„Die Russen sahen anders auf die Zeit"

Nina Hoss über "Anonyma", den Einfluss ihrer Eltern, und ihr Leben zwischen Film und Theater. © laif
Artikel teilen

Alice Schwarzer: Nina, Sie sind jemand, der sich auf seine Rolle auch intellektuell einstimmt. Wie haben Sie sich auf "Anonyma" vorbereitet?
Nina Hoss: Ich habe erst mal ganz viel gelesen. Das Buch von Anonyma, Berichte über den Krieg, den Russlandfeldzug.

Anzeige

Der Film zeigt die Russen, hier die Täter, sehr differenziert. Er thematisiert auch die Schuld der Deutschen.
Das war neu für mich. Dass die SS und die Wehrmacht 27 Millionen Russen umgebracht hatten. Das alles hatten die russischen Soldaten auf dem Weg nach Berlin ja gesehen, ihr Weg hatte sie durch niedergebrannte Dörfer, gesprengte Städte und verwüstetes Land geführt. Das war mir bis dahin so nicht klar gewesen.

Obwohl Sie doch aus einem politischen Elternhaus kommen.
Da haben wir uns vielmehr mit dem Holocaust beschäftigt. Das war das zentrale Thema. Aber dieser Vernichtungsfeldzug an der Ostfront … Genau das fand ich auch an dem Tagebuch von Anonyma so spannend. Auch sie war offensichtlich überrascht von den Russen, die oft so gar nicht dem Klischee entsprachen. Und obwohl sie fünf Minuten vorher vergewaltigt worden war, setzte sie sich hin und reflektierte darüber in ihrem Tagebuch. Trotz ihrer absoluten Verzweiflung und ihrem Ausgeliefertsein denkt sie jetzt zum ersten Mal auch über die anderen nach. Wäre das nicht so gewesen, hätte man den Film gar nicht machen dürfen. Man hätte nicht nur von den deutschen Opfern sprechen dürfen.

Sie haben einmal gesagt: "Ich möchte beim Spielen meine Figuren nicht verraten." Anonyma nun ist eine sehr ambivalente Figur. Man sieht am Anfang die mondäne Berliner Journalistin, wie sie mit ihrem Offizier und dessen Freunden noch kurz vor Schluss mit Champagner auf den Endsieg anstößt – von dem sie überzeugt zu sein scheint.
So eine nicht eindeutig gute, aber auch nicht eindeutig schlechte Figur ist natürlich das Spannendste für eine Schauspielerin. Gerade das hat mich an Anonyma interessiert. Denn ich konnte es vorher nie nachvollziehen, wie ein halbwegs intelligenter und informierter Mensch der Idee aufsitzen und dieser Propaganda bis zum Ende folgen konnte. Als der russische Offizier sie fragt: Sind Sie Faschistin? – da antwortet sie nicht. Auch sie macht einen Prozess durch. Denn die Russen, denen sie nun begegnet, sind so ganz anders als das Bild, das sie von ihnen hatte. Obwohl sie ja eine weitgereiste Journalistin war.

Sie waren dann ja auch als Schauspielerin in Ihrer Rolle der Anonyma konfrontiert mit dem Darsteller des Offiziers, Evgeny Sidikhin, ein berühmter Schauspieler in Russland.
Das war gar nicht so einfach für mich. Nicht nur, weil die Russen anders an ihre Rolle rangehen, sie improvisieren sehr stark. Aber man merkte auch, dass sie einen ganz anderen Blick auf diese Zeit haben. Jeder Darsteller hatte in seiner Familie einen Vorfall aus der Zeit … Und bis heute ist für die Russen sehr wichtig, dass sie die Deutschen zurückschlagen konnten.

Haben sich bei diesem Film Rolle und Leben manchmal überschnitten?
Genau. Wir Deutschen mussten während der Dreharbeiten immer austarieren, was wir wie sagen – damit es nicht zum Eklat kommt. Und dann diese Stimmungsschwankungen der Russen: mal ganz überbordend – und dann wieder ganz weich. Da habe ich gedacht: Ja, so muss das damals auch gewesen sein …

Und die sexuelle Gewalt, die ja das zentrale Thema des Films ist?
Ich habe mir zur Vorbereitung meiner Rolle eine Dokumentation über den Jugoslawienkrieg angesehen mit Frauen, die den Mut hatten, darüber zu sprechen. Die Art und Weise, wie sie das getan haben, hat mir geholfen zu verstehen. Diese Erniedrigung. Dass man niemand mehr ist, nur noch ein Stück Fleisch – das dann weggeworfen wird. Die Erfahrung, dass man seelisch und körperlich so beschmutzt wird, das verursacht diese tiefe, unüberwindbare Wunde. Das Entsetzen ist groß … Frauen gehen unterschiedlich damit um. Manche werden verrückt, manche eiskalt. So wie Anonyma.

Die sich, gegen die vielen Vergewaltiger, einen Beschützer unter den Russen sucht.
So ist es. Manche werfen diesem Buch ja Kälte vor. Was ich überhaupt nicht verstehe. Vor der Kälte kommt ja das Entsetzen. Ich kann nicht jeden Tag von zwanzig Männern vergewaltigt werden. Entweder ich gehe zugrunde – oder ich tue etwas. Sie hat gehandelt. Aber im Buch stehen auch Sätze wie: Habe wieder stundenlang geweint … und jetzt gehe ich Holz suchen. Was heißt das denn: Habe wieder stundenlang geweint? Wie verzweifelt ist die Frau, dass sie stundenlang weint? Das kommt in dem Film ein wenig zu kurz: ihre abgrundtiefe Verzweiflung. Da steht eher das Handeln im Vordergrund.

Dem Film ist vorgeworfen worden, er würde die Beziehung verklären, die letztendlich zwischen Anonyma und ihrem Beschützer Andrej entsteht. Der Film würde aus einem Zweckbündnis in höchster Not eine romantische Geschichte machen.
Da ist was dran. Der Film stellt das Verhältnis zwischen den beiden von ihrer Seite her sentimentaler dar, als es im Buch beschrieben ist. Andererseits hat sie Freundinnen gegenüber durchaus von ihrer Zuneigung zu Andrej gesprochen. Das wissen wir.

Vermutlich gab es, wie immer, auch 1945 eine breite Palette: von der rohen Vergewaltigung durch die Soldaten, über das sich Anbiedern der Frauen bei den Siegern – für ein Stück Brot oder zum Schutz etc. – bis hin zu zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen diesen Frauen in den Trümmern von Berlin und diesen Überlebenden eines infernalen Krieges.
Genau. Und dennoch waren die Vorzeichen natürlich letztendlich unüberwindbar. Ich habe Anonymas Beziehung zu Andrej nie wie eine Liebesbeziehung gespielt – sondern eher wie die Annäherung zwischen zwei Feinden, die allmählich entdecken, dass sie auch Menschen sind. Und die, zunächst wider Willen, voneinander beeindruckt sind. Er ist eben kein russischer "Untermensch", sondern ein Mensch mit der gleichen Bildung wie sie, der Schubert spielt. Durch sie kommt dieser Mann vom Soldatsein wieder runter, hin zum Menschsein.

Die Frauen, die in dem Film dargestellt werden, diese Frauen leben zum Teil ja noch. Auch und gerade hier in Berlin. Sehen Sie diese Frauengeneration jetzt mit einem anderen Blick?
Ja. Ich frage mich heute: Was ist mit denen passiert? Und wo haben sie es hingesteckt? Sie durften ja nie darüber reden. Es häufen sich in letzter Zeit diese Berichte über alte Frauen in Altersheimen, die plötzlich Angstzustände bekommen – und keiner weiß, warum. Auch das war mir nicht klar: dass nie darüber geredet werden durfte. Bis heute nicht.

Vielleicht sollten wir das endlich tun! Eigentlich müsste gerade so ein Film begleitet werden von einem Rahmenprogramm mit Diskussion und Hilfsangeboten.
Da haben Sie total recht! Das fände ich auch gut. Ist aber nicht vorgesehen …

Soll sich EMMA für den Zeitpunkt der TV-Ausstrahlung mal kümmern? Wären Sie dabei?
Ja, das wäre ich! Das fände ich nicht nur spannend, das sind wir diesen Frauen, die all das überlebt haben, doch auch irgendwie schuldig.

Es waren vor allem Linke, die das Thema Vergewaltigungen in und nach dem Zweiten Weltkrieg im Namen der deutschen Schuld in der Bundesrepublik jahrzehntelang zum Tabu erklärt haben. Als würde ein Verbrechen das andere rechtfertigen, ein Leid gegen das andere aufzurechnen sein. Schon vor Monaten hat zum Beispiel der Journalist Willi Winkler in der Süddeutschen Zeitung Ihrem Film, den er da noch gar nicht gesehen haben konnte, vorgeworfen, im Geiste der alten Nazi-Propaganda gegen die Russen gemacht zu sein.
Das kann ich gar nicht nachvollziehen. Doch die Leugnung der Sexualgewalt gegen Frauen scheint in der DDR nicht anders gewesen zu sein. In einer Biografie über Inge Müller, die erste Frau von Heiner Müller …

… und eine bekannte Dichterin …
… gibt es so eine Szene. Auch sie ist vergewaltigt worden, geht in eine der ersten Versammlungen der Kommunisten und sagt: Das ist ein Thema, das alle Frauen hier betrifft. Wir müssen darüber reden! Und dann wird ihr geantwortet: Das ist Propaganda, da ist doch überhaupt nichts passiert. Die Russen sind unsere Befreier, unsere Freunde. Und überhaupt: Was uns als Soldaten im Feld passiert ist, das war viel schlimmer. Auch heute, bei den Interviews zum Film, kriege ich zu hören: Ja, aber wenn die Frauen damals schweigen wollten, muss man das dann nicht respektieren? Das macht mich fassungslos. Wo müssen wir denn da anfangen, wenn wir das immer noch verleugnen? Dasselbe passierte auch nach dem Jugoslawienkrieg oder jetzt im Kongo, wo ja Medica Mondiale versucht zu helfen. Gegen viele Widerstände. Es gibt einfach keine Plattform für die Opfer sexueller Gewalt. Die Männer wollen das bis heute nicht wahrhaben.

Und die Frauen konnten nicht darüber reden. Aber sie haben es ohne Worte an ihre Töchter weitergegeben. Und an die Söhne.
Mir ist aufgefallen, dass die Enkelgeneration sehr interessiert reagiert. Die jungen Leute wollen verstehen. Zum Beispiel, warum die Großmutter die Russen so gehasst hat – oder in anderen Regionen die Amerikaner.

Wobei es im amerikanischen Sektor wegen des strikten Vergewaltigungsverbotes eher über die Prostitution der "Fräuleins" lief …
Auch ein schmerzliches und verschwiegenes Kapitel.

Als wir telefoniert haben, Nina, um uns zu verabreden, haben Sie gesagt, mein Buch über Romy Schneider habe Sie sehr beschäftigt. Sie beide haben in der Tat einiges gemeinsam: Die Leidenschaft und Disziplin, mit der Sie sich mit Ihren Rollen auseinandersetzen. Und die Kritik an der Hierarchie in Film und Theater, die einhergeht mit der Verachtung für die Schauspieler und vor allem die Schauspielerinnen.
Die Sehnsucht nach Bestätigung und Liebe ist bei Frauen ja stärker als bei Männern. Und das kann ein nicht verantwortungsvoller Regisseur ganz schön ausbeuten.

Doch zwischen Ihnen und Romy gibt es auch Unterschiede.
Ein großer Unterschied ist, dass ich ganz anders aufgewachsen bin. Ich konnte mich mit meiner Mutter und meinem Vater auseinandersetzen. Das war ein Vater, der mit der Frauenbewegung aufgewachsen war, und sich auch darauf eingelassen hatte. Dennoch ist Romys Sehnsucht nach einem Ruhepunkt für mich absolut nachvollziehbar. In diesem Beruf muss man ja permanent in andere Identitäten schlüpfen, und da kann das eigene Leben zum Ballast werden. Wenn man dann keine Stabilität hat, kann einen das komplett verwirren. Daher auch die Sehnsucht Romys nach einer heilen Familie. Auch ich sehne mich danach – aber mit allen Fürs und Widers. Ich träume nicht von der perfekten Beziehung. Aber Romys Verunsicherung kann ich nachvollziehen. Wir müssen uns in unserem Beruf ja immer wieder infrage stellen. Wie auch ich jetzt wieder, wo ich am Theater probe. Wie oft sage ich mir: Wie komme ich eigentlich auf die Idee, diese Rolle spielen zu können? Ich fange jedes Mal wieder ganz von vorne an … Das ist in keinem anderen Beruf so.

Muss darum wenigstens der Regisseur an einen glauben?
Wenn man spürt, dass man vom Regisseur nicht geliebt wird, kann das auch eine Herausforderung sein. Doch in diesem Beruf hat man immer mit Menschen zu tun, ist auf sie angewiesen.

Sie sind eine der wenigen deutschen Schauspielerinnen, die gleichberechtigt Film und Theater machen.
Ich kann mir einfach so ein Leben nicht vorstellen, wo ich nach jedem Film in ein Loch falle. Was habe ich dann in diesen vier Monaten, bis zum nächsten Film, getan? Ich spiele Theater, um in Bewegung zu bleiben. Und um zu experimentieren. Ich kann im Theater viel mehr ausprobieren. Und dabei entdecke ich auch ganz neue Seiten an mir oder meiner Rolle. Das Fantastische am Film aber ist dieser verdichtete Moment, auf den alles ankommt. Der Moment, wo gesagt wird: Drehen!

In Kritiken über Sie ist immer wieder von Ihrer Leidenschaft im Spiel die Rede. Mir scheint, das haben Sie von beiden Eltern geerbt: von der Mutter, die Schauspielerin ist – und vom Vater, der Arbeiter war, Gewerkschafter und später ein sehr engagierter Grüner.
Ja, den beiden verdanke ich vor allem, dass ich eine Haltung habe. Eine Haltung zum Leben und zur Arbeit.

Ihre Eltern waren oft beide gleichzeitig unterwegs und Sie dann unter Obhut allein. Dennoch sagen Sie: Ich hatte eine glückliche Kindheit.
Ich weiß, dass es auch für meine Mutter nicht immer einfach war. Wenn sie zum Beispiel ein Jahr in Basel engagiert war und ihr Mann war in Bonn – und ihre Tochter in Stuttgart in der Schule. Doch im Nachhinein ist für mich das Wesentliche, dass ich immer gespürt habe, dass meine Eltern das, was sie taten, einfach tun mussten. Meine Mutter hat mir gesagt: "Was hast du denn davon, wenn ich bei dir bin, aber unglücklich. Ich muss meine Arbeit machen, um wieder bei mir selbst zu sein – und wenn ich dann bei dir bin, bin ich ganz für dich da." Und so war es auch. Ich hatte eher das Gefühl, in das Leben meiner Eltern mit einbezogen zu sein. Und die hatten ein wahnsinnig spannendes Leben.

Neuerdings ist viel von einem "neuen Feminismus" die Rede …
Also, wenn Sie die neuen Feministinnen meinen, die von sich als "Mädchen" reden, das finde ich ja eher bedenklich. Ich habe das Gefühl, die wollen keine Verantwortung für ihr Leben übernehmen. Ist ja auch nicht unanstrengend, verantwortlich zu sein … Ich würde mich ganz einfach als Feministin bezeichnen. Weil ich für Gerechtigkeit bin, für die Rechte der Frauen und für Gleichberechtigung. Wir ernten jetzt die Früchte des Kampfes, den Ihre Generation geführt hat, aber es liegt noch vieles im Argen.

Was denn?
Zum Beispiel das Problem der sexuellen Gewalt. Da will niemand was von hören. Oder auch, dass das, was eine Frau sagt, weniger schwer wiegt. Das habe ich jüngst in einer grotesken Weise in Brasilien erlebt. Da fragst du was – und sie hören dir einfach nicht zu, sie gucken dir noch nicht mal in die Augen. Da kannst du noch so emanzipiert sein – das wirft dich völlig zurück. Und so was gibt es hierzulande auch noch.

In allen Texten über Sie ist von Ihrer "Schönheit" die Rede. Ist das nur ein Vorteil – oder kann es auch ein Nachteil sein?
Mir selbst ist das gar nicht bewusst. Für eine Schauspielerin darf beim Spielen die eigene Eitelkeit keine Rolle spielen. Ich denke eher darüber nach: Was ist richtig für diese Figur? Und da kann ich nur hoffen, dass meine Darstellung den Menschen etwas sagt. Dass es sie bewegt.

Das Gespräch führte Alice Schwarzer.

Artikel teilen

Färberböck: „Ich war fassungslos über die Häme!“

Nina Hoss in dem Film "Anonyma" von Max Färberböck.
Artikel teilen

EMMA Sie haben sich über die Kritiken zu Ihrem Film „Anonyma“ geärgert. Worüber genau?
Max Färberböck Das war kein Ärger, sondern pure Fassungslosigkeit. Manche Leute waren über so viel Häme und Hass ebenso fassungslos wie das Publikum und auch ich. Hans Magnus Enzensberger zum Beispiel schrieb mir einen sehr harten, eigentlich zur Veröffentlichung bestimmten Brief, in dem er seinem Ärger Luft machte. Der Regisseur Dominik Graf sprach im Zusammenhang mit der Rezeption von einem „Verwischen aller Kriterien“. Internationale Kritiker riefen mich an, weil sie einen völlig anderen Film erwarteten. In meiner Umgebung tauchten im Hinblick auf die Kritiken immer wieder Worte wie „absichtsvolle Entstellung“ und „an den Haaren herbeigezogene Argumente“ auf. Das, was da passierte, hinterlässt einfach einen schlechten Geschmack. Zumal, und das ist das eigentlich Interessante, über 80 Prozent der deutschen Kritiken gut waren. Das heißt, dass einige Leitmedien alles, was ansonsten gedruckt und geschrieben wurde, verdrängen können. In der Gesamtwahrnehmung galt „Anonyma“ dann als verrissen, obwohl das nicht der Wahrheit entspricht.  

Anzeige

Könnte das am Thema des Films gelegen haben?
Wenn man einen Film über ein historisch so tabuisiertes Thema macht, dann weiß man natürlich, dass man polarisiert. Aber in diesen Verrissen wurde weder inhaltlich, politisch oder zeitgeschichtlich diskutiert. Stattdessen hat man sich darauf spezialisiert, dem Film eine „Fernseh-Ästhetik“ unterzuschieben. Ein Nicht-Argument, das nirgendwo in der internationalen Presse das geringste Echo fand. Sowohl die New York Times oder der Guardian haben sich trotz dieser deutschen Kriegserklärung vor den Film gestellt. Sie haben sich eben weniger mit erfundener Fernseh-Ästhetik, sondern mit dem totalen Ausgeliefertsein der Frauen, dem verständlichen Hass der Russen, den diffizilen Annäherungen, schlicht der ungeheuren Ambivalenz dieser Zeit beschäftigt. Und ihn in sehr einfachen Worten begeistert beschrieben. Einige deutsche Kritiker haben sich dagegen auf die sogenannte Amphibien-Diskussion gestürzt; also die Frage, ob Constantin den Film als Kino- und Fernsehfilm produzieren wollte. Darüber hat man tunlichst vermieden, sich mit dem Inhalt des Films zu beschäftigen. Die politische und inhaltliche Brisanz des Films wurde verdeckt mit der Frage: Ist das Fernseh-Ästhetik oder nicht? Diese Frage hat im Ausland, wie gesagt, keinen Menschen interessiert.
 
Die erste Verriss in Deutschland erschien in der Süddeutschen, nachdem „Anonyma“ auf dem Filmfestival in Toronto Premiere gehabt hatte. Die Rezensentin befasste sich ausschließlich mit den Kulissen.
Dabei war der Film anderthalb Stunden nach seiner ersten Vorführung für alle weiteren Vorstellungen ausverkauft. Es wäre schön gewesen, wenn diese Kritikerin dabei gewesen wäre, als Hunderte von Leuten, auch Kritiker, nach Filmende sitzen blieben und über den Film diskutierten. Davon stand leider nichts in der Presse.

Der Guardian dagegen schrieb: „Endlich werden die alten Frauen jetzt mit ihren Familien darüber sprechen können.“
Genau das ist auch passiert. Wir haben immer wieder Rückmeldung von Frauen bekommen, die schrieben, dass das Thema in ihrer Familie jetzt auf dem Tisch ist. Auch bei Kirchengemeinden haben sich Frauen gemeldet, vor allem in der ehemaligen DDR. Dennoch sind nicht genügend Menschen in den Film gegangen, denn die Barriere, sich im Kino einen Film über Vergewaltigungen anzuschauen, ist einfach zu hoch. Die Zuschauer waren ganz überwiegend Frauen. Die Männer, die ihn sich angeschaut haben, sind von ihren Frauen unter großen Mühen hineingeschleppt worden.

Wie war die Begegnung zwischen den russischen und den deutschen SchauspielerInnen am Set?
Sie haben - mit Hilfe der zwei Dolmetscherinnen - in den Drehpausen und in der Maske natürlich auch über das Thema gesprochen. Die Russen waren zunächst dem Projekt gegenüber sehr skeptisch. Während des Castings in Moskau und St. Petersburg hatte es dramatische Szenen gegeben. Da habe ich Riesenkerlen gegenüber gesessen, die geweint haben, weil sie im Krieg ihre Großeltern oder andere Familienmitglieder verloren haben. Das war nach den ersten Diskussionen über das Drehbuch ausgestanden. Allerdings ist der Film bis heute noch nicht nach Russland verkauft worden. Er wird offenbar als Kritik am Großen Vaterländischen Krieg angesehen.  

Dabei sind in „Anonyma“ auch die Verbrechen der deutschen Wehrmacht in Russland Thema.
Ja. Und das Auseinanderbrechen der deutschen Ehen, weil es extrem schwer ist, mit Vergewaltigung umzugehen.

Haben nach Ihrer Kenntnis die Medien in Deutschland die Gelegenheit genutzt, mit alten Frauen über das Erlebte zu sprechen.   
Das haben sie leider nicht getan. Das Thema wurde gewissermaßen erneut tabuisiert. Aber das Leben ist glücklicherweise durch Filmkritiken nicht aufzuhalten: Es sind nach dem Film viele Frauen an Orte gegangen, an denen sie reden können. Das jedenfalls hat der Film erreicht.

Weiterlesen
 
Zur Startseite