Alice Schwarzer schreibt

Keine kritischen Fragen an Muslime

© Bettina Flitner
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Alice Schwarzer: Hast du den Eindruck, dass sich seit den Attentaten in Paris etwas verändert hat innerhalb der muslimischen Szene in Deutschland?
Necla Kelek: Ich finde es sehr positiv, dass die Verbände sich so deutlich von Gewalt und Terrorismus distanzieren. Das ist neu. Wir werden sehen, was dem konkret folgt: Ob diese Verbände, die ja alle abhängig sind – wie die Ditib-Moscheen von der Erdoğan-Partei AKP –, wirklich reformbereit sind. Was hieße, dass man unabhängig über den Islam nachdenken darf.

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Wie ist denn jetzt die Stimmung bei den muslimischen Menschen?
In den muslimischen Ländern haben wir nur Wächter und Denkverbote. Darum wäre es an uns Musliminnen und Muslimen in den freiheitlichen Ländern, unsere Chance zu nutzen: Endlich kritische Fragen
auch an den Islam zu stellen! Wo, wenn nicht jetzt und nicht hier?

Umfragen sagen, 90 Prozent aller Muslime in Deutschland seien pro Demokratie.
Da frage ich mich: Was verstehen diese Menschen unter Demokratie? Erdoğan redet in der Türkei von Demokratie. Mursi hat in Ägypten von Demokratie gesprochen. Ich fürchte, sie verstehen unter Demokratie, dass wir tun, was die Mehrheit will. Wenn man nachhaken und fragen würde: Ist Demokratie für euch auch Gleichberechtigung von Frauen und Männern – dann sähe das wohl schon anders aus. Sind diese Fragen gestellt worden? Vermutlich nicht. An Muslime werden in Deutschland heute keine kritischen Fragen gestellt.

Drei Millionen der 4,5 Millionen Menschen aus dem muslimischen Kulturkreis in Deutschland sind Türken. Du bist oft in der Türkei. Was für einen Eindruck hast du?
Die Entwicklung unter Erdoğan ist beunruhigend. Sobald der politische Islam die Macht hat, fängt er an, die Scharia anzuwenden. Die Türkei ist auf dem Weg in den Gottesstaat.

Und was bedeutet das für die Türken in Deutschland?
Mit den türkischen Einwanderern sind auch politische Einstellungen eingewandert: rechtsextreme graue Wölfe, linksextreme Strömungen, religiöse Fundamentalisten – und alle miteinander sind türkische Nationalisten. Diese Minderheit der politisierten Türken hat sich organisiert und bestimmt hierzulande. Wir, die unabhängigen Türkischstämmigen, sind die einzigen, die nicht organisiert sind. Es sind die Anderen, die Einfluss ausüben auf die Regierung, die Parteien, die Medien. Sie sind die Wächter des Türkentums bzw. des Islams. Was auch damit zu tun hat, dass die Türkei ihre Landsleute nicht in die Freiheit entlässt. Sie werden beeinflusst und beobachtet. Muslime entlassen die Menschen nicht in die individuelle Freiheit. Darunter leide nicht nur ich.

Ist das typisch nur für die Türkei oder auch für andere islamische Länder?
Das ist typisch für alle islamischen Länder. Der Islam hat große Probleme, in der Moderne anzukommen; also zuzulassen, dass es eine individuelle Freiheit gibt und der Einzelne ohne Bevormundung seine Meinung sagen kann. Alle islamischen Regierungen sind von den Religiösen abhängig – und umgekehrt.

Das hierarchische Prinzip zieht sich durch?
Der Islam verlangt Unterwerfung. Und die islamischen Eltern verlangen die Unterwerfung der Kinder, die Männer die der Frauen. Der öffentliche Raum ist Männersache, den Frauen bleibt das Private.

Was ist für dich der Unterschied zwischen Islam und Islamismus?
Der Islamismus ist eine Zuspitzung des Islam, aber nicht von ihm getrennt.

Aber es gibt doch emanzipierte Muslime. Dich zum Beispiel.
Ja, aber wir haben weder mit den Verbänden noch mit dem Koran etwas zu tun. Da hat eine Säkularisierung stattgefunden. Das heißt: Ich kann kulturell und spirituell eine Religion leben, muss dem aber nicht politisch folgen. Diese politische Unabhängigkeit haben nur wenige Muslime. Ich sage ganz frei heraus: Der Islam, so wie er sich heute darstellt, kann nicht Teil einer freiheitlichen Gesellschaft sein! Wir Muslime sind ein Teil Deutschlands, das ist richtig. Aber dieser Unterwerfungs-Islam ist kein Teil Deutschlands.

Wo aber sind dann die Kräfte, die den Islam reformieren könnten?
Wir haben so viele türkischstämmige Studierende in Deutschland! Sie sind jetzt herausgefordert, den Islam zu reformieren. Sie sind auch die Hoffnung der aufgeklärten Menschen in den islamistisch
beherrschten Ländern. Die Reform des Islam kann nur vom Westen ausgehen.

Du bist eine der schärfsten IslamkritikerInnen in Deutschland. Und du bist sogar so weit gegangen, Sarrazin zu unterstützen – wofür du viel Kritik aus den eigenen Reihen einstecken musstest.
Ich bereue inzwischen sehr, dass ich Sarrazin zunächst unterstützt habe. Ich dachte, es geht ihm um eine konstruktive Kritik. Aber es geht ihm nur ums Rechthaben.

Und was unterscheidet deine Kritik von seiner?
Ich möchte die Söhne und Töchter aus den muslimischen Familien in die Freiheit begleiten! Ich möchte eine wirkliche Integration und Emanzipation.

Sarrazin wurde zu recht auch nackter Biologismus vorgeworfen. Hat dich das nicht von Anfang an irritiert?
Sarrazins biologistisches Erklärungsmuster ist selbstverständlich unhaltbar. Ich hätte das von Anfang an schärfer sehen müssen. Dass mich damals vor allem die von ihm benannten Fehler in der Integration interessierten, die er ja klar angesprochen hat, war richtig. Dass ich dabei seine Fehler übersehen habe, war ein Fehler.

Du bist mit deinen Eltern eingewandert und hast in deinen Büchern beschrieben, wie dein zuvor fortschrittlicher Vater in Deutschland plötzlich rückständig wurde.
Mein Vater war Republikaner. Die Republik zu lieben, habe ich von ihm gelernt. Meine Eltern sind jeden Abend am Bosporus spazieren gegangen: die ganze Familie, Kinder, Frauen und Männer. So etwas gab es vor der Republik nicht. Mein Vater hat sogar Alkohol im Ramadan getrunken. Aber als wir dann nach Deutschland kamen und mein Vater mit den 68ern und der „sexuellen Freiheit“ konfrontiert wurde, da war er schockiert. Das war für ihn eine Bedrohung. Er hat beschlossen, sofort das Land zu verlassen und ist dann auch nach fünf Jahren zurückgegangen. Aber wir, meine Mutter, mein Bruder und ich, wir sind hiergeblieben. Dass ich studieren konnte, habe ich meiner Mutter zu verdanken.

Dein Sohn, der einen deutschen Vater hat, hat ein Jahr lang in der Türkei studiert.
Ja. Ich bin ganz glücklich, dass ich jetzt Türkisch mit ihm sprechen kann. Es hat ihm Freude gemacht, seine türkischen Wurzeln und seine Familie zu entdecken, aber er war auch sehr schockiert. Er war ja während des Gezi-Park-Aufstandes dort. Und er war schockiert darüber, wie die freie Meinung in der Türkei niedergeknüppelt wird. Und wie stark der Druck an einer religiösen Universität ist. Fünfmal am Tag, das erste Mal morgens um vier Uhr, müssen die Studenten beten. Er war der einzige, der sich geweigert hat.

Du bist seit zwei Jahren aktiv bei Terre des Femmes und auch dort im Vorstand.
Die Arbeit mit Frauen bei Terre des Femmes ist mir sehr wichtig, ich mache sie mit Freude, weil es so konkret ist! Wir haben in den vergangenen Jahren zwei Frauenhäuser in der Türkei aufbauen können. Als Kontaktfrau kann ich zwei, drei Mal im Jahr in der Türkei sein und bekomme hautnah mit, wie es den Frauen dort ergeht. Ein ganz großes Problem sind die Kinderehen. Da machen wir gerade Aufklärungskampagnen.

Und die Autorin Necla Kelek?
Ich sitze gerade an einem Buch über meine Kindheit. Am Beispiel meiner Familie will ich aufzeigen, wie die anatolische Bevölkerung aufgebrochen ist in die Freiheit. Meine Eltern sind sechs Monate nach der Hochzeit nachts mit zwei kleinen Köfferchen, ohne ihre Mütter zu informieren, nach Istanbul aufgebrochen. Das habe ich von ihnen geerbt: Ich kann nur in der Freiheit leben.

 

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