Die Vulva-Attacke

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Die Ms.-Herausgeberin Gloria Steinem prägte den Ausdruck der "Da-unten-Generation" für Frauen, die ihre Jugend vor den 1970er Jahren durchlebt hatten. 'Da Unten' bezog sich vage auf die Organe, die mit weiblicher Sexualität zu tun hatten, ein dunkler, gefährlicher Ort, über den man besser schwieg. Und 'Generation' meinte, dass sich das Leben von Frauen und Mädchen seither radikal verändert hat, wozu Gloria Steinem als eine der Frontfrauen der zweiten Welle der Frauenbewegung in Amerika maßgeblich beigetragen hat.

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Bezeichnenderweise ist der Bereich, der von dieser Revolution weitgehend unberührt geblieben ist, jedoch anscheinend nach wie vor ausgerechnet der 'da Unten'. Es ist immer noch dunkel an dem Ort, über den so wenig gesprochen wird, dass das Wissen um die Nervenbahnen, die Erregung und das Lustempfinden vom zentralen weiblichen Geschlechtsorgan, der Klitoris, ins Gehirn transportieren, nur rudimentär bis gar nicht vorhanden ist. Entsprechend wird auch bei Operationen nicht auf diese Nerven geachtet, während die erektions- und erregungsschonende Chirurgie bei Männern längst eine Routineangelegenheit ist.

Erst kürzlich berichtete mir ein befreundeter Journalist, wie der Arzt bei der Ultraschalluntersuchung einer schwangeren Frau allen Ernstes erklärte: "Gucken Sie, da fehlt etwas. Also wird es ein Mädchen." Die Idee, dass das weibliche Genital einfach nur die Abwesenheit des männlichen sei, geht auf den Vater der Psychoanalyse zurück, dessen Haltung man auf die Formel bringen kann: Man nehme einen Menschen – also einen Mann – entferne den Penis und erhalte so eine Frau. Damit steht Sigmund Freud keineswegs allein. Das weibliche Geschlecht wird als Loch und Leerstelle definiert, im besten Fall fungiert es als ungenügender Penis.

Das beginnt bereits bei den Bezeichnungen. Im Deutschen ist die Vagina das akzeptierteste Wort für das weibliche Genital, was medizinisch keineswegs korrekt ist. Denn die Vagina bezieht sich ausschließlich auf die Körperöffnung, die das sichtbare weibliche Genital, nämlich die Vulva mit der Klitoris, mit den inneren Geschlechtsorganen wie Muttermund, Gebärmutter, Eierstöcken verbindet. Bei einem Mann würde niemand die Verwechslung von Hoden und Penis unkommentiert hinnehmen, doch wenn es um Frauen geht, drucken sogar Aufklärungsbüchern so irreführende Beschreibungen wie: "Eine der ersten Veränderungen in der Pubertät ist, dass dem Mädchen Haare um die Vagina herum wachsen."

Mit der Reduzierung des zentralen Sexualorgans, der Klitoris mit der Vulva, auf die Vagina verschwand nicht nur der gesamte sichtbare Teil aus der Sprache: Das weibliche Sexualorgan hat so auch keine eigenständige Bedeutung mehr, ist nur ein Loch, in das der Mann sein Genital stecken kann. Oder um im Bild zu bleiben: eine Scheide für sein Schwert – so die deutsche Übersetzung des lateinischen Vagina. Und genau daher kommt der Begriff. Denn in der Anatomie war es üblich, Analogien zur Namensgebung zu verwenden. Der italienische Chirurg Matteo Realdo Colombo, der das Wort Vagina 1599 in die Medizin einführte, begründete seine Wahl in der Abhandlung "De Re Anatomica" mit der Beschreibung des weiblichen Sexualorgans als: "desjenigen Teils, in den der Spieß (Penis) eingeführt wird wie in eine Scheide." Das ist umso bemerkenswerter, als von Colombo beispielsweise auch die Bezeichnung "labia minora" – "innere Schamlippen" – stammt. Offensichtlich war er also durchaus in der Lage, die Vulva zu sehen, zu beschreiben, nicht jedoch zu erkennen. Mit dieser selektiven Blindheit war er nicht alleine. So beschreibt Barbara Walker in ihrer Enzyklopädie des "Geheimen Wissens der Frauen":

"Bei einem Hexenprozess im Jahre 1593 entdeckte der untersuchende Scherge (ein verheirateter Mann) offensichtlich zum ersten Mal eine Klitoris und identifizierte sie als ein Teufelsmal, sicherer Beweis für die Schuld der Angeklagten. Es war ein 'kleines Stück Fleisch, herausstehend, als ob es eine Zitze sei, ein halber Zoll lang', was der Henkersknecht 'beim ersten Blick davon bemerkte, aber es war versteckt, denn es lag an einem sehr geheimen Ort, den anzusehen unschicklich war; jedoch am Ende, da er nicht bereit war, eine derart seltsame Sache zu verschweigen', zeigte er dieses Ding mehreren Zuschauern. Die Zuschauer hatten noch nie zuvor so etwas gesehen. (sic!)"

Da Menschen sich so stark über ihre Geschlechtsorgane identifizieren, dass sie sich aufgrund dieser sogar in zwei grundlegende Gruppen unterscheiden – Männer und Frauen – sind Aussagen über Geschlechtsorgane in der Regel als Aussagen über das gesamte Geschlecht zu lesen. Der römische Arzt Galen (129–199 n.Chr.), der bis in die Renaissance die absolute Autorität auf dem Gebiet der europäischen Gesundheitslehre blieb, erklärte:

"Die Frau ist in Bezug auf die der Fortpflanzung dienenden Teile weniger vollkommen als der Mann. Natürlich darf man nicht glauben, dass unser Schöpfer die Hälfte der ganzen Spezies absichtlich unvollkommen und, wie es der Fall ist, verstümmelt geschaffen hätte, wenn nicht in solch einer Verstümmelung irgendein großer Vorteil läge."

Dieser Vorteil lag laut Galen in der vermeintlichen Disposition der Frau zur Unterordnung und zum Dienen. Die Überlegenheit der männlichen Geschlechtsorgane erklärte Galen, aufbauend auf Aristoteles, mit "der größeren inneren Hitze" des Mannes – ein Konzept, das sich über mehr als tausend Jahre hielt und sich zum Beispiel noch in dem mittelalterlichen Kompendium "Secreta Mulierum" von Albertus Magnus wieder findet. Der Autor mahnt, die Frau würde dem Mann beim Geschlechtsakt Wärme – symbolisiert durch den heißen Samen – entziehen, so dass ein Mann, der zu viel Sex mit Frauen hätte, schwach und debil würde. Denn nur der feurige männliche Fötus sei in der Lage, seine Genitalien nach außen zu stülpen und damit ein vollständiger Mensch zu werden, während die weiblichen Geschlechtsorgane invertiert und unterentwickelt im Körper verblieben. Albertus Magnus: "Deshalb heißt es, dass die Frau von ihrer Natur her kein Mensch ist, sondern eine Missgeburt." Nur logisch.

Die Vulva als Nicht-Penis, die Frau als Nicht-Mann, als Abweichung von der Norm, und – da ein vollständiger Mensch ohne Penis nicht gedacht werden konnte – als Kastrierte. Das passte zwar wunderbar ins Weltbild, aber irgendwann nicht mehr zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Das Ergebnis war, dass nicht etwa das Denkmuster hinterfragt wurde, sondern eine neue Analogie herhalten musste, nämlich Klitoris gleich ein kleiner Penis. Und siehe da, der Penis war größer und damit auch irgendwie überlegen. Dies ging maßgeblich auf den italienischen Arzt und Botaniker Gabriello Fallopio zurück (den 'Entdecker' der Eileiter, die seitdem seinen Namen tragen: Fallopische Tuben). Fallopio, der 1561 als erster die Klitoris, das zentrale weibliche Sexualorgan, detailliert beschrieben und durch anatomische Schnitte ihre tiefer liegende Struktur offenbart hatte, widersprach Galen an zentralen Punkten, trotzdem übernahm er dessen Gleichung von Klitoris und Penis kritiklos. Dabei ist die einzige Parallele zwischen Penis und Klitoris, dass beide bei sexueller Erregung erigieren. 400 Jahre lang übersah man jedoch geflissentlich, dass durch den Penis die Harnröhre verläuft, wohingegen die Klitoris undurchbrochen ist. Auch mit der vermeintlichen Übereinstimmung der Form ist es nicht so weit her. Was man gemeinhin als Klitoris wahrnimmt, ist nur ihre Krone. Unter der Haut lässt sich noch der Schaft ertasten, doch der größte Teil der Klitoris liegt tiefer. Es sind die so genannte Crura oder Schenkel, die die Form eines umgekehrten Ypsilons haben und jeweils etwa zehn Zentimeter lang sind.

Die Psychologin Josephine Lowndes Sevely veröffentlichte 1987 eine Studie, in der sie nachwies, dass die Klitoris keineswegs dem Penis entspricht, dafür aber der Mann durchaus eine Entsprechung zur Klitoris hat, sowohl in bezug auf die Form als auch die Struktur: nämlich den corpus spongiosum, den Schwellkörper an der Spitze des Penis.

Männer haben also ebenfalls eine Klitoris! Dass ein für das Lustempfinden so zentrales Organ beim Mann bisher unbekannt blieb, zeigt, dass der zwanghafte Versuch, das weibliche Genitale als geringere Ausgabe des männlichen darzustellen, nicht nur den Blick auf das weibliche Geschlecht verstellt, sondern den auf beide Geschlechter.

Die Analytikerin Harriet Lerner nennt die Weigerung, das weibliche Geschlechtsorgan bei seinem richtigen Namen zu nennen eine "psychische Genitalverstümmlung". Denn: "Die Sprache kann genauso machtvoll sein wie das Messer des Chirurgen. Das, wofür es keine Worte gibt, existiert nicht."

Das war nicht immer so. Das alte englische Wort "cunt" (heiliger Ort) beispielsweise stellte die höchste Wertschätzung dar und ist etymologisch eng mit "queen", "kin" (Sippe) und "country" verwandt. Doch bezeichnenderweise gilt "cunt" heute als das schlimmste Schimpfwort der englischen Sprache. Und im Altgriechischen und Lateinischen bezeichnete fica nicht nur die Feige, sondern auch die Vulva. Von dieser Wurzel stammen das Verb 'ficken' und sein englischer Zwilling 'fuck', sowie das Adverb 'feige', das im Mittelhochdeutschen noch für 'lüstern', 'geil', und 'unverschämt' stand. Denn die so genannten ficarii – die 'Feigenmänner' – fickten lieber die Feigen ihrer Frauen, als für Krone und Vaterland in den Krieg zu ziehen.

Bereits in den ältesten schriftlichen Zeugnissen Europas, den Epen der klassischen Antike, gibt es eine Geschichte, in der die Vulva gefeiert wird, nachzulesen im "Homerischen Hymnus an Demeter". Darin begegnen wir Demeter, der griechischen Göttin des Getreides und Ackerbaus, nach der Entführung ihrer Tochter Persephone in die Unterwelt und damit in den Tod. Demeter irrt durch das Land, das im selben Maße abstirbt, wie sie ihren Körper durch Nahrungsverweigerung auszehrt. Die Menschen schreien um Hilfe, weil ihre Ernten ausbleiben, doch nicht einmal den Göttern gelingt es, die Göttin aus ihrer fatalen Depression herauszureißen. An diesem Punkt tritt Baubo auf den Plan und zeigt Demeter ihre Vulva. Die Göttin lacht. Damit ist ihre Depression gebrochen und die Menschheit gerettet.

Ähnliche Geschichten finden sich in nahezu allen Mythologien der Welt. So singt die sumerische Göttin Innana-Ishtar ein "Lied ihrer Vulva" und ist über ihr schön anzusehendes Geschlecht entzückt. Und der irische Held Cuculain wird von 150 Frauen, die ihre Röcke heben und ihm ihr Geschlecht zeigen, davon abgehalten, gegen sein eigenes Volk zu kämpfen.

Bis ins späte Mittelalter wurden Statuen von nackten Frauen mit gespreizten Beinen an heiligen Stätten, wie Klöstern oder Kirchen, angebracht und bewachten die Stadttore. Sogar der berühmte schwarze Meteorit, der sich in der südöstlichen Ecke des aus heutiger Sicht männlichsten aller Heiligtümer, der Kaaba in Mekka, befindet, ist von einem silbernen Band in Form der Vulva umrandet und stellte nach dem arabischen Philosophen al-Kindi (805–875) ursprünglich tatsächlich die Vulva der Mondgöttin Al'Uzza dar. Al'Uzza ihrerseits ist ein Aspekt der dreifaltigen Göttin Al'Lat, die in vorislamischer Zeit in der Kaaba angebetet wurde – und nicht Allah, das ist inzwischen anerkannt.
Es gab den festen Glauben, dass Frauen, indem sie ihre Röcke hoben, Stürme beruhigen, Tote erwecken und sogar den Teufel besiegen konnten. Das weibliche Genital war ein heiliger und heilender Ort. Die Vulva wurde also nicht etwa einfach übersehen, sondern mit großer Anstrengung zuerst diffamiert und dann verleugnet. Was nicht zuletzt zu beeindruckenden Blüten führte wie dem Dogma der jungfräulichen Empfängnis Marias, mit dem sich eine ganze Disziplin der Theologie, nämlich die Theogynäkologie, jahrhundertelang beschäftigt hat. Trotzdem gibt es nicht einen einzigen Wallfahrtsort für das Genital Marias, während es mindestens 13 Wallfahrtsorte für die heilige Vorhaut Jesu' gab. Die kränkende, jedoch schwer zu ignorierende Tatsache, dass es die Frauen sind, die die Kinder gebären, wird durch die angeblich schöpferische Kraft des männlichen Genitales – des Phallus – wenn schon nicht negiert, so doch zumindest umgedeutet. Die penetrante Wiederholung, das weibliche Geschlecht sei eine Leerstelle, macht Sinn. Besser gesagt: Das Motiv wird klar. Kein Wunder also, dass die Vulva einer der am heftigsten kulturell umkämpften Bereiche war und ist.

Die maßlose Energie, die in ihre Leugnung gesteckt wurde, wird an dem Widerspruch deutlich, dass das weibliche Geschlecht einerseits gar nicht existieren oder doch zumindest unsichtbar sein soll, während es gleichzeitig als 'schwarzes Loch' und "Tor zur Hölle, Quelle allen Zwists und Ärgers auf der Welt und möglicher Untergang des Mannes" beschrieben wird. Die eindringlichste Illustration dafür ist die mit spitzen blutbeschmierten Zähnen bewaffnete Vagina, die derart häufig in Mythen und Legenden auftaucht, dass sie sogar einen eigenen Namen hat: vagina dentata. Die Angst dahinter war: Wenn Frauen ihr Geschlecht und damit symbolische Macht zugestanden würde, würde es unweigerlich Männer kastrieren oder gar vollständig verschlingen.

Die Helden benutzten Stöcke und Steine in Penisform, um der bissigen Frau die Zähne zu ziehen und deren Willen zu brechen. Danach konnte sie dann geheiratet oder getötet werden – beides zählte als Happy End.

Das, was durch die Präsentation der Vulva bedroht wird, ist ja nicht nur der Penis, sondern ist die Universalität der phallischen Ordnung. Vor diesem Hintergrund ist vielleicht zu erklären, warum manche junge Frauen neuerdings so offensiv mit ihrer Vulva hausieren gehen: "Meine Mumu spricht mit mir", warb die Komikerin Sarah Silverman auf Plakaten für ihre Comedyshow. Und Charlotte Roche wurde mit ihrem Roman "Feuchtgebiete" durch alle Talkshows gereicht. Es heißt, ihr Buch hätten vor allem ältere Männer und junge Frauen gekauft. Bauen junge Frauen jetzt auf den alten Vulva-Kult – und setzen ihre Vulva als Waffe gegen den Phallus-Kult ein?

Mithu Sanyal: "Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts" (Wagenbach, 2009)
Georges Devereux: "Baubo – Die mythische Vulva" (EVA, 1981)

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