"Wir müssen uns wehren!"
Frau Dr. Spelsberg, Sie sind die ärztliche Leiterin des Tumorzentrums in Aachen. Was ist Ihr Job?
Dr. Angela Spelsberg: Ich bin Epidemiologin, also Spezialistin für die Erforschung der Häufigkeit von Krankheiten und deren Ursachen, und arbeite als Ärztin am Tumorzentrum. Meine Ausbildung habe ich in den USA gemacht, weil es vor zehn Jahren in Deutschland noch keine Möglichkeit gab. Das Tumorzentrum ist der Zusammenschluss von allen 20 Krankenhäusern im Einzugsbereich der Stadt Aachen plus die Uniklinik Aachen. Wir haben die Aufgabe, für eine Million Menschen die Nach- und Vorsorge von Krebspatienten zu organisieren.
Welche Rolle spielt dabei der Brustkrebs?
Eine große. Ein Drittel aller Tumore, die wir hier bei Frauen erfassen, sind Brusttumore. Etwa 500 Frauen pro Jahr erkranken in unserer Region neu an Brustkrebs. Da wir nicht wissen, wodurch Brustkrebs entsteht, können wir bisher nicht vorsorgen. Die Mammographie, also das Röntgen der Brust, ist keine Vorsorge, sondern eine Methode zur Früherkennung von vorhandenem Brustkrebs, bevor er so groß ist, dass er als Knoten tastbar wird. Im Frühstadium sind neun von zehn betroffenen Frauen heilbar, danach ist es oft zu spät.
Werden Frauen vom Arzt zur Beratung in das Tumorzentrum überwiesen?
Spelsberg: Nein, meistens nicht. Die Frauen kommen, weil sie sich über die Diagnose "Brustkrebs" nur unzureichend informiert fühlen. Zum Beispiel darüber, ob es Alternativen zur vorgeschlagenen Behandlung gibt. Wir arbeiten eng mit der Leiterin der Aachener Krebsberatungsstelle des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zusammen. Bei Helga Ebel werden krebskranke Frauen über finanzielle und soziale Rechte beraten, bei medizinischen Fragen werden sie an uns weitergeleitet.
Ist das überall so?
Nein. Aachen ist bisher eine Ausnahme. Wir sind Beratungs- und Forschungsstelle zugleich und versuchen, den Verlauf einer Krebserkrankung so sorgfältig wie möglich zu dokumentieren. Das heißt, wir dokumentieren in jedem Einzelfall, wie die Patientin behandelt wurde, und was dabei herausgekommen ist.
Was haben Sie herausgefunden?
Zwei Drittel der in der Region Aachen entdeckten Brustkrebstumore sind bereits größer als zwei Zentimeter im Durchmesser. Die Wahrscheinlichkeit der Heilung ist jedoch nur in einem Stadium unter zwei Zentimetern gegeben. Das heißt, bei zwei von drei Aachenerinnen ist der Tumor bereits weit fortgeschritten, wenn sie die Diagnose erfahren. Da es in Deutschland bisher kaum Vergleichsdaten gibt, haben wir unsere Ergebnisse mit denen unserer Nachbarländer Holland und Belgien verglichen. Und wir haben festgestellt, dass in Holland bei 80 Prozent aller Frauen, die an der Brustkrebsfrüherkennung teilnehmen, die Tumore schon in einem frühen Stadium entdeckt wurden, also mit unter zwei Zentimeter Durchmesser.
Woran liegt das?
Ganz eindeutig daran, dass Holland ein systematisches Früherkennungsprogramm durchführt, das sogenannte Mammographie-Screening. In unserem Nachbarland wurde mit dem Screening-Programm in den letzten zehn Jahren bemerkenswerte Fortschritte erzielt, bei uns hingegen ist die Größe der Tumore zum Zeitpunkt der Diagnose unverändert groß - und das, obwohl die Frauenärzte in Deutschland immer mehr Mammographien zur Früherkennung verordnen, inzwischen schätzt man drei Millionen jährlich.
Aachen und Bremen sind ja die Favoriten für die Erprobung des Mammographie-Screenings in Deutschland. In Aachen planen Sie dies streng nach den EU-Richtlinien und mit Mammobilen. Können Sie uns einmal ganz genau sagen, was dieser Modellversuch für die Aachenerinnen bedeuten wird?
Dass die weibliche Bevölkerung der größten Risikogruppe, nämlich Frauen ab den Wechseljahren, regelmäßig in speziellen Untersuchungszentren mammographiert werden, und zwar von auf die Früherkennung kleinster Tumore spezialisierten Fachleuten. Die Geräte müssen hohen technischen Standards genügen, die Radiologen müssen an einem europäischen Referenzzentrum ausgebildet sein und mindestens 5.000 Früherkennungs-Mammographien pro Jahr befunden. Und, ganz wichtig: Jedes Röntgenbild muss von einem zweiten Arzt mit gleicher Qualifikation begutachtet werden. Das flächendeckende Screening macht langfristig nur Sinn, wenn sich mindestens 80 Prozent der aufgerufenen Frauen über 50 beteiligen - mindestens jede dritte Erkrankte hätte dann eine Überlebenschance. Für Frauen unter 50 ist ein Screening-Programm wenig nutzbringend, weil ihr Drüsengewebe strahlendichter ist. Bei ihnen ist auf einem Mammographiebild manchmal selbst dann noch nichts zu sehen, wenn ein Knoten schon tastbar ist.
Und wie funktioniert das Screening im Nachbarland Holland?
Ein Mammobil, also eine fahrbare Mammographie-Station, kommt ins Wohngebiet. So haben die Frauen keine lange Anfahrt zum Screening. Vier von fünf Holländerinnen kommen regelmäßig zur Untersuchung. Eine Woche danach erhalten sie ihr Ergebnis. Für das Screening gibt es schon seit 1994 strenge europäische Leitlinien. Es gibt also in unserem europäischen Umfeld eine große Erfahrung mit Früherkennungsprogrammen - nur wir in Deutschland haben die Entwicklung bislang verpasst.
Warum hat Deutschland noch keine Mammographie-Screenings?
Jahrelang hieß es: "Die deutsche Frau ist anders, die will sowas nicht. Die braucht die persönliche Betreuung durch ihren Arzt." Oder: das Screening sei zu teuer. Die Erfahrungen in Holland zeigen aber, dass dadurch teure Behandlungskosten im späten Stadium gespart werden - von der Rettung von Frauenleben ganz zu schweigen.
Der Präsident des Berufsverbands der Deutschen Frauenärzte, Dr. Armin Malter, sieht das ja genauso. Er sagt, beim systematischen Mammographie-Screening von 20.000 Frauen über 50 könnten 600 gefährdete Frauen entdeckt werden. Das wäre also viel billiger als die Therapie von 20 schwer erkrankten Frauen.
Stimmt. Umso unverständlicher, dass es bisher in Deutschland nur die Tastuntersuchung durch den Arzt oder die Ärztin gibt. Das Mammographieren gesunder Frauen zur Früherkennung ist bei uns verboten. Es werden nur Frauen zum Radiologen überwiesen, bei denen der Frauenarzt per Tastuntersuchung einen "Verdacht" feststellt. Das ist völlig unzureichend. Würden wir das flächendeckende Screening einführen, könnten von den 10.000 deutschen Frauen, die allein in der Altersgruppe 50 bis 70 jährlich an Brustkrebs sterben, mindestens ein Drittel gerettet werden. Das sind etwa 3.600 Frauen im Jahr.
Höchste Zeit also zur Einführung des Screenings!
Ja. Aber es ist nicht möglich, das Screening über Nacht in ganz Deutschland einzuführen. Dazu fehlen geschulte Fachkräfte, die müssen erst mal ausgebildet werden. Deshalb hat der Bundesausschuss der Ärzte- und Krankenkassen beschlossen, die Früherkennung zunächst in drei Regionen als Modellprojekt zu erproben, eine davon soll Aachen sein. Bremen steht ebenfalls in den Startlöchern.
Und wann soll es losgehen?
Im Januar 2000 wollen wir in Aachen mit zwei Mammobilen starten - wenn der Bundesausschuss der Ärzte- und Krankenkassen bei seiner Sitzung im September endgültig grünes Licht gibt. Was wir hoffen, denn das ganze zögert sich schon viel zu lange hin. Er fordert die Zustimmung von mindestens der Hälfte der teilnahmeberechtigten deutschen Radiologen zu dem Modellprojekt. Der Berufsverband der Radiologen führt zur Zeit leider eine Kampagne gegen die Einführung des Screenings. Viele Radiologen sagen: Wir sind zwar für ein Screening, wollen es aber in unserer Praxis machen. Das ist jedoch mit den EU-Leitlinien nicht vereinbar. Die Entscheidung, die nun aussteht, ist also keine medizinische mehr, sondern eine rein politische. Sie wollen, dass die Mammographien wie bisher in den Arztpraxen gemacht werden - und zwar plötzlich auch "vorsorglich" schon bei Frauen ab 40. Doch das ist Augenwischerei. Die Screening-Mammographie macht, wie gesagt, erst ab etwa 50 wirklich Sinn.
Warum zögern die Radiologen?
Weil sie fürchten, ihnen gingen durch die Mammobile Einnahmen verloren.
In der August-Ausgabe der Zeitschrift "vital" fordert die Kieler Mammographie-Spezialistin der "Deutschen Krebs- gesellschaft", Dr. Ingrid Schreer, alle Frauen ab 40 auf, einmal pro Jahr zur Mammographie zu gehen.
Diese Meinung hat Frau Schreer auch schon im Mai auf dem Radiologenkongress vertreten. Wenn sich ihre Auffassung durchsetzen würde, wären wir das einzige Land in Europa, das mit dem Screening ab 40 beginnt. Selbst in Schweden, wo das Alter gerade von 50 auf 45 Jahre herabgesetzt wurde, werden Frauen wegen der Strahlengefahr nicht jährlich, sondern alle 18 Monate zur Mammographie aufgerufen. Bei jüngeren Frauen wachsen Tumore oft schneller, da reicht der Zweijahresabstand nicht. Die älteren Frauen sind immer die Hauptbetroffenen.
Was sollte also Ihrer Meinung nach geschehen?
Die systematische Untersuchung gesunder Frauen sollte, wie in unseren europäischen Nachbarländern, in einem organisierten Screening-Programm unter strengen Qualitätskontrollen nach den Europäischen Leitlinien erfolgen. Dies durchzusetzen sollte nicht den Ärzten und Kassen allein überlassen werden. Da müssen auch wir Frauen Druck machen. Und ich hoffe sehr, dass die Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer dafür sorgt, dass das Screening auch über die drei Jahre Modellversuch hinaus den Frauen in der Bundesrepublik zur Verfügung stehen wird. Die PolitikerInnen müssen sich auch dringend mit der Frage beschäftigen, wie das Screening finanziert wird. In Holland geschieht das aus Steuer- mitteln.
Aber dazu müsste es doch vermutlich auch Druck von der vielzitierten Basis geben - gerade auch im NRW-Wahlmonat September.
Diese Basis ist jederzeit mobilisierbar. Wir sind 1997 zum ersten Mal an die Öffentlichkeit gegangen und haben allein im Raum Aachen innerhalb eines Jahres 10.000 Unterschriften gesammelt.
Und wer unterstützt sonst noch Ihr Mammobil?
Unser Bündnis: "Frauen fürs Leben - Brustkrebs bekämpfen durch Früherkennung". Es wird von den 40 Frauenorganisationen im Kreis Aachen, der Stadt Aachen, allen Landräten der Region und der Bundestagsabgeordneten Ulla Schmidt unterstützt. Wir haben auch breiteste Zustimmung bei den hiesigen Ärzten und Kassen.
Und wie steht es mit den betroffenen Frauen in der übrigen Bundesrepublik?
Die Bundesvorsitzende der "Frauenselbsthilfe nach Krebs", Frau von Wietersheim, sitzt zusammen mit uns im Frauenbündnis "Konzertierte Aktion gegen Brustkrebs", dem ersten politischen Zusammenschluss von Frauen gegen Brust- krebs in Deutschland. Dieses lose Bündnis umfasst ein breites Spektrum von Gruppierungen verschiedenster Art: Selbsthilfegruppen, Ärztinnen, Aktivistinnen, auch Kräfte aus der Wirtschaft, die uns unterstützen wollen. Die meisten Frauen, die kommen, sind selbst betroffen.
Die Frauen über 50 sollten sich regelmäßig mammographieren lassen, sobald es in ihrer Region ein Screening-Projekt gibt. Was aber raten Sie den jüngeren Frauen?
Natürlich ist es sinnvoll, den eigenen Körper zu kennen: Die meisten Frauen finden den Krebs nach wie vor selbst. Nur kann dann von Früherkennung keine Rede mehr sein.
Und was raten Sie Frauen nach der Diagnose Brustkrebs?
Sie sollten sich auf jeden Fall die Zeit nehmen, sich auch selbst gründlich zu informieren und von mehreren Stellen Rat zu holen. In vielen Regionen gibt es Krebsberatungsstellen, Tumorzentren und Selbsthilfegruppen, die Beratung anbieten. Die Deutsche Krebshilfe in Bonn hilft weiter, der Krebsinformationsdienst Heidelberg bietet eine Telefonberatung, und im Internet gibt es gute Webseiten. Jede erkrankte Frau sollte sich auch immer alle Befunde selbst geben und sich die Entscheidung nicht aus der Hand nehmen lassen.