und viele tun es auch. Sie finden ihren Körper mangelhaft und erklären, durch die Behebung dieser ­Mängel würden sie sich wohler und selbstsicherer fühlen.

Wie die meisten von uns glauben sie sich nicht ungebührlich von außen beeinflusst, ja, weisen es weit von sich, für Manipulation empfänglich zu sein. Es mag durchaus sein, dass wir uns gar nicht für besonders trendbewusst in Sachen Mode oder Gesundheit halten, sondern einfach nur davon ausgehen, dass wir uns besser fühlen, wenn wir selbst mit unserem Aussehen zufriedener sind. Und doch ist da ein subtiles Geflecht von äußeren Einflüssen, das auf uns wirkt und ein neues, oft unzufriedenes Verhältnis zum eigenen Körper erzeugt.

Die Auffassung, dass Biologie nicht mehr Schicksal sein muss, wird immer populärer und mit ihr die Einstellung, dass sich da, wo ein (subjektiv so wahrgenommenes) körperliches Problem ist, auch eine körperliche Lösung finden lässt. Doch der Glaube, dass der Körper perfektionierbar ist und wir freudig oder zumindest willig die dazu angebotenen Möglichkeiten nutzen sollten, hat das Problem nicht gelöst. Er hat es im Gegenteil verschärft und das mit hervorgebracht, was wir heute beobachten – einen zunehmend instabilen Körper, einen Körper, der in alarmierendem Maß zum Ort erheblicher Unzufriedenheit und schwerwiegender Störungen wird.

Unser Körper wird immer stärker als ein Objekt erlebt, das es zu bearbeiten und zu optimieren gilt. Männer werden zur Zielgruppe für Steroide, sexuelle Hilfsmittel und speziell auf sie ausgerichtete Diätprodukte.

Kinderkörper sind ebenfalls betroffen. Fotografen bieten heute digital bearbeitete Baby- und Kinderfotos an: Sie korrigieren das Lächeln, entfernen Zahnlücken oder fügen welche ein, begradigen mollige Knie, machen aus kleinen Mädchen ­Porzellanpüppchen. Wenn diese Magier unter Webadressen wie etwa www.pageantphotoretouching.homestead.com firmieren, ist das keineswegs ironisch gemeint, da sie tatsächlich glauben, verschönerte Fotos seien eine Form natürlicher Schönheit. Auf sexy getrimmte ­kleine Mädchen gelten als bezaubernd.

Den Körper auszustellen und ihm ein „attraktives“ Erscheinungsbild zu verleihen wird als vergnüglich, wünschenswert und leicht realisierbar präsentiert. Der schöne Körper und das Streben nach Vervollkommnung sind demokratisiert worden. Indem der richtige Körper als etwas dargestellt wird, das jeder Mensch erlangen kann, egal wo er lebt und in welcher ökonomischen Situation er sich befindet, wird dieser Körper als Mittel propagiert, in ­unserer heutigen Welt „dazuzugehören“.

Die Bilder und Namen globaler Stilikonen werden den Menschen – vor allem den jungen Leuten – in aller Welt eingeprägt. Während einige in der Lage sein mögen, freudig mitzumachen, kann dies die große Mehrheit nicht. Denn die demokratische Idee erstreckt sich nicht auf ästhetische Vielfalt, im Gegenteil, die Schönheits­normen haben sich paradoxerweise in den letzten Jahrzehnten verengt. Das Ideal der Schlankheit – mit ausgeprägten Brustmuskeln bei Männern und großen Brüsten bei Frauen – quält alle, die ihm nicht entsprechen, und selbst diejenigen, die ihm entsprechen, tragen oft eine beklemmende Körperunsicherheit in sich.

Ständige ängstliche Selbstbeobachtung und -kontrolle beherrschen viele Menschen vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Ihre Körper sind in höchstem Alarmzustand. In anderen Zeiten hätte man eine solche Ängstlichkeit als Krankheit bezeichnet, und angesichts der vielen Menschen, die daran leiden, hätte man von einer Epidemie gesprochen. Aber das tun wir nicht. Wir sind – vor allem als Frauen oder Mädchen – selbst so in die ängstliche Beschäftigung mit dem eigenen Körper verstrickt, dass sie uns zur zweiten Natur geworden ist, und wir sie deshalb fast nicht mehr wahrnehmen.

Wenn wir jedoch hinschauen, erkennen wir, dass die ängstliche Beschäftigung mit dem eigenen Körper etwas sehr Beunruhigendes ist, weil sie nahezu das ganze Leben, von der Kindheit bis ins hohe Alter, bestimmt. Wenn Jungen einst den Bewegungskünsten großer Sportler nacheiferten, richtet sich ihr Streben jetzt darauf, auch so ein Sixpack zu haben. Mädchen sind sich heute schon mit vier Jahren auf eine antrainierte Art ihres ­Körpers bewusst und üben vor dem Spiegel aufreizende Posen, die eher gruselig als niedlich sind, und immer mehr Frauen in Altersheimen weisen chronische Ess­störungen auf.

Kaum jemand würde sagen, dass diese Art der Beschäftigung mit dem eigenen Körper allein von äußerem Druck herrührt. Wir erleben den Wunsch nach einem perfekteren Körper als unseren ureigenen Wunsch, und das ist er auch. Aber wie Körper gesellschaftlich gesehen werden, wie über sie gesprochen und geschrieben wird, ist schwer von der Wahrnehmung des eigenen Körpers und fremder Körper zu trennen.

Eine neue Rhetorik von Detoxing, Gewichtstraining, Hautbürsten, Darmspülungen, Körperreinigung jedweder Art greift um sich und veranlasst uns, entschlossen und auf der Hut zu sein, was den eigenen Körper betrifft. Auch Menschen, die sich bisher wenig um Mode oder Gesundheit gekümmert haben, sehen sich plötzlich bemüht, das Richtige für sich zu tun und Verantwortung für ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden zu übernehmen. Das Individuum gilt heute als haftbar für seinen Körper und wird nach ihm beurteilt. „Sich um sich selbst zu kümmern“ ist ein moralisches Gebot. Der Körper wird so etwas wie ein wertvoller persönlicher ­Besitzgegenstand.
Zeitschriften-Features erteilen uns spaltenweise Ratschläge, wie wir am besten für uns sorgen können. Fernsehsendungen widmen sich der Notwendigkeit und der moralischen Wertigkeit individueller Gesundheits- und Schönheitspflege. Politiker drängen uns, Eigenverantwortung zu übernehmen. Unsere visuelle Welt wird von Bildern überflutet, die uns durch die Darstellungsweise des Körpers und seiner Teile raffiniert vermitteln, dass unser ­Körper ständiger Neugestaltung und ­Aktualisierung bedarf. Ohne es auch nur zu merken, kommen wir der Aufforderung bereitwillig nach, weil wir unbedingt up to date bleiben wollen.

Die Fixierung auf Schlankheit und Schönheit, die seit Jahren das Selbstwertgefühl der Einzelnen unterminiert, wird in jüngster Zeit noch durch ein neues Schreckgespenst verstärkt: die steigende Übergewichtsrate. Das normale Ver­trauen darauf, dass der Körper seine Nahrungsbedürfnisse selbst signalisiert, scheint verschwunden, ersetzt durch extreme Wachsamkeit und das verzweifelte Bemühen, einen Körper zu kontrollieren, der jetzt als gefräßig dargestellt wird.

Diätmittelhersteller boomen, und ein Newcomer, NutriSystem, gehört laut ­Fortune zu den 500 schnellstwachsenden Unternehmen, da er in nur zwei Jahren seinen Jahresgewinn von einer Million Dollar im Jahr 2004 auf 85 Millionen steigern konnte. Ständig eröffnen neue Fitness-Gyms und Health Bars, werden neue Nahrungsmittel erfunden. Zeitschriften, in denen es um Gewicht, Figur und Gesundheit geht, steigern ihre Auflage.

Schönheitschirurgische Prozeduren ver­schlingen immer mehr Fernsehsendezeit und (bei einem Wachstum von einer Milliarde Dollar jährlich) immer mehr Geld; suggeriert wird, dass die Umgestaltung leicht und Ausdruck von Selbstwertschätzung ist.

Zu alldem wird auch noch die Fortpflanzung umkonfiguriert: Junge Frauen frieren ­Embryonen für den künftigen Gebrauch ein und haben immer früher Zugang zu In-vitro-Fertilisation, und ein neues Phänomen tritt auf: der Transgender-Mann, der Kinder zur Welt bringt.

Der Spätkapitalismus hat uns aus ­jahrhundertealten körperlichen Praktiken ­hinauskatapultiert, die in erster Linie mit Überleben, Fortpflanzung, der Beschaffung von Obdach und Nahrung zu tun hatten. Heute sind Geburt, Krankheit und Altern zwar immer noch Teil des natürlichen Lebenszyklus, zugleich aber auch etwas, das man durch persönlichen Einsatz unter Nutzung des medizinischen Fortschritts und der zur Verfügung ­stehenden chirurgischen Maßnahmen ­verändern oder stoppen kann. Unser Körper gilt jetzt als unser eigenes Produkt. Wir können ihn auf künstlichem Weg, mit bio-organischen Mitteln oder durch eine Kombination von beidem gestalten. Doch welche Methode wir auch wählen, der Körper ist unsere Visitenkarte, das, was unsere Wachsamkeit und harte Arbeit oder andernfalls unser Versagen und ­unsere Schlamperei signalisiert.

Während einst der Arbeiterschicht-Körper leicht an Schwielen und Muskeln zu identifizieren war, muss jetzt der Mittelschicht-Körper anzeigen, dass an ihm gearbeitet wurde – im Fitness-Gym, durch Yoga oder sonstige Körperpraktiken. Der Körper hat zu demonstrieren, was der/die Einzelne durch fleißiges Üben erreicht hat. Für junge Leute gilt: Tu etwas für dich, oder dir wird etwas angetan. User von sozialen Internet-Netzwerken posten oft extrem unvorteilhafte Fotos von anderen, die dann „gesnarkt“, d.h. mit sarkastischen Kommentaren überzogen werden. Das öffentliche Anprangern von Körpern kam mit der Verbreitung von Bildern übers Internet auf.

Kommerzieller Druck über die Celebrity-Kultur, durch Branding und durch Industrien, die ihren Profit mit der Destabilisierung des spätmodernen Körpers machen, hat unser einstiges Körper­verständnis ausgelöscht. In der westlichen Welt haben Automatisierung, mecha­nisierte Landwirtschaft, vorgefertigte Produkte von Nahrungsmitteln bis zu Häu­sern, motorisierter Transport, Hightech-Kriegsführung etc. einen Großteil der schweren körperlichen Arbeit ersetzt. Wir reparieren auch kaum noch Dinge, da es in der Massenproduktion billiger ist, sie zu ersetzen.

Wo einst Arbeiterkörper durch muskel­bildende körperliche Schwerarbeit geformt wurden, hinterlassen heute schlecht ­bezahlte Jobs im Dienstleistungsbereich und computerbasierte Jobs quer durch die Schichten keine solchen physischen Indikatoren mehr. Ja, viele von uns müssen sich schon gezielt bemühen, sich bei der Arbeit oder während ihres gesamten Tagesablaufs überhaupt noch zu bewegen.

Früher war es ein Privileg der begüterten Schichten, die keine körperliche Arbeit leisteten, sich zum Zeitvertreib und als soziale Kennzeichnung zu schmücken und zu verschönern. Im Zuge einer Modernisierung und Demokratisierung dieser Sitte sind wir heute alle dazu angehalten. Daher beobachten wir etwas Neues. Der Körper ist zu einer Form von Arbeit geworden. Er verwandelt sich vom Produktionsmittel in das zu Produzierende.

Den Fallout dieser Veränderung sehen wir in den Sprechzimmern von Psychotherapeuten, Psychologen, Psychoanalytikern und Ärzten. Hier finden wir immer häufiger das, was ich Körperinstabilität und Körperscham nenne. Es wird immer offensichtlicher, dass unser Körperverständnis auf neue Erklärungen und Theorien angewiesen ist. Ob es um die Bereitschaft und den Wunsch so vieler Menschen geht, die Größe oder Form ihres Penis, ihrer Brüste, ihres Gesäßes oder Bauchs zu verändern; ob wir uns ­bemühen, quälende psychosomatische Symptome zu decodieren, mit Anorexie, Bulimie oder einer der sonstigen Körperdysmorphien umzugehen – das kartesianische und freudianische Konzept des Körpers erscheint heute unzulänglich. Das Psyche-Körper-Verhältnis verändert sich. Orthodoxe psychoanalytische Theorie über die Fähigkeit der Psyche, den Körper zu beeinflussen, reicht nicht mehr aus. In dieser Zeit der Körperinstabilität wird immer klarer, dass der natürliche Körper eine Fiktion ist. Wir müssen dringend neu über den Körper nachdenken.

Wenn man sich in der Welt umschaut und die vielen verschiedenen Arten von Körpersprache und Körperschmuck sieht, wird klar, dass Körper immer Ausdruck einer zeitlichen, geografischen, geschlechtsspezifischen, religiösen oder kulturellen Einbindung sind. Nasen- und Lippenringe, Gesichtsbemalung, Verschleierung, entblößter Bauch, gefärbte Haare, Tätowierungen, absichtlich deformierte Füße, Goldzähne, Beschneidung, lackierte Fingernägel – das alles sind Formen der Kennzeichnung oder Selbstkennzeichnung von Individuen als Mitglieder einer bestimmten Gruppe. Unsere Körper charakterisieren sich durch die Kleidung, den Gang und sonstige Zeichen, die der Gruppe entsprechen, aus der wir kommen, zu der wir gehören oder mit der wir uns identifizieren wollen. Unsere Körpercodes und unser Körperverhalten konstituieren, wer wir sind.

Wir sehen jetzt, dass es in gewisser Weise nie so etwas wie einen „natürlichen“ Körper gegeben hat. Es gab immer nur einen Körper, der sozial und kulturell geformt ist. Meine These lautet: Der derzeitige kulturelle Diskurs über den Körper evoziert eine neue Epoche der Destabilisierung des Körpers und eine neue obsessive Beschäftigung mit ihm, beides induziert durch gesellschaftliche Kräfte und vermittelt in der Familie – dort, wo wir unser Körpergefühl erwerben.

Das heißt nicht, dass wir unsere Körperpraktiken als fremd erleben. Wenn wir unser Fitnesstraining machen, uns frisieren und kleiden, unterstreichen wir, wie wir gesehen werden wollen und wie wir uns selbst sehen. Wir machen uns mit Vergnügen zurecht. Unsere Körperpraktiken werden uns nicht von oben vorgegeben wie eine Art Katechismus, den es zu befolgen gilt. Kulturelle Identität wird in der ganz alltäglichen, elementaren Interaktion zwischen Babys und Eltern vermittelt. Sie ist das Eltern-Kind-Verhältnis. Die Art, wie Babys getragen, gehätschelt, gefüttert werden, wie man mit ihnen spricht und schmust, sich mit ihnen beschäftigt, ist nicht nur ein Set von kulturellen Praktiken, die Mütter, Väter, Kinderfrauen und Großeltern selbst als Kinder absorbiert haben und jetzt weitergeben, sie ist auch entscheidend dafür, wie das Kind seinen eigenen Körper erlebt.

Das war immer schon so und lief bis Anfang der 1970er Jahre weitgehend unreflektiert ab. Jungen, die zu Kriegern erzogen wurden, entwickelten die dazu nötigen physischen und psychischen Eigenschaften; während Mädchen dazu erzogen wurden, brav und sittsam zu sein, still und nett mit übereinandergeschlagenen Beinen dazusitzen. Die Körper nahmen automatisch den entsprechenden Ausdruck an. Körper werden im Säuglingsalter geformt, je nach den gesellschaft­lichen und individuellen Gebräuchen der Familie, in die sie hineingeboren werden, sodass sie zu der Sorte Körper werden, die das vor ihnen liegende Leben erfordert.

Schon Sigmund Freud wies überzeugend nach, dass die Psyche großen Einfluss auf den Körper ausüben kann. Sein Werk hat, auch wenn es anfangs nur zögerlich aufgenommen wurde, unsere Sicht des Verhältnisses und der Interaktion zwischen Psyche und Körper revolutioniert. Freuds Erkenntnisse leiten uns zu Recht seit über einem Jahrhundert, sodass es heute Allgemeingut ist, die Auswirkungen von Stress auf das Immunsystem, das endokrine System und das Verdauungssystem oder auch auf das ­größte unserer Organe, die Haut, zu berücksichtigen. Wir zögern nicht, Ekzeme mit psychischem Stress in ­Verbindung zu bringen. Wir gehen dem Verhältnis zwischen Emotionen, persönlicher Geschichte und den verschiedenen Körpersystemen nach. Vor allem aber hat uns Freud gezeigt, dass die Annahme einer „natürlichen“ menschlichen Sexualität eine irrige Vorstellung ist.

Sexuelles Begehren ist durchtränkt von Konflikten, Wünschen und Fantasien.

In unserer Zeit, so meine These, ist der Körper selbst ein ebenso kompliziertes Feld geworden, wie es zu Freuds ­Zeiten die Sexualität war. Auch er ist geformt und deformiert durch die früheste Interaktion mit unseren Bezugspersonen, den Trägern der Normen und Imperative unserer Kultur, wie der Körper auszusehen und wie man mit ihm umzugehen hat. Die Wahrnehmung eigener körperlicher Mängel und Stärken, das Körperideal und die Körperängste wirken sich auf das Kind aus. In meinem Sprechzimmer wird dieser Niederschlag im kindlichen Körpergefühl und in der Körperinstabilität des Erwachsenen deutlich. Neu und beunruhigend ist aus ­meiner Sicht die Häufigkeit, mit der ­elterliches Körperunbehagen im Kör­pererleben meiner schon erwachsenen Patientinnen und Patien­ten zum Tragen kommt. Was sich da offenbart, ist die Weitergabe unsicherer Körperlichkeit von einer ­Generation an die nächste.

In meiner Anfangszeit als Psychotherapeutin hörte ich das ferne Grollen von Körperunsicherheit aus den Ess- und Körperbildstörungen der Menschen in meinem Sprechzimmer heraus. Ich schrieb darüber, wie in Vorstellungen von Dick- und Dünnsein komplexe gesellschaftliche und individuelle Ideen und Gefühle steckten, die sich nicht direkt zu äußern vermochten. Seit meinem „Antidiätbuch“ und meinem Buch „Hungerstreik“ (1976 und 1986 erschienen) haben sich die Probleme, die ich damals zu beschreiben versuchte, massiv ausgebreitet: Essstörungen und Körperunbehagen sind heute für viele Menschen und viele Familien Teil des Alltagslebens.

Da immer mehr Länder Anschluss an die globale Kultur erlangen, gelten die symbolischen ­Bedeutungen, die Dick- und Dünnsein beigemessen werden, inzwischen sogar in den Köpfen der Menschen, deren Hauptsorge es noch vor kurzer Zeit war, genug zu essen zu bekommen. Heute zeigen „richtige“ Ernährung und die „richtige“ Figur die Zugehörigkeit zur Moderne an; „nicht richtige“ Ernährung und eine „nicht richtige“ Figur hingegen stehen für ein beschämendes Versagen oder für die Ablehnung der Werte, an denen wir uns zu orientieren haben. Dass die Einzelnen wie auch das Kollektiv zunehmend Veränderungen des eigenen Körpers erstreben, deutet darauf hin, dass wir die Entwicklungstheorie – unser Verständnis des Übergangs von der frühen Kindheit bis ins Erwachsensein – mit den Auswirkungen gegenwärtiger gesellschaftlicher Praktiken zusammenbringen müssen.

Die letzten dreißig Jahre haben unser Verständnis dessen, was psychische Konflikte mit dem Körper machen können, ­erweitert. Sie haben deutlich gemacht, dass wir es mittlerweile mit einer Krise des Körpers selbst zu tun haben. Das hat mich dazu gebracht, das gesamte Konzept des Körpers – als eines Organismus, der sich von der Geburt an nach seinen genetischen Vorgaben entfaltet und nur in bestimmten Schlüsselstadien dieser Entwicklung von der Psyche (und der Ernährung) beeinflusst wird – infrage zu stellen. Der Körper ist nicht mehr etwas im Grunde Stabiles. Wir benötigen eine Theorie der körper­lichen Entwicklung, die genauso überzeugend ist wie unsere gegenwärtige Theorie der psychischen Entwicklung. Wenn wir die Psychologie unseres Körpers erst besser verstehen – und da lernen wir viel von Psycho- und Körpertherapeuten, Neuro-Psychoanalytikern und Neuropsychologen –, werden wir zu einer Theorie der menschlichen Entwicklung finden, die die Psychosomatik stärker berücksichtigt. Und wir werden auch genauer nachvollziehen können, in welcher Weise unsere bilder­gesät­tigte Kultur auf den visuellen Kortex einwirkt, und wie dies zu einer rasch fortschreitenden Reduktion der reichen Vielfalt menschlichen Körperausdrucks ­geführt hat. Heute sind einige wenige idealisierte Körpertypen, auf die jeder glaubt hinarbeiten zu müssen, an die Stelle verschiedener Formen von Körperlichkeit ­getreten. Wir laufen Gefahr, die Körpervielfalt einzubüßen.

Dies sind meine klinischen Ausgangspunkte und meine theoretischen Vorschläge. Auf der moralischen Ebene schmerzt und beunruhigt mich die homogene visuelle Kultur, mit der uns Industrien überziehen, deren Profite auf dem Schüren von Körperunsicherheit beruhen und deren Schönheitsterror so viele Menschen schädigt. Millionen kämpfen täglich mit negativen Gefühlen und Scham wegen ihrer körperlichen Erscheinung. Das ist kein triviales Problem, nur weil es ein privater Kampf ist, der sich als Eitelkeit äußern oder fälschlich dafür gehalten werden mag. Es ist weit ernster, als wir zunächst denken, und nur weil es heute so normal ist, sich mit dem eigenen Körper unwohl zu fühlen, spielen wir herunter, wie schwerwiegend solche Körperprobleme sind: Sie sind eine versteckte Gesundheitskatastrophe, die sich nur ansatzweise in den Statistiken über selbstverletzendes Verhalten, Übergewicht und Anorexie zeigt, die sichtbarsten Symptome einer umfassenden Körperunsicherheit.

Die Versuche junger Menschen in Japan oder Fidschi, Saudi-Arabien oder Kenia, ihren Körper umzumodeln, stehen symptomatisch für das Problem des Unwohlseins im eigenen Körper rund um die Welt. Körperhass ist mittlerweile ein westlicher Exportschlager.

Diese Erscheinung der Spätmoderne ist nicht unvermeidbar. Sie ist nicht das einzig mögliche Resultat einer übersättigten digitalen Bilderkultur. Eben jene technischen Mittel, die eine Verengung der Schönheitsnormen hervorgebracht haben, könnten auch so eingesetzt werden, dass sie die breite Vielfalt der Körper widerspiegeln, die die Menschen wirklich haben. Und langfristig wäre es auch für die Style-Industrien nicht nötig, ein verengtes Schönheitsideal zu propagieren. Es könnte diesen Industrien im Gegenteil sogar nützen, Verschiedenheit und Vielfalt zu propagieren und es zu ihrem ethischen Ziel zu machen, das Leiden am eigenen Körper, das so viele Menschen heute plagt, aufzuheben.

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Der Text ist Auszug aus dem neuesten Buch der britischen Psychoanalytikerin („Das Antidiätbuch“) Susie Orbach: „Bodies. Schlachtfelder der Schönheit“ (Arche, 17.90 €),

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Chrystal Renn: Dicker Schöner Stärker

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Kaum zu glauben, dass die Frau mit der wilden schwarzen Mähne, die auf der Prêt-à-porter-Show von Jean Paul Gaultier stolz ihre üppigen Hüften schwingt, nur zwei Jahre zuvor ein ausgemergeltes, lethargisches Mädchen war, das sich ihre ausfallenden Haare morgens büschelweise aus der Bürste klaubte. Eine, deren Mahlzeiten aus "Blattsalat an Fliegenschiss" bestanden; eine, die "zu hungrig war, um zu denken"; eine, die als so ­genanntes Normalgrößenmodel (mit Größe 30) "nur einen Ausdruck kannte: Hirsch, im Autoscheinwerferlicht erstarrt".

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Bestbezahltes Plus-Size-Model der Welt

Heute hat Chrystal Renn Kleidergröße 42 und ist das bestbezahlte Plus-Size-Model der Welt. Und in ihrem Buch "Hungry" erzählt sie ihre Geschichte.

Die beginnt in Clinton, Mississippi, mit einer unberechenbaren Teenager-Mutter auf Drogen, einer fürsorglichen Großmutter (Mom), die in die Bresche springt, und den wunderbar deftigen ­Gerich­ten, die die Urgroßmutter (Grandma) kocht. Sie geht weiter mit einer evangelikalen Schule, auf der "sich die meisten Mädchen in meinem Jahrgang angewöhnt hatten, laut darüber zu sprechen, wie fett und ekelhaft sie seien".

Noch macht Chrystal, die sich für ­Astro­nomie interessiert und den braunen Gurt in chinesischer Kampfkunst hat, nicht mit beim "Fat Talk". Aber die Verunsicherung beginnt. Als sie 14 ist, hält ihr ein Model-Scout ein Foto von Gisèle Bündchen unter die Nase und verkündet: "Das könntest du sein!" Die Bedingung: Ein Hüftumfang von 86 Zentimetern.

Süchtig nach ihrem Laufband

Chrystal hat 109. Sie ist 1,75 Meter groß und wiegt 74 Kilo. "Ich nahm die Weltraumbilder von den Wänden, diese Schwarzen Löcher, Sterne und Quasare, die mich seit der Grundschule begleitet hatten. Jetzt übersäte ich mein Zimmer mit Bildern von Models, die ich aus ­Modemagazinen ausgeschnitten hatte. Ich wachte mitten in der Nacht auf und sah Maggie Rizer, die mich anstarrte."

Ein Jahr später hat Chrystal ihren Model-Vertrag in der Tasche. Sie wiegt 42 Kilo. Die Agentur ist begeistert. Die 16-Jährige dagegen ist süchtig nach ihrem Laufband und ihren kaffeehenkelartigen Hüftknochen. Sie hat Panik vor Kalorien in zuckerfreiem Kaugummi, graue Haut, Atemstörungen und Herzflattern. "Das Klischee besagt, dass Models hirntot sind", schreibt sie. "Aber einige von uns sind bloß am Verhungern."

Die Wende kommt, als sich Chrystals immer noch nicht erwachsener Körper verweigert – und trotz Salat und Acht-Stunden-Schichten auf dem Laufband ­zunimmt. Als ein Fotograf sie (jetzt Größe 34) vor versammeltem Team am Set anschreit: "Wie fett bist du?!" ist die Grenze überschritten. "Ich war dabei, zu sterben. Ich wollte nicht sterben."

Selbstbewusster Geist im gesunden Körper

Dies ist der Beginn von Chrystal Renns Karriere als selbstbewusstes Model mit einem ­gesunden Körper. Und siehe da: Die ­Modewelt – oder zumindest ein Teil – applaudiert. "Zum Glück scheint das Pendel umzuschwingen", konstatiert Renn, "wenigstens ein bisschen".

Die Modebranche ist unter Druck. Spätestens seit im Jahr 2006 innerhalb weniger Monate gleich drei Models verhungerten, regte sich Protest gegen die Skelette auf den Laufstegen. New York, Paris und Mailand sahen sich gezwungen, Richtlinien aufzustellen, wenngleich die neue Pflicht der Veranstalter, den Models hinter der Bühne ausreichend Wasser und Lebensmittel und dafür keine Drogen zu reichen, eher in die Kategorie Maskerade fallen dürfte. Da, wo man das Mode-Universum nicht sich selbst überließ, waren die Ergebnisse effizienter: Auf Geheiß von Bürgermeisterin Esperanza Aguirre verbannte die Madrider Mode­woche alle Models mit einem Body-Mass-Index unter 18. Jedes dritte Model wurde wg. Untergewicht ausgemustert.

Kunstgeschöpfe aus dem Photoshop

Noch wichtiger als die Bilder von den Laufstegen sind die Kunstgeschöpfe aus dem Photoshop: diese endlosen Spinnenbeine in hippen Jeans, diese hyperschmalen Wespentaillen in "körpernahen" Tops, diese grotesk hohlen Wangen unter coolen Sonnenbrillen.

Oder Hüften, die schmaler sind als der Kopf. Wie im Falle von Top-Model Filippa Hamilton, die, nachdem Designer Ralph Lauren ihren Körper für eine Werbeanzeige per Computer geschrumpft hatte, empört die Brocken schmiss. "Junge Frauen schauen das Bild an und denken, es sei völlig normal so auszusehen", klagte sie.

"Wenn Teenager und Frauen diese Bilder sehen, werden sie am Ende unglücklich über sich selbst", befürchtet auch Jo Swinson. Deshalb hat die britische Abgeordnete der ­Liberalen den (Alp)Traumbildern den Kampf angesagt. Sie fordert eine Kennzeichnungspflicht für alle manipulierten Fotos. Einen Erfolg hat Swinson schon zu verbuchen: Ihre liberale Partei hat die Forderung in ihr Wahlprogramm aufgenommen.

In Frankreich ist man schon einen Schritt weiter: Im Mutterland der Mode haben 50 Abgeordnete der Nationalversammlung bereits einen Gesetzentwurf vorgelegt, nach dem die Werbeagenturen verpflichtet werden sollen, per Computer veränderte Körper als Kunstprodukte aus dem Reich der Designerphantasie kenntlich zu machen. Die Tatsache, dass die Initiatorin des Gesetzentwurfs, die Abgeordnete Valérie Boyer, Sarkozys Mehrheitspartei UMP angehört, macht eine Verabschiedung wahrscheinlich – was eine kleine Revolution wäre.

Zeitschriften in Zukunft mit "Normalo"-Frauen?

In Deutschland ist ein "neues Zeitalter" bereits angebrochen: bei Brigitte. Künftig will die Frauenzeitschrift ihre Modestrecken nicht mehr mit professionellen Models gestalten, sondern mit "Frauen, die mitten im Leben stehen". Das hat einen Grund: Just diese Frauen sind Brigitte und ihren Schwesternzeitschriften in Scharen davongelaufen. Die durchschnittliche Brigitte-Leserin ist 48 Jahre alt (zum Vergleich: das der EMMA-Leserin 39), jede vierte Käuferin ist über 60. 40 Prozent dieser Leserinnen verlor das Blatt allein in den letzten fünf Jahren.

"Das muss doch auch mit unserem Umgang mit Mode und Beauty zu tun haben", sinniert Chefredakteur Andreas Lebert. Da könnte was dran sein. Überhaupt sind aus dem traditionell diätbegeisterten Hause Gruner & Jahr neuerdings geradezu systemkritische Töne zu vernehmen. "Hinter dem Beruf des Models steckt die Idee, die Frauen nicht selbst zu zeigen, sondern einen Platzhalter. Das empfinden viele Frauen inzwischen als überholt, zumal die Schönheitsideale, wie sie von der Branche geprägt werden, stark umstritten sind."

Um es mit Chrystal Renn zu sagen: "Am Ende ist Mode ein Geschäft, und der Markt bestimmt, was 'in' ist. Wenn die Leute lauthals nach Kurven verlangen und sich weiter für Models begeistern, die nicht der Norm entsprechen, wird diese Industrie expandieren." Und vielleicht werden ja auch die Auflagen wieder steigen.

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Chrystal Renn: Hungry (Heyne, 17.95 €)

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Gipfel gegen Diätwahn (2/08 Dossier)
Tod auf dem Laufsteg (6/06)
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