Friedenspreis für Swetlana Alexijewitsch
"Ich glaube, dass die Menschheit nur durch Mitgefühl überleben kann.“ Diesen Satz sagte Swetlana Alexijewitsch jüngst in einem Interview. Sie selbst hat dieses so erwünschte und existenzielle Mitgefühl im Übermaß. Seit Jahrzehnten hört sie den Menschen zu, entlockt ihnen Erinnerungen und Geständnisse aus den Untiefen der Verdrängung. Der heroischen Geschichtsschreibung setzt sie das einzelne Schicksal entgegen. Das Gesagte verdichtet sie zu so beklemmenden wie poetischen Monologen.
Als Swetlana Alexijewitsch, 65, in der Frankfurter Paulskirche den „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ entgegennahm, betrat eine eher kleine, eher unscheinbare, ungewöhnlich bescheidene Frau die dramatische Bühne. Das gewaltige Herz, in dem sie all das Grauen, das sie Frauen, Männern und Kindern entlockt, birgt, spiegelt sich nur bei genauem Hinsehen in ihren Augen. Das Grauen von Opfern wie Tätern.
"Ich glaube, dass die Menschheit nur durch Mitgefühl überleben kann“
Alexijewitsch, die gelernte Journalistin, ist zur Chronistin eines ganzen Volkes geworden. Ihre Geschichten reichen von der Zeit des „Vaterländischen Krieges“ bis in die heutige postsowjetische Ära und ihrem „Kult des Konsums“, in der jeder zweite unter 30 für Stalin schwärmt. Die „Secondhand-Zeit“ nennt die einst überzeugte Kommunistin das; eine Zeit ohne eigene Ideen und Ideale, alles nur geliehen. Vom Westen.
Angefangen hat die Tochter einer Ukrainerin und eines Russen, beide Lehrer, in den späten 1970er-Jahren mit der Befragung noch lebender Sowjet-Soldatinnen und Partisaninnen, die im Zweiten Weltkrieg gegen Deutschland gekämpft hatten. Sie waren über eine Million. Doch nach dem Krieg galten sie nicht etwa als Helden, wie ihre Kameraden, sondern als Mannweiber oder Huren. Niemand wollte ihnen zuhören.
„Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“, nannte Alexijewitsch das Buch, das 1983 fertig war, aber erst zwei Jahre später unter Gorbatschow erscheinen konnte. Prompt wurde die Autorin beschuldigt, „die Ehre des Großen Vaterländischen Krieges“ beschmutzt zu haben. Sie verlor ihre Stelle bei der Zeitung. Heute hat das Buch eine Auflage von über zwei Millionen Exemplaren und ist in 30 Sprachen übersetzt.
Nicht zufällig folgten „Die letzten Zeugen“; Menschen, die als Kinder sowohl den Krieg wie die Stalinzeit überlebt hatten. Allein aus Swetlanas Familie waren elf Mitglieder den Schergen von Hitler und Stalin zum Opfer gefallen. Dennoch ließ der geliebte Vater sich mit seinem Parteibuch beerdigen. „Wir haben gelernt, für die Freiheit zu sterben – aber nicht, in Freiheit zu leben“, sagt die Tochter.
"Wir haben gelernt, für die Freiheit zu sterben – aber nicht, in Freiheit zu leben"
Dann, 1989 „Die Zinkjungen“. Gespräche mit an Leib und Seele verstümmelten Sowjetsoldaten aus dem verlorenen Afghanistan- Krieg sowie Müttern, die um ihre toten Söhne trauerten, die im Zinksarg zurück kamen. Dieser Afghanistan-Krieg war so sinnlos wie alle Kriege. Die Sowjetunion musste sich, geschlagen von den Taliban, 1989 ebenso zurückziehen wie einst Amerika in Vietnam. „Historiker interessieren sich nur für Fakten, die Gefühle bleiben draußen. Sie werden von der Geschichtsschreibung nicht erfasst“, sagt Swetlana Alexijewitsch. „Ich aber sehe die Welt mit den Augen der Menschenforscherin.“
Hierzulande wirklich bekannt wurde die in Minsk lebende Weißrussin mit ihrem 1997 auf Deutsch erschienenen Buch über den Tschernobyl-GAU, das sie „Eine Chronik der Zukunft“ nannte. Was sich hinter den drei Großbuchstaben GAU für jede einzelne Kreatur und die Natur verbirgt, die Alexijewitsch Jahre danach durchstreifte, erfahren wir in diesem Buch bis hin zu den Tieren - sie mussten in dem verseuchten Gebiet zurückgelassen werden und wurden von den Soldaten erschossen.
Um 2000 wird es wieder eng für Alexijewitsch. Autoritäre Regime sind allergisch gegen AufklärerInnen und HumanistInnen. Präsident Lukaschenko lässt ihre Texte aus den Schulbüchern streichen und ihre Bücher verbieten. Kein Wunder, dass sie die Femen so gut versteht, deren Aktionen sie heute sehr ausdrücklich begrüßt.
Swetlana Alexijewitsch geht ins Exil, wo sie von Buchhonoraren und Stipendien mehr schlecht als recht existieren kann. Zehn Jahre lang lebt sie in westeuropäischen Metropolen – und lernt keine einzige ihrer Sprachen. Die Russin bleibt fremd und beklagt bei ihrer Rückkehr 2010 die „Gefühllosigkeit“ im Westen. Sie sehnt sich nach ihrer Heimat, denn: „Egal, wie es war – es war unser Leben.“
In ihrem jüngsten Buch, der „Secondhand-Zeit“, spürt Alexijewitsch dem „Sowok“ nach, dem Sowjetmenschen, wie sie selber einer ist: „Die sowjetische Zivilisation … Ich beeile mich, ihre Spuren festzuhalten. Die vertrauten Gesichter. Ich frage nicht nach dem Sozialismus, ich frage nach Liebe, Eifersucht, Kindheit und Alter. Nach Musik, Tanz und Frisuren. Nach tausenden Einzelheiten des verschwundenen Lebens.“ Das Buch erscheint jetzt auf Deutsch. Und auch die verfemten Soldatinnen und Partisaninnen, deren Krieg weder ein weibliches noch ein menschliches Gesicht hatte, wurden, aktualisiert von der Autorin, neu aufgelegt.
Ihr nächstes Projekt? "Das spezifisch Russische an der Liebe herausarbeiten"
Und was ist das nächste Projekt dieser so überwältigend menschlichen Swetlana Alexijewitsch? Woran schreibt sie, wenn sie nach der Feier in der Paulskirche zurückkehrt nach Minsk, zu ihrer Familie und den Enkelkindern, die jetzt in die Schule gehen?
Die Chronistin des Krieges schreibt über die Liebe. „Hundert Erzählungen über die Liebe“ sind in Arbeit. „Ich will das spezifisch Russische an der Liebe herausarbeiten“, sagt sie. „Die elementare Emotion, die Zügellosigkeit, die Hoffnung auf Glück – das dann nicht eintritt.“ Könnte es sein, dass auch dieses Buch nicht nur ein russisches, sondern wieder ein universelles wird?
Alle Bücher von Swetlana Alexijewitsch bei Hanser.