Die arbeitslose Kranführerin

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Bianca Kliese, 40, ist in Brandenburg aufgewachsen, der Stahlstadt der DDR. Ein Job in der Schwerindustrie war für sie vorprogrammiert. Sie erzählt: „Wer dort geboren wurde, der ging ins Stahlwerk. Zuhause bleiben und nur Mutter-Sein ging nicht. Durch diese Arbeit fühlten wir uns, auch wenn sie schwer war, gleichberechtigt. Den Objektstatus, den Frauen im Westen hatten, gab es bei uns nicht. Beruflich standen uns die gleichen Türen offen. Und es herrschte ein anderer Respekt, einfach weil wir Frauen voll in der Gesellschaft integriert und ökonomisch unabhängig waren. Auch gab es keine Standesunterschiede. Ein Schlosser konnte mit einer Ärztin verheiratet sein, ohne dass jemand die Nase rümpfte.“

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Natürlich hatte diese Gleichberechtigung auch Schattenseiten. So manche Frau hätte lieber als Friseurin oder im Büro ­gearbeitet, als sich acht Stunden im Stahlwerk abzurackern, teilweise unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen. Gleichzeitig stießen Frauen, die beispielsweise ihren Meister machen wollten, schnell an die gläserne Decke. Sie mussten zusehen, wie ihre männlichen Kollegen protegiert wurden. Und der doppelte Lebensentwurf – Beruf und Kinder – bürdete nur den Frauen auch die doppelte Verantwortung und Belastung auf. Doch der Beruf gab ihnen Selbstbewusstsein und einen Status in der Gesellschaft.

Keine Frau definierte sich über den Status oder den Beruf ihres Mannes, ihr Job wurde nicht durch die Geburt von Kindern beeinträchtigt. Im Gegenteil, die Versorgung an Kinderkrippenplätzen ­betrug in den 70er und 80er Jahren 100 Prozent. Auch war der Bildungsstand der Frauen in der DDR höher als in der BRD. Bereits 1973 gab es in der Republik zum ersten Mal mehr Studentinnen als Studenten, ein Zustand, den die Bundesrepublik erst 2004 und damit eine Generation später erreichte.

Am härtesten traf die Wende die erste Frauen-Generation – die zur Zeit des Mauerbaus (um 1961) geboren wurde. Sie hatten die DDR positiv erlebt, wie keine vor und nach ihr. Ihre Generation ist es, die es mit voller Wucht erwischte. Viele dieser Frauen wurden nun in Arbeitslosigkeit und Entmündigung katapultiert, weil ­Ausbildung, Studium und Berufspraxis von heute auf morgen nichts mehr wert waren. Ihre Töch­ter wiederum profitierten von der Wiedervereinigung, konnten frei studieren, anerkannte Abschlüsse im neuen System machen und ein neues Leben aufbauen.

„Die DDR war ein Unrechtsstaat, keine Frage. Aber vieles, was nach der Wende, gerade mit den Frauen passierte, war auch Unrecht“, erzählt Bianca Kliese, die heute als Kulturmanagerin und Dozentin arbeitet. In der Tat, nach 1989 gab es Massenentlassungen, aus ganzen Landstrichen wurde die Industrie, und mit ihr alle Jobs, ausradiert. Allein in Leipzig gab es bis 1989 rund 100.000 Arbeitsplätze in der Industrie, 1993 jedoch nur noch 7.000.

Den ländlichen Raum, in dem zuvor das Leben geblüht hatte, und gerade in der Landwirtschaft viel Geld verdient wurde, traf es noch härter. Er zerfiel komplett, starb ab. Viele Frauen, die hier mit einer untypischen Ausbildung in landwirtschaftlichen Berufen arbeiteten, schafften es nie wieder in eine Beschäftigung. Und sie waren meist diejenigen, die zuerst gehen mussten. Übernahmen Firmen aus dem Westen ­Betriebe aus dem Osten, so kam es den neuen Chefs gar nicht in den Sinn, eine Frau als Kranführerin anzustellen. Dieses plötzlich Belächelt-Werden war auch so ein neues Gefühl für die DDR-Frauen.

Viele Frauen waren nun froh, wenn wenigstens einer aus der Familie Arbeit fand, genügsam darüber hinwegsehend, dass dies meist der Mann war. „Es war ein Schock, auf einmal so abhängig vom Ehemann zu sein, nicht mehr selbst über sein Leben bestimmen zu können“, erinnert sich Kliese.

Bianca Kliese, die Frauen in PC-Kursen schult, sagt: „Wenn ich mir überlege, welches Potenzial an Fachwissen, Kompetenz, Arbeitswillen und Einsatzbereitschaft nach der Wende verschenkt wurde, wird mir ganz anders zumute. Die Männergesellschaft hat sich durchgesetzt. Die Situation nach der Wende ist vergleichbar mit der in der BRD nach dem zweiten Weltkrieg. Frauen durften nur so lange in den Männerjobs arbeiten, wie sie gebraucht wurden. Und die Regel ist heute immer noch nicht, dass Frauen Schlosserinnen und KFZ-Mechanikerinnen werden, es ist die Ausnahme. Und das, wo es rund 20 Jahre lang in diesem Land schon einmal der Normalfall war.“

Simone Schubert, Verwaltungsangestellte beim Arbeitsamt in Görlitz, hat nach der Wende den Sturm auf die Ämter miterlebt. „Ganze Berufszweige verschwanden von der Bildfläche, besonders im Kleinhandwerk, das mit der Industrialisierung des Westens nicht mithalten konnte“, ­erzählt die 48-Jährige. „Frauen, die in Goldschmieden, Schneidereien oder ­ähn­lichem gearbeitet haben, standen sofort auf der Straße. Ein guter, sicherer Job, wie ­beispielsweise der Ökonom, war plötzlich überflüssig. Studienabschlüsse waren nichts mehr wert, alles geriet aus den Fugen.“

Frauen um die 30, 35, bestens ausgebildet und hoch motiviert, sahen sich nun mit einer Gesellschaft konfrontiert, die es ­„unweiblich“ fand, wenn Frauen einen Blaumann trugen und Kinder staatlichen „Verwahranstalten“ überlassen wurden. „Das alles hat das Selbstverständnis dieser Frauen für immer verändert“, sagt Schubert. „Dieses Gefühl der Entmündigung gab es vorher nicht. Aber eine Beobachtung war auch, dass viele nach dem Prinzip Augen-zu-und-durch gehandelt haben. Da waren Frauen meist flexibler als ihre ­Männer, haben sich auf Jobs unter ihrem ­Niveau eingelassen und wirklich Kampfgeist gezeigt.“ Auch nutzten viele Frauen die Solidaritätsprojekte westdeutscher Frauenverbände, die Weiterbildungen und Kurse anboten. In vielen Städten entstanden Frauengruppen und -initiativen, von denen einige auf Frauen(friedens)gruppen der 80er Jahre zurückgehen.

Das Selbstverständnis und der Wille der DDR-Frauen, für den eigenen Lebensunterhalt und den ihrer Kinder eigenverantwortlich zu sorgen, kollidierte aufs Schärfste mit dem verengten Arbeitsmarkt und dem plötzlichen Wertewandel. Am stärksten traf Frauen dabei das Stigma der „Rabenmutter“, das sich bis heute hält. Immer wenn im Osten ein totes Baby gefunden wird, ist es die DDR-Sozialisation, die Mütter zu Mörderinnen werden ließ. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer sprach unlängst sogar von „einer leichtfertigeren Einstellung zu werdendem Leben in den neuen Ländern“, und Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm von einer „durch die SED erzwungene Proletarisierung“. Studien, die belegen, dass Kinder, die früh in Gruppen sozialisiert werden, sowohl ein höheres Bildungsniveau als auch eine höhere Sozialkompetenz erreichen, werden nur zu gern ignoriert.

Die Müttergeneration der DDR ist heute um die 50 Jahre alt und stellt einen beträchtlichen Anteil der SozialhilfeempfängerInnen. Doppelte Ironie ist hierbei Vorwurf Nummer zwei, der genau diesen Frauen unterstellt, durch ihre hohe Motivation zur Berufstätigkeit die Arbeitslosenstatistik in die Höhe zu treiben. Dass viele Frauen dieser Generation in Wahrheit ganz aus dem Arbeitsmarkt gefallen sind, das wurde erst 2004 mit dem Hartz-Konzept zur Reform des Arbeitsmarktes öffentlich. Von da an waren diese Frauen noch nicht einmal mehr krankenversichert.

„Der Westen wusste nicht, welche Rolle diese Frauen gespielt haben, und es hat ihn auch nicht weiter interessiert“, ­erklärt Winfried Hoffmann, der Leiter des Projektes „Aktiv für Arbeit“ in Belzig. Er bemüht sich darum, Menschen ab 50 wieder in den Beruf zu bringen. Ein schwieriges Unterfangen, gerade im Osten und besonders auf dem Land. „In den ersten Jahren nach der Wende war ich regelrecht geschockt. Ich habe Frauen in ­Rabatten arbeiten sehen, von denen ich wusste: Das sind topausgebildete Diplom-Ingenieurinnen“, sagt Hoffmann.

Was bleibt ist Perspektivlosigkeit. Die Frauengeneration 50 plus erfährt eine doppelte Ausgrenzung auf dem Arbeitsmarkt: nicht nur nach Geschlecht, sondern auch nach Alter. Zu Beginn der 90er Jahre lag die Altersgrenze der Frauen, die aus Altersgründen entlassen wurden, bei rund 50, heute liegt sie bei 40, teils darunter. Die Vermittlungschancen in den ersten Arbeits­markt sinken im Osten etwa ab dem 40. Lebensjahr, im Westen ab dem 50.

Der gesamtdeutsche Arbeitsmarkt ­rekrutiert immer jüngere Altersgruppen, vorrangig im Osten, wo die Arbeitslosigkeit und damit auch die Auswahl generell größer sind.

Doch was erstaunlicherweise noch immer fehlt, ist eine Sensibilität für Benachteiligung wg. Geschlecht. Die Frauenbewegung der Bundesrepublik hat hier für Aufklärung gesorgt, Frauenpolitik in die Wege geleitet, es aber nie in den Osten geschafft. In soziologischen Umfragen stufen sich junge Ost-Bürgerinnen bis heute als vollkommen gleichberechtigt ein und realisieren erst bei Familiengründung, dass sie eben nicht die gleichen Chancen haben. Dabei finden sie oft trotz besserer Studienergebnisse schwerer einen Job als ihre männlichen Kollegen. Die so genannten Statuspassagen, die Übergänge von der Schule oder vom Studium in den Beruf, machen ihnen zu schaffen.

Wie die aktuelle Studie zur Chancengleichheit des Deutschen Gewerkschaftsbundes belegt, erhalten junge Frauen besonders im Osten weniger Geld, schneiden beim Überstundenausgleich und der Zahl der Urlaubstage deutlich schlechter ab als Auszubildende in männlich dominierten Berufen.

Nicht nur die resignierte Frauengeneration 50 plus, sondern auch ihre optimistischen Töchter sind also von der doppelten Benachteiligung betroffen: Frau und Ossi.

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