Die unsichtbaren Mädchen
Nicht nur im angeschlagenen Ruhrpott ist die Lage an der Lehrstellenfront katastrophal. Dabei tauchen viele junge Frauen in gar nicht erst in der Statistik auf. Zum Beispiel Marina. Oder Linda und Tanja ...
Marina hatte ihren Platz für ein Jahrespraktikum eigentlich schon in der Tasche. „Richtig geil“ war das. Noch während des Schuljahrs hatte die 17-jährige Hauptschülerin, die mit fünf aus Bosnien in den Ruhrpott gekommen war, sich bei heilpädagogischen Kindergärten, KiTas und Jugendheimen in Dortmund beworben. Marina bekam gleich mehrere Zusagen, davon eine von einem kirchlichen Träger in einer „genialen Einrichtung“. Genau da wollte sie hin. Aber: Die Einrichtung sagte plötzlich ab. „Nachdem die mir drei Monate lang einen schriftlichen Vertrag versprochen hatten, hieß es auf einmal: ‚Sie sind doch ein flexibler und offener Mensch. Sie finden bestimmt was anderes.’ Baff!“
In der Zwischenzeit hatte die Schulabgängerin die anderen Praktikumsplätze abgesagt und sämtliche Anmeldefristen für weiterführende Schulen verpasst. Also, was nun? Zahnarzthelferin. „Ich hab halt gedacht: Warum nicht?“ Marina ließ sich beim Arbeitsamt sämtliche Zahnarztpraxen bis Castrop-Rauxel ausdrucken und verschickte an die 40 Bewerbungen. Ergebnis: null. „Dabei hab ich einen Notendurchschnitt von 2,1 auf dem Abschlusszeugnis.“
„Ich hab so viel geweint in der Zeit – das gibt’s gar nicht“, erzählt Marina. „Und ich bin doch nicht die einzige!“
In der Tat. 35.000 Jugendliche waren am 30. September in Deutschland noch ohne Ausbildungsplatz. Im Jahr davor waren es „nur“ 23.400. Dazu gerechnet werden müssen 48.000 SchulabgängerInnen, die in Ermangelung einer Lehrstelle notgedrungen eine Warteschleife einlegen: Sie gehen weiter zur Schule oder besuchen eine sogenannte „berufsfördernde Maßnahme“, halten ihren „Vermittlungswunsch“ aber weiter aufrecht. Die Diagnose des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB): „Die Situation auf dem Ausbildungsstellenmarkt ist ernst.“ Genauer gesagt, ist sie katastrophal.
Die Frage, ob die Lage für weibliche Lehrstellensucher katastrophaler ist als für männliche, könnte man auf den ersten Blick mit Nein beantworten. Denn von den 35.000 Unvermittelten sind 16.300 Mädchen, also „nur“ 46,6 Prozent.
Aber: Es ist Fakt, dass Mädchen die besseren Schulabschlüsse machen. So gingen im Schuljahr 2002 über 54.000 Jungen ganz ohne Abschluss von der Schule ab, aber nur knapp 31.000 Mädchen. Einen Hauptschulabschluss machten 136.000 Jungen (101.000 Mädchen). 194.000 Mädchen gingen mit einem Realschulabschluss ab (182. 000 Jungen). 126.000 Mädchen machten Abitur, aber nur 96.000 Jungen.
Folglich müssten Schulabgängerinnen öfter einen Ausbildungsplatz bekommen als die Jungs – theoretisch. Die Praxis sieht anders aus. So stellt die Bundesanstalt für Arbeit fest: „Das lässt den Schluss zu, dass Mädchen gegenüber Jungen bei gleichen schulischen Voraussetzungen schlechtere Chancen auf einen Ausbildungsplatz haben.“
Dieses Fazit der Nürnberger Statistiker wird von Praktikerinnen an der Berufsberatungsfront bestätigt.
Okay, die Zeiten in denen zwei Drittel der „Unversorgten“ weiblich waren und das Schlagwort von den „Töchtern ohne Zukunft“ die Runde machte, sind vorbei. Aber: „Die Mädchen haben nicht die Chancen, die sie aufgrund ihrer Leistung haben müssten“, bedauert Ulrike Hellmann von der Dortmunder „Kommunalstelle Frau & Wirtschaft“.
In Banken, Versicherungen und sogar bei der Polizei ist der Anteil weiblicher Auszubildender in den letzten Jahren zwar kontinuierlich gestiegen. Aber in den gewerblich-technischen Berufen „haben es die Mädchen nach wie vor schwer“. Ein Trend, der sich bis zu den Uni-Absolventinnen fortsetzt. „Fast für jedes Studienfach gilt: Akademikerinnen sind häufiger arbeitslos als Akademiker. Bei traditionellen ‚Männerfächern’ ist dieser Unterschied aber besonders groß“, stellt das „Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung“ fest.
Aber auch die „typisch weiblichen“ Berufe bieten keine Garantie auf einen Ausbildungsplatz. In der weiblichen Top-Ten der Ausbildungsberufe stehen auf den ersten fünf Plätzen betonhart 1. die Büro- und die Einzelhandelskauffrau, 2. die Arzt- und die Zahnarzthelferin und 3. die Friseurin. Die Berufe aber, in denen es bis zum 30. September mehr Lehrstellen als BewerberInnen gab, sind allesamt traditionelle „Männerberufe“: Landwirt, Zentralheizungs- und Lüftungsbauer, Bäcker, Fleischer, Maurer undsoweiter.
„Es gibt einfach mehr Berufe, in die die Jungs reingehen können“, meckert Marina, die kein einziges Mädchen kennt, das in einem technischen Beruf arbeitet. Marina weiß auch, dass die Sache mit der Zahnarzthelferin für sie nicht wirklich der Bringer gewesen wäre. Aber sich als Kfz-Mechanikerin bewerben oder als Malerin und Lackiererin wie die Jungs in ihrem Freundeskreis? Nee. „Ich hab keine Lust, da als einzige Frau rumzustolzieren und reißerische Blicke auf mich zu ziehen“, sagt zarte Blonde. „In so einem Beruf herrschen ja wohl kaum Gleichberechtigung und Respekt.“ Marina überlegt. „Also, wenn’s ne reine Frauenausbildung fürs LKW-Fahren gäbe, dann würd mich das echt reizen. Unser Körper ist ja nicht nur dafür gebaut, um Zuckerwürfel hochzuheben.“
Nach ihrer gescheiterten Lehrstellensuche machte Marina schließlich doch noch ein Praktikum, bei dem es so ungerecht zuging, dass sie es verzweifelt abbrach. Also, wie weiter? Weiter zur Schule gehen und ihren Schulabschluss aufpeppen zur „Fachoberschulreife mit Qualifikation“. „Damit ich wenigstens irgendwas mache. Sieht ja sonst blöd aus.“ Dass es ihr „wirklich was bringt“, glaubte Marina selbst nicht.
Typisch Mädchen. Denn Mädchen verschwinden, viel öfter als Jungen, heimlich, still und leise aus der Arbeitslosenstatistik. Zum Beispiel, indem sie, frustriert von der erfolglosen Lehrstellensuche, weiter zur Schule gehen, obwohl sie es eigentlich gar nicht wollen.
"Mädchen tendieren zur schulischen Warteschleife“, weiß Brigitte Killing von der „Regionalstelle Frau und Wirtschaft“ in Aachen. Die NRW-Koordinatorin für Berufswahlorientierung ist sich sicher, dass vor allem die jungen Lehrstellensucherinnen von den Berufsberatern beim Arbeitsamt zum Schulbesuch gedrängt werden, „damit die saubere Statistiken haben“. Die Jungen seien offenbar weniger kompromissbereit. Kollegin Ulrike Hellmann bestätigt: „In der zweiten Hälfte der zehnten Klasse sind die Mädchen schon resigniert und sagen: Na ja, dann geh ich halt weiter zur Schule.“ Es gibt bei den Mädchen eine große „verdeckte Arbeitslosigkeit“, eine „unheimliche Grauzone“, klagen die Expertinnen.
Übrigens ein Phänomen, das auch bei Akademikerinnen grassiert. „Frauen sind da grundsätzliche perfektionistischer“, weiß Angela Andersen vom Deutschen Akademikerinnenbund. „Die machen dann nach dem Uniabschluss lieber das zehnte Praktikum, bevor sie sich arbeitslos melden. Bis man ihnen sagt: ‚Jetzt sind Sie leider zu alt für den Job.’ Oder sie verschwinden in der Familienphase.“
Stichwort Familienphase. Noch so eine Problemgruppe junger Frauen, die aus der Arbeitslosenstatistik verschwindet. Die zwölf Frauen, die im hellen Seminarraum in der Deutschen Straße Nr. 10 Infinitivsätze und E-mails nach DIN 5008 in ihre Computertastaturen hacken, sind fast alle noch Teenager. Ein paar von ihnen haben gerade mal die 20 überschritten. Sie tragen coole Schlaghosen und hippe Haarspangen. Und: Sie haben alle ein Kind. Oder zwei.
Linda ist in der neunten Klasse schwanger geworden, mit 14. Ihre Tochter Joana ist heute fast vier. Die 19-jährige mit den Sommersprossen und dem Pferdeschwanz hat sich, nachdem sie zwei Jahre beim Kind geblieben war, als Arzthelferin und Rechtsanwaltsgehilfin beworben. 20 Bewerbungen, ein Vorstellungsgespräch, Absage. „Ich nehm’ an, das war wegen dem Kind.“
Tanja war 17, als ihr Schwangerschaftstest positiv ausfiel, und eigentlich gerade dabei, ihre Fachhochschulreife zu machen. Als sie sich nach langen Zweifeln schließlich gegen ein Kind entschieden hatte, trat bei der obligatorischen Schwangerschaftsberatung eine Dame vom Jugendamt auf den Plan. „Die hat mich total bequatscht und überredet, das Kind doch zu kriegen.“ Jetzt sitzen Linda und Tanja zusammen einem Projekt namens „Berufsausbildung für junge Mütter“ und absolvieren gerade ein Betriebspraktikum als Einzelhandelskauffrau und Groß- und Außenhandelskauffrau.
Schon zum zweiten Mal wird in dem ehemaligen Zechengebäude im angeschlagenen Dortmunder Norden eine Gruppe junger Frauen für einen Ausbildungsplatz trainiert. Ziel des Projekts: Die „Einmündung“ in eine ganz normale Ausbildung. Im Schatten des Förderturms, der schon seit Jahren keine Kumpel mehr befördert – die Arbeitslosenquote liegt hier über 14 Prozent – büffeln die jungen Mütter Grammatik und Bürokommunikation. Projektleiterin Christel Wetzold und ihre Kollegin Anja Jensen sorgen für einen KiTa-Platz und knüpfen Kontakte zu Betrieben. Der Andrang ist groß: Die Hälfte der Bewerberinnen musste abgelehnt werden.
Aus der Taufe gehoben hat das Projekt der „Verein zur Förderung der Frauenerwerbstätigkeit im Revier“, kurz: VffR. Die Initiative ging vom Dortmunder Arbeitsamt aus, „weil dort immer mehr junge Mütter aufgetaucht sind.“
Was in Ostdeutschland schon vor Jahren als Trend ausgemacht wurde – junge Frauen flüchten vor beruflicher Perspektivlosigkeit in die Mutterschaft – ist nun auch im immer mehr verblühenden Westen angekommen. Über 2.700 Teenagerschwangerschaften pro Jahr meldet das Statistische Bundesamt für 2001, und von der weiblichen Berufsberatungsfront wird durchgängig gemeldet: Tendenz steigend.
„Uns brechen besonders stark die Ausbildungsplätze im unteren Segment weg: Schwesternhelferin, Produktionshelferin, Kinderpflegerin“, klagt Brigitte Killing. „Und da ist die Gefahr sehr groß, dass die jungen Frauen in die Schwangerschaft stolpern und denken: Da hab ich ‘ne Aufgabe.“
Meist haben die Mädchen wg. Schwangerschaft die Schule ohne jeden Abschluss abgebrochen, sich dann um ihre Babies gekümmert und oft Jahre im Haus verbracht. Ihre Chancen auf dem Ausbildungsmarkt: null. 80 Prozent der jungen Mütter leben von Sozialhilfe.
Linda und Tanja hatten Glück. Sie haben sich zwar beide von den Vätern ihrer Töchter getrennt, aber gute Unterstützung von ihren Eltern. Der Normalfall ist das allerdings nicht. „Bei fast allen Teilnehmerinnen ist die familiäre Situation sehr schwierig“, umschreibt Projektleiterin Wetzold die Tatsache, dass einige Teilnehmerinnen vor der elterlichen, genauer: väterlichen Gewalt geradewegs in die nächste Gewaltbeziehung zu ihrem Ehemann gestolpert sind. So manches Mal kommt eine junge Mutter mit einem blauen Auge in den Unterricht.
Mädchen, die besonders häufig „in den Familien versacken“, wie Ulrike Hellmann beobachtet, sind Migrantinnen. Dabei machen auch die jungen Türkinnen oder Marokkanerinnen bessere Schulabschlüsse als ihre Brüder. „Trotzdem ist es für sie immer noch schwerer, einen Ausbildungsplatz zu finden“, klagt Angela Dietz-Jakobsen. Die Lehrerin für Berufsvorbereitung arbeitet im „Planerladen“, der ebenfalls in der Dortmunder Nordstadt beheimatet ist, einem sogenannten „Stadtteil mit Erneuerungsbedarf“. In dem ehemaligen stolzen Arbeiterviertel leben heutzutage viele Arbeitslose. Und Studenten. Und Ausländer. In den „Planerladen“ kommen junge Frauen „mit Migrationshintergrund“ zum Bewerbungstraining und zur Berufsberatung. Und da muss Lehrerin Dietz-Jacobsen sie „ermutigen, sich zu bewerben.“ Denn gerade diesen jungen Frauen „fehlt es oft an Selbstbewusstsein. Sie verlieren schnell den Mut, weil sie denken: Mich will keiner.“
Ungewollt schwanger werden sie zwar selten, weil ihre Sexualität einer strengen Kontrolle unterliegt, aber: „Sie heiraten früh und bekommen dann ziemlich schnell Kinder“, weiß die Pädagogin. „Innerhalb der Familie bekommen sie dann Anerkennung. Aber die beruflichen Perspektiven sind ihnen verbaut.“ Eine weitere Folge: „Sie verschwinden aus der Statistik.“
Auch Marina belastet die Arbeitslosenstatistik im Moment nicht mehr. Sie macht zur Zeit wieder ein Praktikum, diesmal allerdings ein angenehmes. Sie arbeitet im Dortmunder Mädchenzentrum „Kratzbürste“. Aber auch die „Kratzbürste“ weiß nicht, wie lange es sie noch gibt, denn auch das Mädchenzentrum hat gerade den blauen Brief aus Düsseldorf bekommen, der dramatische Kürzungen ankündigt. Marinas Mutter, 41, ist auch arbeitslos. „Dabei ist meine Mama Immobilienfachkauffrau und hat was mit Informatik gemacht und alles supergut abgeschlossen. Aber sie sucht sich blöd und findet nix!“ Wenn es nach Marina ginge, „müsste mir der Herr Schröder mal erklären, wie das alles so weit kommen konnte.“
Sie hofft, dass sie nach ihrem Praktikum in der „Kratzbürste“ die Anna-Zillken-Schule für Heilpädagogik besuchen und doch noch in den sozialen Bereich kann. „Ich muss ja nicht Ärztin oder Architektin werden. So ein normaler Standardberuf wäre total okay“, sagt Marina. „Aber komm erst mal dahin. Das ist schon schwer genug.“