Alice Schwarzer schreibt

Rassismus sticht Sexismus

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In der Nacht zum 1. Oktober 2017 ist O. J. Simpson aus einem Gefängnis im US-Staat Nevada entlassen worden. Eine Richterin hatte ihn für „bewaffneten Überfall mit Geiselnahme“ zu 33 Jahren Gefängnis verurteilt – er kam nach neun Jahren frei.

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Der Raubüberfall war eher ein Schmierentheater gewesen, bei der Verurteilung schwang wohl ein Verbrechen mit, für das der berühmte Football-Spieler nie strafrechtlich belangt worden war: das blutige Massaker am 12. Juni 1994 an Simpsons Ex-Frau Nicole und einem ihrer Bekannten, Ron Goldman. Vor dem Haus in Los Angeles schwammen die Leichen der beiden im Blut, Nicole war fast der Kopf abgetrennt worden. Währenddessen schliefen die beiden Kinder der Simpsons im ersten Stock.

Obwohl die Beweise „erdrückend“ gewesen waren und die Staatsanwältin versicherte, „noch nie in meinem Leben einen Fall mit so einer eindeutigen Beweislage gesehen“ zu haben, sprachen die zwölf Geschworenen O. J. Simpson frei. Der Angeklagte war schwarz – und die Geschworenen waren überwiegend schwarz und weiblich. Die beiden Opfer waren weiß. Eine der Geschworenen erinnert sich heute: „Es ging uns nicht um Simpson. Das Urteil war die Rache für Rodney King. Die Rache für 400 Jahre Unterdrückung.“

Rodney King war das damals letzte Opfer von vielen gewesen bei Zusammenstößen zwischen der Polizei von Las Vegas und der schwarzen Bevölkerung. Er wurde halb totgeschlagen, ohne Folgen für die Täter. Der Tod von Nicole allerdings, nach dem ein schwarzer Mann beschuldigt wurde, eine weiße Frau ermordet zu haben, hatte keinen rassistischen Hintergrund. Er hatte einen sexistischen Hintergrund: Es ging um einen gewalttätigen, besitzergreifenden Mann und seine seit Jahren von ihm misshandelte Frau.

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Doch eines ist gleich: Waren bisher immer wieder schuldige Weiße nicht verurteilt worden, so wurde jetzt ein wohl schuldiger Schwarzer nicht verurteilt. Beides auf Kosten der Opfer.

Kurz nach dem Freispruch sprach ein anderes Gericht in einem Zivilverfahren Simpson schuldig. Goldmanns Familie hatte den Prozess angestrengt, das Gericht gestand ihr 33 Millionen Dollar Schmerzensgeld zu. Simpson hat bis heute keinen Cent gezahlt.

Über das nationale Drama hat Ezra Edelman eine überwältigende, siebenstündige Dokumentationsserie gedreht und dafür im Frühjahr einen Oscar erhalten: „O. J. Simpson – Made in America“. Edelman zeigt den Aufstieg und Fall des Nationalhelden und verfügt dabei über ein reiches Originalmaterial: Jeder Karriereschritt von O. J. ist von den Medien und von Amateuren gefilmt worden, bis ins innerste Privatleben hinein; in allen drei Prozessen gegen Simpson durfte im Gerichtssaal lückenlos gefilmt werden; und Beobachter wie (Ex)Freunde waren bereit, sich zu erinnern. An den netten O. J., an den grausamen O. J.

Es entstand ein Sittenbild, das nicht nur eine große Lektion in Rassismus und Sexismus ist, sondern auch eine Lektion in Sachen Rechtsstaat bzw. Recht und Gerechtigkeit. Ausgerechnet Simpson, der nie hatte schwarz sein wollen und mit dem Satz berühmt wurde: „Ich bin nicht schwarz, ich bin O. J. Simpson“, ausgerechnet er ließ sich nun von dem bekannten schwarzen Menschenrechtler Johnnie Cochran Jr. verteidigen.

Cochran setzte alles auf die Rassismus-Karte. Und es gelang ihm tatsächlich, einer breiten Öffentlichkeit weiszumachen, hier stünde kein Verbrechen zur Verhandlung, sondern eine Hautfarbe. Der Verteidiger verführt die zwölf schwarzen Geschworenen trotz überwältigender Gegenbeweise zum Freispruch. Und die Medien zogen mit. Freigesprochen – also unschuldig!

21 Jahre vor der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten von Amerika war der Fall Simpson allerdings nicht die erste große Probe aufs Exempel der Strategie Fake News. Mit dem gefeierten Freispruch von Simpson hatte Amerika ein zweites Mal seine Ehre verloren. Das erste Mal hatte das Land der unbegrenzten Möglichkeiten seine Ehre bei all den Freisprüchen für Rassisten verloren, die nie verurteilt worden waren für ihre Verbrechen gegen Schwarze.

Der Football-Star O.J. Simpson in Aktion.
Der Football-Star O.J. Simpson in Aktion.

Noch heute, 23 Jahre später, sagen drei von vier schwarzen AmerikanerInnen: Simpson war unschuldig. Und drei von vier weißen AmerikanerInnen sagen: Simpson war schuldig. Und schon 1995 jubelten die meisten Schwarzen (sowie etliche wohlmeinende Weiße beider Geschlechter) nach Simpsons Freispruch. Nur einige weiße Frauen demonstrierten auf der Straße mit einem Schild: „Die Jagdsaison auf Frauen ist eröffnet.“

Simpsons skrupelloser Verteidiger, der geachtete Menschenrechtler Cochran, hatte erfolgreich im Namen des „N-Wortes“ („Nigger“) plädiert und einfach allen Belastungszeugen unterstellt, Rassisten zu sein. Am Ende dieses eines Rechtsstaates unwürdigen Prozesses erklärte die Staatsanwältin resigniert: „Er war so viel größer als wir. Aber ich kenne auch ein N-Wort: Nicole.“ In der Tat, es war – wie bis heute in den meisten Fällen der sexistischen Gewalt – in dem Prozess 1995 um vieles gegangen – nur um eines nicht: das Opfer Nicole.

Lange her? Nicht unbedingt. Die Spannung zwischen Schwarzen und Weißen ist in Amerika seither nicht weniger geworden und auch der Sexismus feiert Urstände. So konnte O. J. Simpson jetzt nur darum früher entlassen werden, weil dem vielfach der Misshandlungen Überführten – seine Frau Nicole hatte über Jahre immer wieder die Polizei alarmiert und gewarnt: „Er wird mich umbringen!“ – im Staat Nevada die langjährigen Misshandlungen seiner Ehefrau beim Bewährungsverfahren nicht angelastet wurden. Die „Häusliche Gewalt“ gehört noch nicht einmal zum Fragenkatalog des Bewährungsausschusses.

Über 13 Millionen AmerikanerInnen verfolgten im Juli im Fernsehen live die Verhandlung über Simpson vor dem ­Bewährungsausschuss. Doch weder die Tatsache, dass sexistische Gewalt vor dem ­Bewährungsausschuss nicht zählt, noch die, dass Simpson noch nicht einmal unter Eid aussagen musste, löste Empörung aus.

Bereits vor seiner Entlassung kündigte Simpson, der als Sportstar auch Filme gedreht hatte, neue Filmpläne an. Finanzielle Sorgen muss er sich auf jeden Fall nicht machen: Die Nationale Football-Liga, für die er 1979 zum letzten Mal antrat, zahlt Simpson eine lebenslange Rente von 25.000 Dollar. Im Monat.

Alice Schwarzer

Ezra Edelman: „O.J. Simpson – Made in America“, Dokumentarfilm 2016

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