Europa hat uns im Stich gelassen

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Heute hören wir, dass der amerikanische Präsident George W. Bush weltweit 27 fundamentalistische Organisationen bekämpfen will. Unter diesen Organisationen sind zwei aus Algerien: die GIA (Bewaffnete Islamische Gruppen) und der GSPC (Salafistengruppe für Predigt und Kampf). GIA und GSPC massakrieren seit zehn Jahren unschuldige Algerier und Algerierinnen. Sie töten, vergewaltigen, köpfen Babys, verbrennen sie im Ofen. 200.000 Menschen sind bis heute gestorben, 80 Prozent davon waren Zivilisten, hauptsächlich Frauen. Europa hat weggeschaut - und Geschäfte gemacht mit den herrschenden Militärs: Wir wissen nicht, wer bei euch tötet, lautete die Rechtfertigung.

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Die Frauen sind nicht die Einzigen, die von den Fundamentalisten unterdrückt werden. Dichter, Schriftsteller, freie Journalisten, Künstler, Homosexuelle, alle stören sie das fundamentalistische Ideal. Die Frau aber ist eine fixe Idee der Fundamentalisten: In ihrem Körper trägt sie die Andersartigkeit mit sich. Sie war ein einfaches Opfer für die Fundamentalisten, die in unserem krisengeschüttelten Land einen neuen gemeinsamen Feind brauchten, um das Volk mobilisieren zu können.

Wahr ist: In Algerien hat der FIS den ersten Wahlgang vom Dezember 1991 gewonnen. Unter fragwürdigen Umständen zwar, aber die Fundamentalisten haben gewonnen. Im Januar 1992 intervenierte das Militär, erklärte die Wahlen für ungültig und verschob nachfolgende Wahlgänge. Der FIS griff zu den Waffen, das Land stürzte in einen Bürgerkrieg.

Am 11. September 2001 saßen alle Algerier vor dem Fernseher. Wir sahen, wie der Terror, der seit zehn Jahren bei uns tobt, auf Amerika übergriff. Und wir alle haben mit den Amerikanern gefühlt. Aber: Nie hat man sich für uns Zivilisten in Algerien interessiert, und nun sollen wir mit den Amerikanern den Terror bekämpfen. Wie soll ein Volk, das während zehn Jahren unbeachtet unter schlimmerem Terror litt, dem Westen glauben, wenn dieser von Menschenrechten spricht? Wir glauben ihm nicht mehr. Der 11. September hat uns nämlich gelehrt, dass der Westen Geschäfte machen will und eigene Interessen verfolgt. Dass es nicht um Menschenrechte geht, sondern um die Rechte des Westens. Ich will nicht provozieren, aber das ist ebenso wahr wie schrecklich.

Die Reaktion des Westens auf den 11. September hat zwischen meinem Volk und Europa einen Abgrund aufgetan, der nur sehr schwer wieder zu beseitigen sein wird. Das Drama meines Landes hat etwas Allgemeingültiges: Wenn man die Schrecken sieht, unter denen ein fremdes Volk leidet, kann man nur mitfühlen, wenn man sich an die Schrecken der eigenen Geschichte erinnert.

In Algerien hofften wir, dass die Welt nach dem 11. September begreifen würde, was wir so lange erduldeten. Und was hören wir einige Tage später? Die Terrorattacken in New York seien ein Zusammenprall der Zivilisationen. Wir halten sehr viel vom Westen, gerade deshalb frage ich mich, wie die Mächtigen einer derart hoch entwickelten Gesellschaft solche Ungeheuerlichkeiten sagen können. Wer von einem Zusammenprall der Zivilisationen spricht, geht davon aus, dass mindestens zwei Zivilisationen existieren. Es gibt jedoch nur eine einzige menschliche Zivilisation!

Die Geschichte ist keine gerade Linie, der Westen hat von uns genommen, und wir haben vom Westen genommen. Die griechische Philosophie zum Beispiel, die als Basis der westlichen Kultur gilt, wurde von den Arabern übersetzt und verbreitet. Die menschliche Zivilisation ist vielseitig, reich und differenziert, und es gibt nur eine einzige.

Die Europäer sollten aus eigener Erfahrung wissen, wie es ist, in einem totalitären Staat zu leben. Wir Frauen und Oppositionspolitiker wussten schon vor zehn Jahren, dass die Fundamentalisten finanziell und logistisch von außen unterstützt werden. Geglaubt hat uns niemand. Man hielt uns für Verrückte, die überall Feinde sehen. Erst seit dem 11. September sind wir mit unseren Ansichten nicht mehr allein.

Die Wahrheit ist: Länder wie Afghanistan und Algerien sind nicht aus Prinzip fundamentalistisch. Der Fundamentalismus ist kein grundlegendes Element der muslimischen Kultur. Ich möchte allen Ausländern am liebsten meine Eltern vorstellen. Meine Eltern, die meiner Ansicht nach zu den besten Menschen der Welt gehören, weil sie alles taten, damit ich eine gute Ausbildung erhielt und frei leben konnte. Und dennoch sind sie gute Muslime.

Die Frauen, die in Algerien gegen den Fundamentalismus kämpfen, tun dies als muslimische Frauen. Sie lieben Freiheit und Demokratie ebenso wie die Frauen in Europa. Freiheit ist für uns heilig, weil sie die Grundlage aller anderen Werte darstellt. Unglücklicherweise wurde dies nie richtig verstanden. Und darum mussten wir Algerierinnen ganz allein gegen ein schreckliches Monster, den bewaffneten Arm des FIS, kämpfen.

Die Fundamentalisten haben alle dasselbe Ziel: die Errichtung eines islamischen Staates, der sich auf die Scharia beruft, das islamische Recht. Die Politik soll der Religion völlig unterworfen werden. Gewalt als Mittel zur Machtergreifung ist allerdings kein Monopol fundamentalistischer Parteien. Die Islamische Heilsfront hat zwar diesen Weg gewählt, doch Algerien hat auch islamische Parteien, die für Demokratie und Pluralismus eintreten.

Der FIS war Anfang der 90er Jahre gespalten: Eine Fraktion glaubte an den demokratischen Weg, die andere nicht. Bis heute. Ali Benhadj, der charismatische Chef des FIS, sagte kürzlich in einem Interview, dass er nicht an die Demokratie glaube. Wo die Macht des Volkes herrsche, könne Gott nicht herrschen. In seiner eigenen Logik ist er sehr ehrlich, er sagt genau, was er will. Deshalb ist er für mich nicht gefährlich. Ich habe mehr Angst vor denen, die von Menschenrechten und Demokratie reden - und uns Frauen trotzdem zu Sklavinnen machen.

Es gibt hausgemachte Gründe für den Aufstieg der Fundamentalisten in Algerien, sie dürfen nicht verschwiegen werden: Die Geschichte des Landes seit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahre 1962, die brutalen Militärregime, die Armut, die Arbeitslosigkeit, die Wohnungsnot, die Identitätskrise. Wir Algerier kämpfen gegen die Missstände in unserem Land, wir wollen Demokratie.

Auf der anderen Seite wissen wir aus der Geschichte: Fundamentalistische Gruppen wie die Muslimbrüder in Ägypten wären ohne Zutun des Westens nicht entstanden. Dabei ging und geht es immer noch um Öl, Geld und Macht. Der Westen ist kein Monster, aber wenn wir dafür kämpfen, das Leben von Zivilisten zu schützen, dann ist Rücksichtnahme fehl am Platz. Der Westen muss mithelfen, den Fundamentalismus aufder Welt auszurotten.

Wir haben in unserer Einsamkeit allerdings begriffen, dass wir unsere Geschichte in die eigenen Hände nehmen müssen. Doch nie haben wir verstanden, warum uns Europa im Stich ließ. Außer einigen wenigen Persönlichkeiten, wie Alice Schwarzer, Richard Labévière, André Glucksmann, und einigen isolierten feministischen Gruppierungen hat sich niemand für uns eingesetzt. Europa schaute zu, wie wir starben. Mehr noch: Europa sagte, wir wissen nicht, wer in Algerien tötet. 

Ich bin Parlamentsabgeordnete der Oppositionspartei "Sammlung für Kultur und Demokratie" (RCD) und damit mit verantworrlich, das Leben meiner Landleute zu beschützen. Hätte ich die Macht, ich würde es unserer eigenen Armee verbieten, Fundamentalisten in den Bergen zu bombardieren. Das Risiko, dass dabei auch Zivilpersonen umkommen, ist zu groß. Dasselbe gilt für eine westliche Armee, auch wenn sie angeblich im Namen der Menschenrechte kämpft.

Heute kämpft Europa Seite an Seite mit Amerika gegen den Terrorismus. Ich will dies nicht bewerten. Auf Präsident Bushs Terrorliste befinden sich zwei Organisationen, die in Algerien noch immer töten. Sie verstecken sich in den Bergen. Wir Algerier müssen selbst etwas gegen unsere Extremisten unternehmen. Ich will in meinem Land keine fremden Armeen sehen, die unsere Berge bombardieren, so wie in Afghanistan. Wir waren zehn Jahre lang allein, wir sterben allein. Wir wollen keine Soldaten, keine Bomben.

In Algerien leben starke Frauen, die mit unglaublichem Mut ein Ziel verfolgen: Freiheit. Wenn wir unser Leben hergeben müssen, damit unsere Töchter eine Zukunft haben, dann werden wir es tun.

Übersetzung aus dem Französischen von Claudia Egger.

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