Ärztinnen auf dem Vormarsch

Die deutsche DÄB-Delegation auf dem Kongress des Weltärztinnenbundes in New York.
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Als Hermine Edenhuizen ihrer Familie im ostfriesischen Pewsum verkündet, dass sie Abitur machen und Ärztin werden wolle, hält ihr Vater, ein Landarzt, sie für krank und stellt sogleich die Diagnose: „Überspannt“ sei sie, und dieser absonderliche Wunsch ein klares Zeichen von „Hysterie“. Wir schreiben das Jahr 1892 und in Anbetracht der Tatsache, dass Frauen im Deutschen Reich weder Medizin noch überhaupt irgendetwas studieren dürfen, ist das Vorhaben der 20-jährigen Arzttochter in der Tat zumindest verwegen.

Doch immerhin: Eine Handvoll Ärztinnen gibt es schon. Zum Beispiel Franziska Tiburtius und Emilie Lehmus, die 1876 in einer Berliner Hinterhof-­Wohnung die erste „Poliklinik weiblicher Ärzte für Frauen und Kinder“ eröffnet haben. Sie haben in Zürich studiert, wo das Medizinstudium seit 1864 auch weiblichen Studenten offensteht. Die deutschen Kollegen verweigern den beiden Ärztinnen die Approbation, aber die Patientinnen kommen trotzdem in Scharen.

Hermine setzt sich durch. Schon bald wird sie Geschichte schreiben.

Sie geht nach Berlin – obwohl der Pfarrer von Pewsum eindringlich vor dem „Sündenbabel“ warnt – und besucht dort einen Mädchen-Gymnasialkurs. Lehrerin: die Frauenrechtlerin Helene Lange. Hermine macht als eine der ersten Frauen in Deutschland das Abitur und beginnt 1898 ihr Medizinstudium, mit einer Sondergenehmigung. 1903 legt sie ihr Examen inklusive Doktorarbeit ab, summa cum laude. Sechs Jahre später wird die Friesin nach einer Facharztausbildung in Bern, Dresden und Freiburg, Deutschlands erste „Fachärztin für Frauenkrankheiten und Geburtshilfe“.

Als sie 1912 den Internisten Otto Heusler heiratet, hat sie die Hellsichtigkeit, einen Ehevertrag abzuschließen, der ihr eine „uneingeschränkte Berufstätigkeit“ garantiert. Und als sich am 25. Oktober 1924 der „Bund deutscher Ärztinnen“ gründet, wird Hermine Heusler-Edenhuizen ­dessen erste Präsidentin.

In der ersten Ausgabe der Verbandszeitschrift Die Ärztin erklären die Medizinerinnen diplomatisch ihr Ansinnen: „Wie die Mutter in der Familie die härtere Art des Vaters ergänzt zu schöner ­Harmonie, so möchten wir, dass künftighin auch im Volksleben das bisher ausschließlich männliche Prinzip einen Ausgleich erfahre durch größere Mitarbeit von mütterlichen Frauen. Und in Berufen, die ihrer mütterlichen Einstellung besonders liegen, wie unseres ärztlichen, möchten wir, dass sie nicht die Art des Mannes nachahmen, sondern immer darauf bedacht sei, ihre eigene Art zu geben. Mit demselben Wissen und Können ergänzt sie dann, was in der Arbeit des Mannes fehlt.“

Ob diese „mütterlichen“ Töne damals die neue Konkurrenz fürchtenden Ärzte beschwichtigt haben mögen?

Natürlich klingt das heute, anno 2019, anders. Nämlich so: „Der Deutsche Ärztinnenbund tritt für gleiche Karrierechancen von Ärztinnen ein und ermutigt sie, Führungspositionen einzunehmen.“ Oder so: „Wir fordern flexible Arbeitszeiten, zusätzliche Kita-Plätze und Veränderungen hin zu einem modernen Rollenmodell, in dem auch Väter Verantwortung für ihre Kinder übernehmen.“ Oder auch so: „Gesundheitspolitisch behält der Deutsche Ärztinnenbund die geschlechts­spezifischen Aspekte der Medizin im Blick. Auf diesem Gebiet wollen wir mitgestalten und unsere Expertise einbringen.“

Zeiten ändern sich. 95 Jahre liegen zwischen diesen beiden Postulaten. 3.400 Ärztinnen gab es 1924 im Deutschen Reich, anno 2019 sind es mehr als 50 mal so viele: 185.000 Ärztinnen sind in Deutschland berufstätig, in Praxen oder Kliniken, damit ist knapp jeder zweite der 392.000 ÄrztInnen weiblich. Zwei von drei Medizinstudenten sind Studentinnen.

Der Arzt ist auf dem besten Weg, ein „Frauenberuf“ zu werden. Was sicher auch damit zu tun hat, dass der Verdienst nach diversen Gesundheitsreformen nicht mehr ganz so üppig ist wie früher. Aber auch damit, dass die Ärztin heutzutage beliebter ist als der Arzt. Laut einer Studie der Charité gehen Ärztinnen „partnerschaftlicher“ mit ihren PatientInnen um. „Sie stellen mehr Fragen und geben mehr Informationen.“

Als Hermine Edenhuizen den tollkühnen Gedanken fasste, Ärztin werden zu wollen, rannten sie und ihre Kolleginnen noch gegen Wände aus unverhülltem Frauenhass. „Frauen sind für das Medizinstudium wegen ihrer schwachen Konstitution und ihrer intellektuellen Minderbegabung – schließlich haben sie eine geringere Gehirnmasse als Männer – ungeeignet. Außerdem wird ihr Zart- und Schamgefühl im Seziersaal verletzt, und eine Frau im Operationssaal kann nur Heiterkeit erregen”, erklärte der Medizinhistoriker Julius Pagel. „Man hielt die Frau ernsthaft für geistig minderwertig“, schreibt Hermine Heusler-Edenhuizen in ihren Lebenserinnerungen. „Als Argument wird beispielsweise die ‚Unzurechnungsfähigkeit‘ der Ärztinnen während der Menstruation angeführt.“

Sowohl Franziska Tiburtius, Emilie Lehmus wie auch Hermine Heusler-Edenhuizen, die bei den beiden Berliner Ärztinnen ein Praktisches Jahr absolvierte, bevor sie selbst ihre Praxis eröffnete, waren engagierte Frauenrechtlerinnen. Sie behandelten Fabrikarbeiterinnen, Dienstmädchen und andere mittellose Frauen „bis in die sinkende Nacht“, sie setzten sich für die kostenlose Abgabe von Verhütungsmitteln ein (die damals noch verboten waren) und kämpften für die Streichung des § 218. „Die Zahl der Frauen, die er in Not stürzt, ist unbegrenzt“, erklärte Hermine Heusler-Edenhuizen. Sie kämpfte auch gegen das Kindbettfieber, an dem auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer noch zahllose Wöchnerinnen starben, weil die „Halbgötter in Weiß“ nicht wahrhaben wollten, dass sie es waren, die die Keime von einer Gebärenden zur nächsten übertrugen.

1933 war es mit dem Aufbruch der Ärztinnen vorbei. 300 von 900 Mitgliedern des Bundes deutscher Ärztinnen wird aufgrund des „Arier­paragraphen“ die Zulassung entzogen. Die Nationalsozialisten machen dem Verband klar, dass man von ihm den Ausschluss der jüdischen Mitglieder erwarte. Im Juni 1933 leistet der Bund deutscher Ärztinnen – wie viele, aber nicht alle Frauenverbände – der Aufforderung Folge. Leider. Ein Teil der Ausgestoßenen flieht ins Exil, viele werden im KZ ermordet. Doch vor der Auflösung rettet der Kniefall vor den Nationalsozialisten den Ärztinnen-Verband nicht. Ab dem 1. April 1936 ersetzt die Reichsärztekammer sämtliche berufsständische Vereinigungen.

Nach 1945 macht die Bundesrepublik da weiter, wo die Nazis aufgehört haben. Auch unter Adenauer wird unverheirateten Ärztinnen die Kassenzulassung verwehrt. Begründung: Sie hätten schließlich keine Familie zu versorgen. Verheiratete Frauen bekommen die Zulassung aber auch nicht. Begründung: Das Einkommen ihrer Männer reiche schließlich aus. Die bayerischen Ärztinnen sind die ersten, die gegen das Quasi-Berufsverbot aufbegehren. 1947 gründen sie den Bayerischen Ärztinnenbund als „Kampf-Organisation“. 1950 tun sich schließlich Medizinerinnen in ganz Westdeutschland zum Deutschen Ärztinnenbund zusammen.

In der DDR mit ihren so selbstverständlich berufstätigen Frauen und der ebenso selbst­verständlichen Kinder­betreuung ha­ben Ärztinnen nach 1945 weitaus weniger Probleme. Bald ist hier jeder zweite Arzt weiblich, bei den Hausärzten sind es sogar zwei von drei.

Im Gesamtdeutschland anno 2019 verdienen Ärztinnen laut Stepstone-Gehaltsreport jährlich rund 22.000 Euro weniger als ihre männlichen Kollegen. Das liegt auch daran, dass sie sich häu­figer schlechter honorierte Fachgebiete wie ­Allgemeinmedizin oder Kinderheilkunde aus­suchen und sich außerdem mehr Zeit für ihre Patientinnen und Patienten nehmen. Eine weitere Ursache für den krassen Gender Pay Gap in der Medizin ist, dass Ärztinnen mit Blick auf ihre Familie „weniger Bereitschaftsdienste leisten“, erklärt Dr. Christiane Groß, die Präsidentin des Ärztinnenbundes. Fazit: „Wir brauchen Kinder­betreuung, und zwar nicht nur von neun bis vier, sondern auch nachts, insbesondere für Notfälle, wenn die übliche Betreuung ausfällt.“

Christiane Groß weiß aus eigener Erfahrung, wie das in den Mediziner-Familien läuft. Während ihr Mann als Physiologe in einem Pharmaunternehmen die Familie ernährte, brach sie ihre Facharzt-Ausbildung zur Gynäkologin ab, weil sie sich um die beiden gemeinsamen Kinder kümmerte. Kinderbetreuung war damals noch schwieriger zu organisieren als heute und die Weiterbildung in Teilzeit nicht möglich. (Inzwischen haben Ärztinnen, viele davon aus dem Ärztinnenbund, auf den Deutschen Ärztetagen erkämpft, dass Facharzt-­Ausbildungen auch in Teilzeit absolviert werden können.) Heute arbeitet sie in Wuppertal als ­Therapeutin in eigener Praxis.

Ergo fordert der Ärztinnenbund: 24-Stunden-­Kitas an Kliniken, Teilzeit-Modelle, Job-Sharing. Und zwar für Ärztinnen und Ärzte, denn „auch immer mehr Männer wollen teilen“, weiß Präsidentin Groß aus einer Untersuchung, die der Ärztinnenbund initiiert hat. Das tut der Verband öfter, denn: Ohne gründliche Anamnese keine Diagnose und ohne Diagnose keine Heilung. So gab es „bis 2016 keine Zahlen über Frauen auf den Lehrstühlen der Unikliniken, das muss man sich mal vorstellen“, sagt Christiane Groß. Auch hier sorgte der Ärztinnenbund mit seiner Studie „Medical Women On Top“ für Aufklärung. Resultat: Jeder dritte Oberarzt ist heute weiblich, aber nur jeder zehnte Chefarzt. Die meisten Professorinnen gibt es in der Kinderheilkunde, wo jeder sechste Lehrstuhl mit einer Frau besetzt ist. Schlusslicht ist die Urologie mit nur einer weiblichen Professur. An drei der 34 Unikliniken gibt es keine einzige Medizin-Professorin.

Das ist auch deshalb schlecht, weil „wir Vor­bilder für Frauen in Spitzenpositionen brauchen“, sagt die Präsidentin. „Denn es ist in der Medizin wie in der Wirtschaft: Frauen müssen mehr ­leisten, sie werden viel kritischer beurteilt und sie beurteilen sich selbst kritischer.“ Der Ärztinnenbund hat mehrere Therapieansätze. Zum Beispiel sein MentorinnenNetzwerk oder die Auszeichnung besonders umtrie­biger Kolleginnen als „Mutige Löwin“. Vor allem aber: „Wir brauchen die Quote! Sonst dauert es noch Jahrzehnte, bis wir bei den Führungsposi­tionen Parität erreicht haben.“

Und dann ist der Ärztinnenbund natürlich auch ganz vorne dabei, wenn es darum geht, die so genannte Gender-Medizin zu pushen. Zwar hat sich so manche Erkenntnis inzwischen herum­gesprochen. Zum Beispiel, dass die Symptome für einen Herzinfarkt bei Frauen andere sind als bei Männern und sie deshalb früher häufig über­sehen wurden. Oder dass auch Männer sehr wohl an der „Frauenkrankheit“ Depression leiden, was ebenfalls nicht ins Geschlechter-Raster passt und deshalb bis heute häufig unerkannt bleibt. An der Berliner Charité gibt es inzwischen das „Institut für Geschlechterforschung“ in der Medizin und das Robert-Koch-Institut hat die Arbeitsgruppe „Geschlecht und Gesundheit“ und kommt zu interessanten Schlüssen. Zum Beispiel: „Je stärker Männer sich in traditionellen Rollenmustern bewegen, umso schlechter geht es ihnen.“

Doch der Ärztinnenbund wollte es auch diesmal genauer wissen und forschte nach, ob und in welchen Fächern die Gender-Medizin im Medi­zin­studium gelehrt wird. Diagnose: „In der Kardiologie und in der Pharmakologie sieht es schon ziemlich gut aus“, sagt Präsidentin Groß. „Aber es gibt immer noch viele Fächer, in denen der geschlechtsspezifische Blick kaum Thema ist.“ Ein Grund dafür könnte sein: „Die Gender-Medizin gilt als ‚Frauenthema‘. Wenn ich darüber einen Vortrag halte, verirrt sich nur manchmal ein Mann ins Publikum.“

Dabei hatte schon Hermine Heusler-Edenhuizen gewusst, dass eines ein schwerer Fehler war: das „Männerhirn als Norm zu setzen“.

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