Es ging mir um Ehrlichkeit

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Nach dem Tod ihres langjährigen Gefährten lässt Groult auch die letzten Tabus fallen. Bereits der stark autobiografisch geprägte Roman "Salz auf unserer Haut", in dessen Mittelpunkt ein lebenslanges Verhältnis einer verheirateten Pariserin aus bürgerlichen Kreisen mit einem bretonischen Fischer stand – der im Leben ein deutsch-amerikanischer Emigrant und Pilot war – war kühn. Und im Nachhinein wundert auch die Autorin selbst sich, dass ihr Ehemann es ohne Protest hingenommen hat. Der allerdings, der Schriftsteller Paul Guimard, hatte sich selbst lebenslang reichlich Freiheiten genommen – die beiden hatten einen Pakt à la Beauvoir/Sartre – allerdings nicht darüber geschrieben.

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In ihrem neuesten autobiografischen Text erinnert Benoîte Groult noch einmal an die auch für sie lähmende Zeit der völligen Entrechtung der Frauen, inklusive ihrer illegalen, lebensgefährlichen Abtreibungen. Und ihren ersten Ausbruch aus den Konventionen. Nach dem Krieg, als alle die Entbehrungen und den Hunger leid waren, ging auch Benoîte im Pariser Hotel Grillon tanzen und flirten – vor allem, um anschließend von den GIs an das reich bedeckte Buffet im ersten Stock geführt zu werden. Einer dieser GIs war ihr Pilot, mit dem die Leidenschaft lebenslang währte – nicht zuletzt, weil sie sich außerhalb des Alltags der beiden abspielte. Ein Kernstück des Buches jedoch sind die Gespräche von der französischen Journalistin Josyane Savigneau mit Benoîte Groult über ihr feministisches Engagement – und die Unerhörtheit von "Salz auf unserer Haut".

Josyane Savigneau: Sie waren verheiratet, als das Buch erschien. Wie kann eine Frau es sich erlauben, das zu tun, was sie getan haben?
Benoîte Groult: Wenn ich mich heute an "Salz auf unserer Haut" zurückerinnere, das 1988 erschienen ist – ich war damals 68 Jahre alt, nicht unbedingt das Alter, um einen rasenden Liebesroman zu schreiben –, frage ich mich, wie ich damals die Kühnheit haben konnte, so was zu schreiben, und wie Paul die Eleganz haben konnte, es zu akzeptieren. Mir war aufgefallen, dass ich es noch nie gewagt hatte, das Thema Sinnenfreude zu behandeln. Ich wollte es auf durchaus feministische Weise angehen, Schluss machen mit der überlieferten Vorstellung weiblicher Hingabe beziehungsweise Selbstaufgabe, und den Egoismus im Liebesakt herausstreichen. Und vor allem auch darüber sprechen, ohne auf poetische Metaphern zurückzugreifen, und stattdessen die Dinge beim Namen nennen, insbesondere die beteiligten Organe. Der Versuch schien mir lohnend, diesen Wörtern ihre Unschuld, vielleicht sogar ihre Poesie, manchmal auch ihre Derbheit wiederzugeben. Die Liebe braucht nämlich auch das. Auf jeden Fall ging es um Ehrlichkeit.

Sehr wenige Romanschriftstellerinnen haben das getan.
Der Ton war den Damen nicht erlaubt! Und es ging auch darum, neue Wörter zu finden, oder mit den vorhandenen anders umzugehen. An diesem Punkt bin ich an der Armut des Wortschatzes gescheitert. Als ich mich an die Arbeit machte, um "Salz auf unserer Haut" zu schreiben, schlug ich im großen Quillet von 1936, den mir mein Vater vermacht hatte, unter "Anatomie" nach. Ich war der Meinung, dass sich an der weiblichen Anatomie seit 1936 nichts geändert hatte. Weit gefehlt! Auf der ganzseitigen anatomischen Tafel für "Mann" und "Frau" war das weibliche Genitale auf ein kleines Dreieck reduziert. Die Klitoris war weder erwähnt noch abgebildet. Das Wort "Vagina" kam nicht vor. Wohingegen auf der Tafel "Mann" sowohl der Penis als auch die Eichel und die Hoden figurierten – man konnte alles deutlich erkennen. Unter anderem wollte ich die Wörter zurückerobern, um unsere Organe benennen zu können. Auch dieses fast obszöne Wort "Vagina". Dabei ist die ganze Menschheit durch diese wunderbare Vagina hindurchgegangen.

Hätten Sie "Salz auf unserer Haut" auch früher schon schreiben können, ohne den feministischen Weg, den Sie inzwischen zurückgelegt hatten?
Ich hätte es nicht gekonnt, und ich hätte es nicht gewagt. In dem Fall aber kam mir eine Freiheit zugute, die man dem Alter verdankt, eine Art Unverfrorenheit, deren ich weder mit zwanzig noch mit vierzig fähig gewesen wäre. Und schließlich auch eine lange Lebenserfahrung, die Erfahrung der leidenschaftlichen Liebe und der Liebe im Alltag, der Dauerhaftigkeit. Nun konnte ich endlich das Geheimnis der Leidenschaft angehen, die auch im Zeitalter der Computer noch immer erschütternd, zerstörerisch und magisch bleibt. Womöglich weil ich viele bretonische Ritterepen gelesen hatte, habe ich meine Hauptfigur zu einem Unsesshaften, einem Seemann gemacht und ihn Gauvain, das heißt Gawein, genannt, nach einem der Ritter der Artus-Sage, der ebenfalls über die Meere irrte. Ich wollte mich ein wenig dem Archetypus der leidenschaftlichen Liebe nähern, dem von Tristan und Isolde, von Romeo und Julia und anderen zeitlosen Paaren. Die Liebe von Gauvain und George ist eine absolute, denn es gibt sonst nichts Gemeinsames, nichts, was sie teilen können: keinen Vertrag, keine gegenseitigen Dienste, kein Gesellschaftsleben. Ihre Beziehung bleibt eine intensive, vorausgesetzt, sie bleibt von der Realität unberührt.

Aber wo bleibt da der Feminismus?
Ich bin ganz froh, dass man ihn nicht allzu deutlich herausliest, denn es handelt sich ja um einen Roman. Aber das Buch steckt voller Feminismus. Ohne die Liebe und ohne die Freiheit in der Liebe fehlen ein beträchtliches Stück Lebenssinn und eine Dimension der Selbstverwirklichung der Frau. Es ist eine feministische Geschichte, weil ausnahmsweise die Leidenschaft kein Unheil nach sich zieht und weil die Heldin weder im Wahnsinn noch im Unglück versinkt oder gar mit Selbstmord endet. Sie setzt sich auch nicht der himmlischen Strafe aus ... Am Ende der Geschichte steht eine Frau, die auf ein gelungenes Leben und noch ein bisschen mehr als das zurückblicken kann.

In den vielen Briefen, die Sie im Anschluss an dieses Buch bekommen haben – häufig von Männern übrigens –, hat man Ihnen mehrfach die Frage gestellt: "Warum haben Sie Gauvain am Ende des Romans sterben lassen?"
Weil sich keiner darüber gewundert hätte, wenn die Frau gestorben wäre. Keiner fragt sich, warum eigentlich Emma Bovary Selbstmord begeht – das ist "normal". Anna Karenina wirft sich vor einen Zug, Madame de Merteuil wird von der Syphilis entstellt, Sades Justine wird vom Blitz des Himmels erschlagen, Stendhals Madame de Renal stirbt vor Kummer und die Kameliendame an Tuberkulose ... Die Frauen werden systematisch dafür bestraft, dass sie zu viel geliebt haben. Ich bin sicher, dass die Leser George viel herzergreifender gefunden hätten, wenn sie sich einer langen, schmerzlichen Psychoanalyse hätte unterziehen müssen, oder wenn sie unterwegs zu Gauvain bei einem Autounfall ums Leben gekommen wäre. Da hätten wir die schöne Geschichte einer tragischen Leidenschaft, eine mythische Liebesgeschichte. Die Vorstellung, dass sie ihren Liebhaber überlebt, dass sie auch ohne ihn gerne weiterlebt, das war das Schockierende, viel mehr als die Wortwahl. Auf diesen Schluss habe ich Wert gelegt, weil ich es leid war, all diese Unglücklichen, Verführten und Verlassenen, Betrogenen, Frigiden, zu Elend, Schande, Einsamkeit und Wahnsinn Verdammten zu beweinen. Auch die herkömmlichen erotischen Romane à la Geschichte der O hatte ich satt, mit ihren Ketten und Peitschen, den schicken Demütigungen und Qualen – dass ich sie womöglich mit Vergnügen gelesen habe, steht hier nicht zur Debatte –, in denen die Frauen stets zu Sklavinnen gemacht, immer in der Situation von Unterordnung, von unterwürfiger Hingabe geschildert werden, weil für sie angeblich die Verachtung und die Gewalt ihrer Liebhaber das Höchste ist.

Ein Kritiker hat geschrieben, es handle sich um eine "Hymne an den Phallus". Er freute sich darüber, dass Sie endlich "die Waffen gestreckt" hätten, wie er meinte. Auch Georges Egoismus hat man Ihnen vorgeworfen.
Egoismus ist doch gesund! Bei den Frauen ist er ja gerade deshalb verpönt, weil sie ihn so dringend nötig hätten. Er wird als ein wahrer Verrat betrachtet – und er ist übrigens auch Verrat. Plötzlich lösen sie sich von dem zwangsverordneten Frauenbild, plötzlich verweigern sie die Rolle, die eigens für sie geschrieben wurde ... Doch, doch! Egoismus ist eine befreiende Tugend.

Wie geht es Ihnen: Verspüren auch Sie diesen beglückenden Egoismus?
Ja, ich glaube schon. Und zwar in Verbindung mit einer gewissen Dosis Gleichgültigkeit. Außerdem hat er zu tun mit jener Aussöhnung mit mir selbst, die ich um die Lebensmitte erfahren habe. Es ist nicht sehr sympathisch, das so zu sagen, aber auf diese Weise bin ich der sonderbaren Selbstgefälligkeit im Unglück entkommen, die so viele Frauen auszeichnet. "Dann sind Sie ja eine Egoistin!", heißt es dann, als wäre das ein Verbrechen. Also gut, dann bin ich halt eine Egoistin, was soll's? Ich habe eher das Gefühl, dass ich viel großzügiger mit den anderen geworden bin, seit ich mich selbst mag, wie ich bin. Die ewig Depressiven, das sind die wahren Egoisten. Es gibt nichts Anspruchsvolleres, Narzisstischeres und Egozentrischeres als einen chronisch depressiven Menschen. Was die Männer angeht, so wird Egoismus ja durchaus toleriert. "Ach! Alain ist ein solcher Egoist!", sagt die Frau, und es klingt fast gerührt.

Haben Sie sich, als Sie dieses Buch schrieben, vorstellen können, dass es so viel Ärgernis erregt?
Ich habe es mir in gewissem Sinne gewünscht, aber auf so viel Scheinheiligkeit war ich nicht gefasst. Laut verkünden, man sei empört über ein Liebesabenteuer, bei dem weder Perverses noch Lasterhaftes, noch Folter vorkommt, nichts als eine stinknormale Beziehung, das beweist doch, dass man einer Romanschriftstellerin nicht die gleiche Freiheit oder das gleiche Vokabular genehmigt wie einem Mann. Über ein Detail – glaube ich – war man besonders schockiert: dass ich es wagte, das männliche Sexualwerkzeug mit Ironie zu beschreiben. In den erotischen Texten kommt grundsätzlich das himmlische, stets triumphierend herrliche Glied vor. Dass eine Frau so respektlos von den Attributen der männlichen Macht spricht, ist eindeutig ein Vergehen, ein unverzeihlicher Übergriff.

Aber eine Frage bleibt bestehen, die Kernfrage vielleicht, die man sich und Ihnen stellen muss: Wie und um welchen Preis kann man sich diese Freiheit nehmen?
Genau das hat mich Bernard Pivot (Anm.d.Red.: bekannter TV-Journalist) gleich als Erstes gefragt, als er mich zu seiner Sendung "Apostrophe" eingeladen hat. "Okay, Madame Groult, heute wird die Freiheit der Frauen im Allgemeinen akzeptiert. Aber noch vor ein paar Jahren hätte man Ihren Roman als ein bisschen pornografisch empfunden, oder nicht?"

Und was haben Sie geantwortet?
Ich habe schlecht geantwortet. Auf dieses Wort war ich nicht gefasst. Misstrauisch wurde ich erst danach. Das Wort "Pornografie" hätte ich von vornherein definieren sollen. Pornografie ist die Ausbeutung des Körpers des Andern. In der Pornografie gibt es keine Liebe. Aber ich habe mich in die Rolle der Schuldigen drängen lassen.

In "Odipus' Schwester" äußern Sie die Meinung, dass gewisse Schriftsteller, allen voran Henry Miller, pornografische Texte geschrieben haben, die Sie als herabwürdigend für die Frauen empfinden?
Ich war sehr beeindruckt von Kate Milletts "Sexus und Herrschaft". In diesem Buch zeigt sie, wie D.H. Lawrence, Norman Mailer oder Henry Miller die Frau in ein "genitales Feld" verwandeln, das man nach Gutdünken ohne jeden Gedanken an Gegenseitigkeit beackert. Das ist doch auf die Dauer zerstörerisch.

Mag sein. Aber man ist sehr schnell von der Bestandsaufnahme, der Analyse, übergegangen zur Rüge, zum Ruf nach Verboten. Sollte man nicht eher eine eigene Antwort formulieren, wie Sie es getan haben, indem Sie "Salz auf unserer Haut" schrieben?
Es braucht Zeit, bis die ehemaligen Sklaven es wagen, über ihre Unterdrücker zu schreiben. Seit tausend Jahren feilen die Philosophen an ihren Gedanken über eine Welt, in der sie, was Geist und Macht betrifft, alle Plätze besetzen. Ein Recht auf Denken, ja sogar auf Lesen und Schreiben haben die Frauen doch erst seit so kurzer Zeit!

Sie haben mir immer noch nicht verraten, wie dieser Mann, der Ihr Ehemann war, der mit Ihnen zusammenlebte, es seelenruhig hinnehmen konnte, dass Sie ein solches Buch schreiben.
Seelenruhig? So sicher bin ich mir da nicht.

Aber Sie hatten doch vorher mit ihm gesprochen, oder nicht?
Ja, natürlich, aber eher beiläufig. Die Bücher, die ich gerade in Arbeit habe, zeige ich nie vor. Sie sind noch zu formlos. Gelesen hat Paul dieses Buch erst, als es fertig war, und mir wäre es lieber gewesen, wenn er es nie gelesen hätte. Sie reden von einer "harmonischen Ehe", das ist leicht gesagt. 54 Ehejahre können nicht ohne Dissonanzen verlaufen, ohne Momente der Entmutigung oder sogar der Verzweiflung. Oder aber einer der Partner hat alles in sich erstickt, was dem anderen missfallen könnte. Und seit C.G. Jung weiß man, dass "das ungelebte Leben" ein Gift ist, das einen Menschen zerstören kann. Hin und wieder muss man den Mut haben zu missfallen ...

Sie hatten vermutlich nicht vor, sich von Ihrem Mann zu trennen. Also hatten Sie wohl die Gewissheit, dass er Ihre Freiheit respektieren würde?
Die Frage habe ich mir nicht gestellt. Ich musste das Buch einfach schreiben.

Was heißt das: "Ich musste"?
Zu diesem Zeitpunkt meiner Karriere – das Wort klingt blöde, aber irgendwo kann man bei dreißig Jahren Schriftstellerei allmählich doch von Karriere sprechen – war es das Wichtigste auf der Welt, die Leidenschaft zu beschreiben, das heißt etwas Unvernünftiges, was man vom Intellekt her nicht verstehen kann, was man mit der Vernunft verwirft, etwas, das uns aber im tiefsten Inneren unseres Seins ereilt, dort, wo wir auf elementare, echte, unverbildete Kräfte stoßen. Es ist ungeheuer spannend, die Macht des sinnlichen Begehrens in Worte einzufangen.

Ja, sicher, aber ich bin überzeugt, dass bestimmte Romanschriftsteller, die selbst ihre Freiheit schreibend kundgetan haben, die Frau, mit der sie zusammenleben, unter Druck setzen würden, wenn sie das Gegenstück zu ihren eigenen Auslassungen liefern wollte.
Man weiß von Scott Fitzgerald, dass er bei seiner Frau Zelda so vorgegangen ist; aber auch der Mann von Sylvia Plath und andere. Ich habe an diese Möglichkeit gar nie gedacht ... Übrigens muss ich das Paul hoch anrechnen. Aber vielleicht hätte ich zu ihm gesagt: "Falls du es nicht erträgst, dann trennen wir uns für ein halbes Jahr. Wenn das Buch keinen Erfolg hat, vergessen wir es." – Das hätte ich vermutlich fertig gebracht. Aber auf das Buch hätte ich nicht verzichtet.

Hatten Sie sich dazu verpflichtet, sich alles zu sagen, wie Sartre und Beauvoir, die sich im Endeffekt vermutlich zu viel erzählten?
Nein. Ich habe das Gefühl, das ist eine große Gefahr und bedeutet auch viel Leiden. Eigentlich war es ja Sartre, der sich über seine beiläufigen Liebschaften ausließ. Seine Briefe an Castor (Spitzname von Beauvoir, Anm.d.Red.) sind grausam. Wenn es sich um die Affären der anderen handelt, versteht man eine Menge, und bei sich selbst ist man blind. Ich glaube, es sind fast immer die Männer, die von solchen Abmachungen profitieren. Doch was den "Vertrag" von Beauvoir und Sartre betrifft, so hat es immerhin das mythische Bild des Paares, das bis in den Tod zusammengehört, erhalten. Für all das bin ich Simone de Beauvoir nach wie vor dankbar. Sie hatten auch so viele Feinde, denen es eine Genugtuung gewesen wäre, wenn sie einander verraten hätten.

Sie beide, Paul und Sie, Sie hatten eher ein stillschweigendes Freiheitsabkommen geschlossen.
Richtig. Ohne Versteckspiel, ohne Heimlichkeiten, aber auch ohne detaillierte Berichte.

Kannten Sie die Protagonistinnen?
Ach, man kennt sie fast immer, leider! Und zeitweise ist es kaum zu ertragen. Aber da ich im Prinzip nun mal einverstanden war ... Ich finde es unmenschlich, heutzutage und vor allem im großstädtischen Umfeld und bei unserem Beruf, in dem es unentwegt Versuchungen gibt, von jemandem zu fordern, dass er auf alles verzichtet, was man nicht selbst ist. Ich heirate dich, und das bedeutet, dass du ab sofort keine andere Frau mehr berührst, dass du dich auf kein Abenteuer mehr einlässt, dass du nie mehr das Spiel von Liebe und Zufall spielst, dass die Tür zur Freiheit für dich von nun an abgeschlossen bleibt. Das ist doch grauenvoll! Abgesehen davon, dass ich es mir nicht zutrauen würde, so etwas durchzusetzen.

Sind Sie der Meinung, dass Sie alles im allem recht hatten, auf die gegenseitige Freiheit zu setzen?
Das scheint mir die würdigste Verhaltensweise zu sein. Aber für denjenigen – oder diejenige-, der mehr liebt oder länger, ist das nicht leicht. Ich werde nie vergessen, wie Paul und ich eines Abends unseren zweiten Hochzeitstag feierten und Paul mir völlig arglos und fröhlich zuprostete mit den Worten: "Ich trinke auf meine zwei Jahre eheliche Treue. Ich hätte nie gedacht, dass ich das so lange durchhalte."

Wenn man das mit Humor sagen kann, ist das doch gut, oder?
Für wen? Ich habe das wie eine eiskalte Dusche empfunden. Das bedeutete zunächst einmal, dass die Phase der Treue zu Ende war. Aber okay, das war der Inhalt unseres Vertrags, nur die Daten waren nicht eingetragen. Nun wurde er also wieder der Mann, den ich früher gekannt hatte. Meine Mutter hatte mich zur Genüge gewarnt. Also musste ich das auf mich nehmen – und ich habe es auf mich genommen, weil wir uns in den meisten Dingen des Lebens so wunderbar verstanden ... Erst viel später habe ich gelernt, dass man zwei Menschen gleichzeitig lieben kann. Denn jedes Ding ist für etwas anderes gut, wie André Gide sagt. Paul hat es immer gewusst. Zwei, drei, zehn ... Er liebte das Amateurhafte, nicht die Spezialisierung.

Aber er ist mit Ihnen zusammengeblieben? Da wären wir wieder bei Sartre und Beauvoir, bei der beiläufigen und der notwendigen Liebe.
Das sagte er mir auch jedes Mal.

Erscheint Ihnen das heute, mit dem Abstand der Jahre, befriedigend?
Sagen wir, dass es funktioniert hat. Einmal hat es aber dazu geführt, dass ich "Juliette und Marianne. Zwei Tagebücher einer Liebe" schreiben musste, um mich abzureagieren, um mit anderen Augen zu weinen. Auf solchen Routen erleidet man manchmal Schiffbruch, man schrammt auf unerwartete Felsenriffe ... Man muss gut schwimmen können, Havarien reparieren, der Umgebung und den Kindern lächelnd entgegentreten ...

Wie erklären Sie sich diesen übertriebenen Moralismus, über den ich mich immer wundern muss bei Frauen, die behaupten, sich für die Befreiung aller Frauen stark zu machen?
Das braucht keine Erklärung, es ist eine der zahlreichen Facetten des Feminismus. Man erklärt auch nicht den "Moralismus" dieser oder jener Sekte, dieses oder jenes religiösen Fundamentalismus. Man stellt ihn fest und wendet seinen Blick ab. Anscheinend hätte man gern, dass die Feministinnen im Gleichschritt gehen, denn die geringste Divergenz wird gegen sie verwertet. Das ist ungerecht und lächerlich. Bei den Sozialisten gibt es auch verschiedene Strömungen, genauso wie bei den Kommunisten oder den Grünen. Dabei sind wir viel mehr an der Zahl und wesentlich vielfältiger als diese oder jene Partei. Und wenn dann in die Theorie auch noch die Sexualität eingebaut wird, wie es unvermeidlich geschieht, dann bricht das totale Chaos aus. Denken Sie doch nur an die Fehden zwischen den Sexologen und anderen Vertretern der Psychoszene! Nein, ich weigere mich, gegen irgendjemanden einen Bannfluch zu schleudern. Die vielen Strömungen machen den Reichtum des Feminismus aus. Jene Moralistinnen unter den Feministinnen, die Sie meinen, sind vermutlich die radikalen, die behaupten, dass jede Frau lesbisch werden sollte. Ihr Slogan lautet: "Eine heterosexuelle Frau ist im besten Fall eine Reformistin, im schlimmsten eine Kollaborateurin." Damit bin ich im Prinzip einverstanden. Aber ich will auch "kollaborieren" dürfen, wenn es mir in den Kram passt.

Das heißt aber doch, dass Sie es hinnehmen, im Widerspruch zu Ihren Theorien zu leben?
Alles andere wäre Selbstmord! Was nicht zumutbar ist, das sind in Wirklichkeit der Stalinismus, die verordnete Einheitsphilosophie, die political correctness – und nicht die Widersprüche, die das Salz des Lebens ausmachen. Manchmal führen sie auch zum Wahnsinn, aber sie machen die Künstler, die Dichter, die Utopisten aus. Man liebt das Leben, doch man lebt auch lebensgefährlich. Man verliebt sich in einen Mann, doch man hasst die Männer, vor allem, wenn sie in Herden auftreten. Man schläft gern mit einem Mann, doch man verabscheut die Abhängigkeit, in die das führen kann … Lauter bereichernde Komplikationen.

Hatten Sie in der Zeit vor Ihrem feministischen Engagement Schwierigkeiten, sich mit Frauen zu verstehen? Mit denen zum Beispiel, die sich mit ihrem konventionellen Image wohl fühlten?
Diese waren es meistens, die mich ablehnten. Ich hoffte immer, sie aus ihrer Blindheit herausholen zu können, ihnen ein Quäntchen Auflehnung einzuimpfen. Manchmal genügt eine winzige Anregung. Jetzt rede ich schon wie diese Pfarrer, die ich hasse, weil sie die Ungläubigen auf ihrem Totenbett herumkriegen wollen. Ich bin überzeugt, dass in jeder Frau eine heimliche Feministin steckt.

Benoîte Groult: Meine Befreiung. Autobiografie (Bloomsbury Berlin, 19.90 €).

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