Tel Aviv: Eine Stadt der Widersprüche

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Als ein maskierter Täter in der Beratungsstelle für homosexuelle Teenager und junge Menschen das Feuer eröffnete und Liz Trubeshi (16) und Nir Katz (26) tötete sowie 15 weitere Menschen verletzte, stand Tel Aviv unter Schock. Und nicht nur Tel Aviv, die weltoffene, quirlige Mittelmeer-Metropole, sondern ganz Israel. Politiker aller Parteien zeigten sich bestürzt und verurteilten die Tat, deren Hintergründe bis zum Redaktionsschluss nicht geklärt wurden. Bei einer Demonstration auf dem Rabinplatz eine Woche nach dem Anschlag Anfang August, bei der etwa 50.000 Menschen ihre Solidarität mit Homosexuellen bekundeten, stellten sich Präsident Peres und Mitglieder des Parlaments geschlossen hinter die homosexuelle Szene und betonten deren Rechte – in einer Geschlossenheit, die man so in Israel bisher noch nicht erlebt hatte.

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Bei einer früheren Protest-Veranstaltung hatte die Abgeordnete der Labor-Partei Shelly Yachimowich betont, Hass und Volksverhetzung habe die Pistole gelenkt. Und sie berichtete,  dass einige Eltern ihre verletzten Kinder nicht im Krankenhaus besuchen würden – die Nachricht über deren mögliche sexuelle Orientierung war für sie offenbar ein größerer Schock als die über den Anschlag selbst.

Zwar sehen 46 Prozent der Israelis einer Umfrage von Haaretz zufolge Homosexualität weiterhin als "Perversion" an, insgesamt aber geht die Homophobie zurück: Immerhin hat sogar jeder Dritte Ultra-Orthodoxe, jeder vierte Araber sowie 86 Prozent der säkularen, also liberalen Juden kein Problem mehr mit Homosexuellen.

Die Tat passierte ausgerechnet in dem Jubiläumsjahr von Tel Aviv-Jaffa, dem hundertsten Geburtstag, für den die Stadt sich geschmückt hat und das ganze Jahr feiert, feiert, feiert. Die Schüsse des Täters zerrissen brutal die heitere Stimmung. Und sie zeigten auch, dass Tel Aviv eine Stadt der Gegensätze ist, heute vielleicht mehr denn je.

Tel Aviv, so ist oft zu hören und zu lesen, das sei die Stadt ohne Geschichte, die auf Sand gebaute Stadt eine Blase, in der der verwöhnte Teil von Israels Bevölkerung lebt und das Leben genießt, während der Rest des Landes entweder bete (in Jerusalem), arbeite (in Haifa) oder unter Qassamraketen-Beschuss leide (in Sderot und Aschkalon). Tel Aviv und Israel, das seien deshalb zwei grundverschiedene Dinge, wie New York und Amerika. Das sind natürlich Klischees.

Eines aber ist richtig: Tel Aviv ist auch die Stadt der Frauen. Drei von ihnen sollen hier vorgestellt werden. Die erste ist die Anwältin Irit Rosenblum, die im Juni, keine zwei Monate vor dem mörderischen Anschlag, am Strand von Tel Aviv fünf Homo-Paare getraut hat, was den Höhepunkt der diesjährigen Gay-Parade markierte – in einem Land, in dem es bis heute nur die religiöse, aber keine Zivilehe gibt, auch für Heterosexuelle nicht. Da in Israel im Familienrecht das religiöse Recht gilt, obliegen Ehe und Scheidung den orthodoxen Rabbinern. Die Trauung der schwul-lesbischen Paare oblag Rosenblum.

1998 gründete die Rechtsanwältin die Organisation "Neue Familie", deren Vorsitzende sie seitdem ist. Zuvor war sie Rechtsberaterin und Direktorin der Abteilung "Status der Frauen" der zionistischen Frauenorganisation WIZO und hat als Scheidungsanwältin gearbeitet. "Meine Arbeit bestand damals darin, Familien auseinander zu reißen", stellt sie rückblickend lakonisch fest, "heute bringe ich Familien zusammen." Es ist offensichtlich, dass ihr letzteres deutlich mehr Spaß macht.

"Familienrecht in Israel, das ist wirklich ein absurdes Theater", sagt Rosenblum. "Wir haben gleichzeitig fortschrittliche Gerichtsurteile und altertümliche Gesetze aus biblischer Zeit." Erst jüngst vertrat die Anwältin eine lesbische Frau vor Gericht, die nach dem Tod ihrer Partnerin Ansprüche auf Witwenrente geltend machte – und gewann den Prozess. Genauso wie den Fall der beiden Schwulen, die mit Hilfe einer Surrogat-Mutter Väter wurden und ihren Anspruch auf Mutterschaftsurlaub durchgesetzt haben. (Den Begriff "Elternzeit" kennt Israel noch nicht.)

Im gleichen Atemzug erzählt die kämpferische Juristin von einem anderen Problem-Paar: Beide sind jüdisch, aber er ist ein Kohen. Die Kohanim gelten als Nachfolger der Priesterkaste und unterliegen darum bei der Auswahl der Ehepartnerin besonders strengen Regeln. Ein Kohen darf ausschließlich jüdische, weder eine geschiedene noch vergewaltigte (!), geschweige denn konvertierte Frau heiraten, um nur einige Kriterien zu nennen. Unser Kohen also fand eine passende Frau, sie bekamen zwei Kinder, sie ließen sich scheiden, überlegten es sich anders, kamen wieder zusammen – und wollten wieder heiraten. Das aber  wird ihnen verwehrt, denn die Frau war ja inzwischen eine Geschiedene. Bis hierhin mag die Geschichte wahlweise Schmunzeln, Achselzucken oder Kopfschütteln hervorrufen, doch mit der Geburt ihres dritten Kindes, das nun als "unehelicher Bastard" gilt und niemals die gleichen Rechte wie seine Geschwister haben wird, verliert sie schnell an Witz. Die Anwältin fand eine Lösung. Sie formulierte 2007 eine auf "Gleichheit und gegenseitigem Respekt" beruhende Urkunde. Wer sie unterschreibt und unter Eid schwört, mit dem anwesenden Partner zusammenzuleben, erhält die gleichen Leistungen und hat die gleichen Ansprüche wie verheiratete Paare auch.

Niemand fasst in Israel den Begriff Familie weiter als Irit Rosenblum, und niemand sonst kam bisher auf die Idee, das Recht auf Familie als Menschenrecht zu definieren. Nachdem die offiziellen Behörden anfänglich Widerstand geleistet hatten, schicken sie heute ganz gezielt unverheiratet zusammenlebende Paare zur Organisation "Neue Familie", damit sie sich dort den passenden "Lebensgemeinschaftsausweis" holen.

Für ihren unermüdlichen und unerschrockenen Kampf, jedem und jeder in Israel das Recht auf Familie einzuräumen, unabhängig von Religion, Nationalität, sexueller Orientierung und Personenstand, ist Irit Rosenblum Ende Juli vom College of Law Practice Management in Colorado mit dem diesjährigen InnovAction Award ausgezeichnet worden.

Israel ist weltweit das einzige Land, das auch Frauen zum Pflichtwehrdienst einzieht. Das ist schon seit Staatsgründung so, aber erst im Jahr 2000 trat das Military Service Law in Kraft, das das prinzipielle Recht jeder Frau auf jede Position innerhalb der Armee festlegt. Ende Juni nun geriet der Oberste Militärrabbiner Avichai Rontzki ins Sperrfeuer der Schlagzeilen, als er mit der Äußerung zitiert wurde, Frauen sollten grundsätzlich keinen Wehrdienst leisten. Die israelische Armee stellte daraufhin unmissverständlich klar, dass der Wehrdienst von Frauen auf keiner Ebene, auch nicht beim Militär-Rabbinat, zur Diskussion stünde.

Überraschenden Beifall fand Rontzki dagegen von der feministischen Haaretz-Kolumnistin Meirav Michaeli, die ihm beipflichtete, wenn auch aus ihren Gründen: Die frühere Hoffnung, dass Frauenwehrdienst eine Voraussetzung für Gleichberechtigung auch im zivilen Leben schafft, habe sich nicht erfüllt. In der Armee sind Frauen nach wie vor mehrheitlich in dienenden Rollen, während alle Generalstabsposten in den Händen der Männer liegen. Frauen verließen die Armee deshalb schwächer, als sie zum Zeitpunkt waren, als sie eingezogen wurden, klagt Michaeli.

Die Journalistin zitiert in ihrer Kolumne Forschungsergebnisse von Dr. Orna Sasson Levy, stellvertretende Vorsitzende im Fachbereich Soziologie und Anthropologie an der Bar Ilan Universität, in dem auch Gender-Studien betrieben werden. Sasson Levy hat 2001 ihre Doktorarbeit über die Konstruktion von Gender-Identitäten in der israelischen Armee geschrieben und seitdem weiter über dieses Thema geforscht und publiziert. Sie widerspricht Michaeli: "Die Armee ist eine wichtige Institution unserer Gesellschaft, und von wichtigen Institutionen dürfen Frauen nicht ausgeschlossen sein." Bestimmte Eliteeinheiten galten stets auch als Sprungbrett zu den Spitzenpositionen in Politik oder Wirtschaft. Frauen und Männer werden seit 1995 beim Militär zusammen ausgebildet, sowohl bei der Grund- als auch bei der Offiziersausbildung. Allerdings: Die Ausbildung bei den Kampfeinheiten findet weiterhin nach Geschlechtern getrennt statt. Das Bild vom kämpfenden Helden bestimmt weiterhin das (Selbst)Bild von Israel. Dies gilt selbst für Frauen in Kampfeinheiten. Bei ihnen hat Sasson Levy beobachtet, dass sie häufig männliches Verhalten imitieren, auf Distanz zu anderen Frauen gehen und dazu tendieren, sexuelle Belästigung zu verharmlosen. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich das israelische Militär allerdings geändert. Zum einen hat sich die Armee auch auf der Führungsebene für Frauen geöffnet, und zum anderen aber ist sie immer religiöser geworden.

Orthodoxe und Kampfsoldatinnen, verheiratete Gays und verpartnerte Kohanim: Die israelische Gesellschaft ist ein buntes Mosaik, aber wie sind die Farben verteilt? Die einzigen schwarzen Menschen im Herzen von Tel Aviv sind Straßenfeger oder Flüchtlinge, meist aus dem Sudan. Die AltenpflegerInnen kommen aus den Philippinen und die Putzfrauen aus Russland.

Noch immer prägen die "Weißen", die Aschkenasim aus Europa, die vor dem Antisemitismus und Holocaust geflüchteten Juden aus Europa, die Gesellschaft, ihre Werte, ihre Kultur, ihre Lehrpläne. Dabei besteht heute die Hälfte der Bevölkerung aus Mizrachim, also aus Jüdinnen und Juden, die in den 50er und 60er Jahren aus arabischen Ländern, dem Mittleren Osten, aus dem Balkan und aus Zentralasien nach Israel kamen. Doch ihre Kultur wird, außer der Küche, deutlich geringer geschätzt. Der Etat zur Förderung von Kultur und Erziehung fließt zu 95 Prozent in aschkenasische Projekte.

Um Mizrachi-Frauen eine Stimme zu geben, wurde vor zehn Jahren die Frauen-Organisation Achoti (Meine Schwester) gegründet. Wer Shula Keshet, eine der Gründerinnen und heutige Achoti-Vorsitzende, treffen will, muss das Herz von Tel Aviv in Richtung Süden verlassen. Wenn die Straßen breiter werden und die Palmen seltener, man immer mehr schwarze Menschen sieht, die nicht einmal eine Arbeit als Straßenfeger haben; immer mehr Asiaten, die nicht einmal einen Rollstuhl schieben; und keine Nagelstudios mehr, dafür aber häufig "Massagesalons" mit angeschlossenen "Spas", dann, kurz bevor das Sammeltaxi die zentrale Busstation, einer der ungesundesten Plätze Israels, erreicht, ist man schon ganz nahe beim Achoti-Büro. Vielen gilt das Viertel als der "Hinterhof Tel Avivs". Das ist freundlich formuliert.

Das Achoti-Büro ist eine Anlauf- und Beratungsstelle, die rechtlichen Beistand bietet und Zuspruch, notfalls auch Übernachtungsmöglichkeiten – sowie stets gefüllte Näpfe für die herumstreunenden Katzen. Sogar die Hühner, denen der Ausbruch aus der früher nahe gelegenen Schlachterei gelungen war, sollen sich stets hierher gerettet haben.

"Vor zehn Jahren war die feministische Bewegung in Israel von den aschkenasischen Frauen bestimmt, und deren Hauptthema war die gläserne Decke." Shula, selbst iranischer Herkunft, verdreht spöttisch die Augen. "Wir, die Mizrachi-Frauen dagegen steckten noch im Schlammboden – weit entfernt von einer gläsernen Decke. Wir waren zwar damals die Mehrheit der Bevölkerung, hatten aber keine Stimme. Wir mussten um Gleichberechtigung auch zwischen Frauen ringen. Wir mussten den aschkenasischen Frauen klar machen, dass sie nicht für uns sprechen können. Wir waren dreifach unterdrückt – als Mizrachim, von den Männern und von den aschkenasischen Frauen."

Faire Löhne, angemessene Arbeitsbedingungen und Hilfe bei der Existenzgründung für Frauen aus der Peripherie der Gesellschaft sind die Ziele von Achoti. Die Organisation betreibt eine Gemeinschaftsküche in Jerusalem, wo Frauen für Restaurants und Privatkunden kochen, und ein Stickerei-Projekt in Kyriat Gat, wo äthiopische Einwanderinnen ein Modegeschäft aufbauen. Wenn alles nach Plan läuft, wird es schon in der kommenden Herbst/Winter-Saison in einer noblen Tel Aviver Boutique-Kette Kleidung mit diesen Stickereien geben.

Damit wäre es Achoti zum dritten Mal im Jubiläumsjahr von Tel Aviv gelungen, Frauen aus dem Rand der Gesellschaft in deren Zentrum zu holen. Als erstes hatte die Organisation Mitte Juni den ersten israelische Fair-Trade-Laden in Tel Aviv eröffnet mit Schmuck, Stickereien, Olivenöl, Seife, Puppen etc., hergestellt von in Israel lebenden Araberinnen, Palästinenserinnen, Beduininnen, Äthiopierinnen. Die Verkäuferinnen im Laden sind unbezahlte Achoti-Volontärinnen. "Damit die Erlöse für die Produzentinnen stimmen", wie mir eine von ihnen erklärt, eine Aschkenasin übrigens, die Deutsch spricht.

Als zweites gab es die Ausstellung "Women creating Change" (Frauen schaffen Veränderung): 38 Porträts von jüdischen, arabischen, mizrachischen, aschkenasischen, religiösen und säkularen Frauen, die sich alle politisch, kulturell oder sozial engagieren, präsentiert im alten Hafen von Tel Aviv, im prestigeträchtigen teuren Norden der Stadt.

Die Achoti-Projekte werden bereits seit einigen Jahren von der Berliner Rosa Luxemburg Stiftung unterstützt, die Mitte März diesen Jahres ihr Israel-Büro in Tel Aviv eröffnet hat. Die Ausstellung soll 2010 im Bundestag in Berlin gezeigt werden. In Tel Aviv, der Stadt der Kontraste und Widersprüche, geht das Leben weiter.

Vielleicht markieren die Morde von Anfang August auch einen Wendepunkt. Vielleicht werden die vielen Farben, darunter auch die Regenbogenfarben der Homosexuellen, noch zu einem wirklich bunten Mosaik der weltoffenen Stadt am Mittelmeer beitragen.

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