Kann aus Hass Liebe werden?

Tochter Sara stellt ihre Mutter Esma zur Rede: Wer ist mein Vater? Sag die Wahrheit!
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Esmas Geheimnis‘, der Film der jungen bosnischen Regisseurin Jasmila Zbanic, hat auf der diesjährigen Berlinale den Goldenen Bären gewonnen. Zu recht. Nicht nur, weil es ein mutiger und wichtiger Film ist, der das Schweigen über ein Tabuthema bricht – sondern auch, weil es ein großer Film ist über Menschen, die versuchen mit den Folgen des Krieges zu überleben.

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Es gibt keine spektakulären Kriegsszenen und auch keine Mystifizierung des „wilden“ Balkans. Nichts von dem, was man von einem bosnischen Film erwartet, keinerlei Bestätigung von Klischees und Vorurteilen. Sarajevo ist eine normale Stadt, es fehlen Ruinen und Kriegstourismus. Die Menschen sind weder blutrünstig noch rachsüchtig, auch wenn ihre Leben zerstört sind: ‚Esmas Geheimnis‘ ist ein weiblicher Film im besten Sinne des Wortes, wenn ich diese Formulierung einmal als Kompliment sagen darf. Er ist mit viel Feingefühl und Respekt vor einem ernsten Thema inszeniert und gespielt: Den Folgen der Massenvergewaltigungen an muslimischen Frauen im Bosnienkrieg. Gleichzeitig geht es in dem Film um Liebe, um Muttersein, um Identität und Lügen.

Esma (die Mutter) und Sara (die Tochter) leben im heutigen Sarajevo. Esma müht sich ab, den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter zu verdienen: mit Nachtschichten in einer Bar, die einem Mafioso gehört – und der üblichen ukrainischen Tänzerin. Sara geht in die Schule und ist zum ersten Mal verliebt. Ihr ganz alltägliches Leben wird immer wieder von plötzlichen Übelkeitsanfällen der Mutter erschüttert: Im Bus fällt ihr Blick auf die haarige Brust eines Mannes mit schwerer Goldkette; Esma wird so schlecht, dass sie aussteigen muss. Ein andermal, als sie spielerisch mit ihrer Tochter ringt, und die ihr die Handgelenke auf den Boden drückt, verliert die Mutter die Fassung.Es sind die Momente, die Esma an die Vergewaltigungen vor dreizehn Jahren im Konzentrationslager erinnern. Darum schluckt Esma Beruhigungsmittel.

Außer diesen wenigen Fetzen erfahren wir nichts über ihre Vergangenheit, keine Rückblenden, keine Gewaltszenen. Dies ist vor allem ein Film über die Nachkriegszeit.

Sara wächst auf in dem Glauben, dass sie die Tochter eines muslimischen Kriegshelden ist, eines Shehid, der im Verteidigungskampf vor Sarajevo fiel. Eines Tages wird ein Klassenausflug geplant. Den Kindern von Shehids werden die Kosten für den Ausflug von der Gemeinde bezahlt, doch Saras Name steht nicht auf der Liste. Esma versucht, das Geld zusammenzukratzen, bettelnd und borgend, die damit verbundenen Erniedrigungen in Kauf nehmend. Aber sie erfährt auch Verständnis: Ihre Kolleginnen sammeln für sie.

Viel schwieriger ist es, Saras Verdacht zu zerstreuen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Denn immer wieder hat Esma neue Ausreden, wenn es darum geht, die Bescheinigung vorzulegen, die beweisen könnte, dass Sara ein Recht auf den Gratis-Ausflug hat. Der Höhepunkt des Dramas ist der Moment der Konfrontation: Als das Kind die Mutter zwingt, endlich die Wahrheit zu sagen: „Du willst die Wahrheit hören? Die Wahrheit ist, dass du der Bastard eines Tschetniks bist!“, schreit Esma in der Szene, die von beiden Schauspielerinnen (Mirjana Karanovic und Luna Mijovic) meisterhaft gespielt wird.

So hart diese Wahrheit auch ist, beide, sowohl Mutter wie Tochter, werden es schaffen, damit fertig zu werden. Sie haben einander und sie haben Freunde. Die Vergangenheit hat beide tief verstört, aber das Leben geht weiter. Und nicht einmal dieses Geständnis wird zwischen ihnen stehen.

So weit der Film. Wenn man versucht herauszufinden, was mit den vergewaltigten Frauen im echten Leben passiert ist, und mit den Geschwängerten, die ihre Kinder behalten haben – dann kann man nur feststellen, dass man nicht viel über sie und ihr Leben erfährt. Vergewaltigte Frauen sind, genau wie im Film, nach dem Krieg kein Thema – noch weniger diejenigen, die ihre Kinder behalten haben. Diese Mütter werden vollkommen allein gelassen mit dem Aufziehen ihrer Kinder, mit ihrem Überlebenskampf. Die einzige Hilfe, die sie bekommen, ist eine Gruppentherapie, die vom Staat, der Gemeinde oder einer ausländischen Organisation bezahlt wird. Ihre Probleme werden auf eine individualpsychologische Ebene reduziert. Ansonsten sind diese Frauen unsichtbar, es gibt sie nicht als eine soziale bzw. politische Kategorie, wie die Kriegsversehrten oder die Veteranen.

Auch die vergewaltigten Frauen in Esmas Gruppe scheinen nicht in die Therapie zu kommen, um zu reden, sondern wegen der Almosen, die sie bei regelmäßigem Erscheinen am Ende des Monats erhalten. Viel reden die Frauen nicht in den Sitzungen, sie singen oder weinen leise, manchmal lachen sie sogar. Es hört ihnen ja sowieso niemand zu, außer den professionellen Zuhörern, die dafür bezahlt werden. Was ihnen bleibt, ist das Schweigen und die Schande.

Nach dem Krieg, in den letzten zehn Jahren, wird Bosnien immer mehr patriarchal – und nicht weniger, wie man es vielleicht hätte erwarten oder zumindest erhoffen können. Der Einfluss des Islam auf die bis vor dem Krieg überwiegend laizistische Gesellschaft wird immer stärker und sichtbarer.

Warum gehen die Frauen in ‚Esmas Geheimnis‘ nur des Geldes wegen zur Psychotherapie? Weil vergewaltigte Frauen nicht als (zivile) Kriegsopfer anerkannt werden und somit noch nicht einmal ein Minimum an Anerkennung und finanzieller Hilfe bekommen. Unnötig zu erwähnen, dass der Fall bei männlichen Kriegsgefangenen anders liegt: Sie bekommen beides.

Offensichtlich werden Vergewaltigungen – sogar Massenvergewaltigungen in eigens dafür vorgesehenen Konzentrationslagern – als ein Privatproblem der Frauen angesehen. Inklusive der Folgen, die sie erleiden müssen, wenn sie die Kinder austragen und behalten. Niemand sagt ihnen ins Gesicht: „Warum hast du das mit dir machen lassen?“ Aber die Haltung den Frauen gegenüber drückt das ohne Worte aus. Das ist nicht nur schmerzhaft für die Frauen selbst, sondern auch überheblich ihnen gegenüber, angesichts der Tatsache, dass es diesen bosnischen Frauen zu verdanken ist, dass ein historischer Wandel stattgefunden hat.

Am 22. Februar 2002 wurden vier Männer im sogenannten „Foca Fall“ vom Internationalen Tribunal Jugoslawien (ICTY) in Den Haag zum ersten Mal in der Geschichte wegen Vergewaltigung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verurteilt. Aufgrund der Verbrechen, die Frauen wie Esma wiederfahren sind, sind Massenvergewaltigungen als „Instrument der ethnischen Säuberung“ eingestuft worden, gezielt eingesetzt von der serbischen Armee, um die Bevölkerung aus bestimmten Gebieten zu vertreiben. Vergewaltigungen wurden immer schon zur Kriegsführung eingesetzt, aber erst seit diesem Urteil werden sie auch juristisch als Verbrechen eingestuft. Die Täter können dafür bestraft werden.

Die Frauen, die als allgemeine Zeuginnen im „Foca Fall“ aussagten und zum ersten Mal in der Geschichte vor einem Menschenrechtstribunal sprachen, wurden zu doppelten Opfern: Opfer des Krieges und Opfer der Nachkriegsgesellschaft. Denn im Frieden müssen sie mit Gleichgültigkeit leben, ja sogar mit Ausgrenzung aus der Gesellschaft.

Seit den Massenvergewaltigungen von 1992 ist eine neue Generation herangewachsen – so manche von ihnen sind Kinder eben dieser Vergewaltigungen. Aber das ganze Phänomen wurde weder dokumentiert noch analysiert. Waren es 20.000 vergewaltigte Frauen, wie es UN-Kommissionen ermittelt haben wollen? Oder sogar 60.000, wie die offizielle Zahl der bosnischen Regierung lautet? Beides sind Schätzungen. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo dazwischen. Und wie viele Kinder gingen aus diesen Vergewaltigungen hervor? Dazu gibt es keinerlei Zahlen, noch nicht einmal Schätzungen. Das ist das vielleicht bestgehütetste Geheimnis dieses Krieges.

Der Film hütet sich davor, mit Zahlen um sich zu werfen, auch versucht er klugerweise nicht, das Thema zu politisieren. Stattdessen berührt er zwei viel elementarere Themen. Das erste ist die Frage der Identität: Bis Sara die Wahrheit erfährt, wächst sie mit einer Lüge über ihren Vater auf, mit einer falschen Identität. Im Film wird dieses Problem auf der symbolischen Ebene gelöst: Sara rasiert sich nach dem Moment der Wahrheit den Kopf, um ihrem Vater nicht mehr ähnlich zu sehen. Sie sagt sich damit von ihm los, akzeptiert die Wahrheit – und geht mit den anderen Kindern als Teil der Gruppe auf Klassenfahrt. Die Wahrheit verändert ihr Leben nicht grundlegend.

Die Frage der Identität wäre um einiges komplizierter, wenn Sara ein Junge wäre. Denn ein Junge könnte in einem zukünftigen Krieg in die Situation geraten, den eigenen Vater auf der feindlichen Seite tatsächlich zu töten, nicht nur auf der symbolischen Ebene. Was soll die Mutter einem solchen Kind sagen? Um des Überlebens willen, für beide, muss die Mutter lügen. Aber eines Tages werden das Kind (und auch die Mutter) der Wahrheit ins Gesicht sehen müssen.

Doch diese Kinder sollten niemals vergessen, dass sie immerhin die Chance bekommen haben, zu leben. Natürlich müssen sie dafür einen hohen Preis zahlen, aber trotz all dieser Probleme sind sie am Leben. Sie haben Mütter, mutige Frauen, die für ihre Kinder die wortlose – und manchmal auch nicht so wortlose – Ablehnung ihrer Gesellschaft ertragen. Die vielleicht profundeste Botschaft des Films ist darum die Kraft der Mutterschaft. Am Ende des Films in der Therapiestunde versucht Esma zu erklären, warum sie ein Baby, das sie nicht wollte, behalten hat. Das Baby hat geschrieen, sagt sie, und sie hat es in den Arm genommen, um es zu füttern: „Nur einmal, nur dieses eine Mal.“ Doch die Hilflosigkeit des kleinen Kindes überwältigte sie; dem Baby konnte sie nicht die Schuld geben für ihr Schicksal, für den Erzeuger, für den Krieg …

„Ich hatte vergessen, dass es so etwas Schönes auf dieser Welt gibt … Sie war so wunderschön!“, sagt Esma. Und sie war ihre Tochter. In diesem Moment wird Esma klar, dass es ganz egal ist, wie dieses Kind gezeugt wurde, und so geht es ja auch manchmal Frauen, die den Vater ihres Kindes kennen und sogar liebten. Sobald eine Frau das Kind auf die Welt gebracht hat, ist es nicht wirklich wichtig, wer der Erzeuger ist. Das Kind ist eine eigenständige Person.
Und während Esma dies im Film erzählt, hatte ich das eigenartige Gefühl, dass dies eigentlich der zweite Teil des Filmes ist. Und dass der erste Teil, der über das, was Esma passiert ist, noch gedreht werden muss.

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