Amanda Todd: Tödliche Scham

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Sie hat dem Internet ein Mahnmal hinterlassen. Ein schwarz-weißes Video, 8:15 Minuten lang, in dem die Betrachter weder ihre Stimme hören noch ihr Gesicht sehen. Nur diese mit einer rundlichen Mädchenschrift beschriebenen Zettel. „Ich habe mich dazu entschieden, euch meine niemals enden wollende Geschichte zu erzählen“, steht auf dem ersten.

Kurz nach Veröffentlichung ihres ­Videos ist das Mädchen tot. Die Rede ist von der kanadischen Schülerin Amanda Todd. Sie hat sich im Jahr 2012 das Leben genommen, nachdem sie über zwei Jahre lang online erpresst und gemobbt worden war. Und im Zuge dessen auch in der echten Welt.

Als Amandas Tortur beginnt, ist sie 12 Jahre alt. Sie geht in die siebte Klasse, trifft sich mit Freundinnen und albert –  wie so viele Teenagerinnen – gerne vor der Web-Cam rum. Sie singt, sie tanzt, sie plaudert. Die Videos davon veröffentlicht sie auf einer Chat-Plattform. Ihre Eltern denken, da ist nichts dabei. Von Cybermobbing und „Sextortion“, der sexualisierten Erpressung, haben viele zu diesem Zeitpunkt noch nie gehört. Auch Amanda nicht. Sie bekommt im Netz Komplimente. „Hübsch“ sei sie und „witzig“ auch. „Zeig doch mal deine Brüste“, schreibt ­einer. Amanda lüftet keck ihr Shirt.

Ein Jahr später bekommt sie über Face­book eine Nachricht. Ein Mann hat sie ausfindig gemacht, der einen Screenshot von ihrem Busenblitzer besitzt. „Wenn du keine Show für mich machst, veröffentliche ich das Foto von deinen Brüsten auf Facebook“, droht er. Er weiß alles über Amanda: Wo sie wohnt, wer ihre Eltern sind, wo sie zur Schule geht und mit wem sie befreundet ist. In den Weihnachtsferien klopft die Polizei an Amandas Tür. Die Behörden haben das Nackt-Foto auf einer Porno­seite entdeckt. Da denkt Amanda noch: Was soll’s! Aber auch ihre MitschülerInnen bekommen das Foto in ihre Hände. Und plötzlich ist Amanda nur noch das „Mädchen von dem Foto“. „Sie nannten sie Schlampe und Kamera-Hure“, erzählt Amandas Mutter in der CBC-Dokumentation „The sextortion of Amanda Todd“. Amanda wird von dem Schamgefühl überwältigt. Sie bekommt schwere Depres­sionen und Panikattacken. Sie ­beginnt sich zu ritzen und mit Alkohol und Drogen zu betäuben. Das Haus ­verlässt sie nur noch selten.

Die Familie wechselt den Wohnort, um die Tochter zu schützen. Aber wo auch immer Amanda hingeht: Das Internet ist schon da – und damit auch das Foto. „Ich kann das Foto nie zurück­holen, es wird immer da draußen sein“, steht auf einem der Zettel, den Amanda in ihrem Video in die Kamera hält.

Alleine dieses Gefühl hätte schon gereicht. Aber der Stalker lässt Amanda nicht aus seinen Fängen. Er meldet sich erneut. Wieder mit einer Liste ihrer neuen Freundinnen und Freunde. Er richtet eine öffentliche Facebook-Seite ein. Sichtbar für jede und jeden. Das Oben-­Ohne-Foto ist das Profilfoto. Amanda wird verspottet. Im Internet und auf dem Schulhof. „Niemand mag mich. Mein Name fällt und sofort bin ich abgestempelt“, schreibt das Mädchen in ihrer verzweifelten Videobotschaft an die Welt.

Amanda wechselt nochmal die Schule. Sie hat keine Freunde mehr. Vielleicht ist ihre Einsamkeit oder der Wunsch nach wenigstens ein wenig Zuneigung und Anerkennung der Grund, warum sie auf das Angebot eines früheren Kumpels eingeht: „Meine Freundin ist in Ferien, komm doch vorbei!“ Amanda schläft mit dem Jungen, von dem sie dachte, dass er sie mag. Wenige Tage später verprügelt die Freundin des Jungen sie auf dem Schulhof, alle schauen zu. Ihr Vater findet Amanda in einem Graben. Als das Mädchen an dem Nachmittag Bleichmittel trinkt und nur knapp überlebt, weil ihr die Ärzte rechtzeitig den Magen auspumpen, schreiben ihre Mitschülerinnen und Mitschüler auf Facebook: „Hoffentlich trinkt sie das nächste Mal das richtige Bleichmittel“ oder „Sie hat es verdient, zu sterben!“

Amandas Familie zieht wieder um. Und wie auf Abruf meldet sich der Stalker. „Noch drei Shows“ will er sehen, sonst … „Ich habe niemanden. Ich brauche jemanden!“ steht auf dem letzten Zettel, den Amanda in die Kamera hält. Dahinter ein trauriges Smiley. Das Video erscheint am 7. September 2012 auf YouTube. Am 10. Oktober bringt Amanda Todd sich um.

Fünf Jahre nach ihrem Tod, im März 2017, wird der Mann von dem die Behörden denken, dass er Amandas Peiniger ist, in den Niederlanden zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Der 38-jährige Niederländer Aydin Coban hat nicht nur Amanda, sondern insgesamt 34 Mädchen und fünf homosexuelle Männer auf die gleiche Weise erpresst. Die kanadische Regierung will die Auslieferung, ihm soll wegen Amanda Todd in Kanada der Prozess gemacht werden.

Amandas Hilferuf steht immer noch auf YouTube, er wurde von Millionen Menschen angesehen. Die Häme und der Hass im Netz sind seit ihrem Tod sogar noch schlimmer geworden. Ein Problem, das wir endlich in den Griff bekommen müssen.

Alexandra Eul

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