Einstürzende Schulbauten

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Die Bildungslage ist noch schiefer als der schiefe Turm von Pisa - die Stadt, nach der die berüchtigte Studie benannt wurde, die dem deutschen Bildungswesen bittere Wahrheiten sagt. Bildungsexpertin und Mutter Charlotte Kerner über Vater Staat, das Frauenbild und die Kindermisere.
Schlaflose Nächte" wünschten die Draußenstehenden denen drinnen: den in der kulturgeschwängerten Eisenacher Wartburg deutschen KultusministerInnen. "Wir wollen diese Gelegenheit nutzen, um gegen die miese Situation an Schulen, Berufsschulen und Universitäten zu protestieren!" Dieser Aufforderung der LandesschülerInnenvertretung und der Gewerkschaftsjugend folgten 350 Jugendliche.
Auf zur Wartburg! Dort entrollten sie Transparente mit Sprüchen wie: "Mehr Geld für die Bildung STATT großer Klassen und schlechter Lehrmaterialien". Schule ist wieder ein Thema in Deutschland, PISA und Wahlkampf sei Dank. PISA ist die Abkürzung für Programme for International Student Assessment - auf Deutsch: Schülerleistungen im Vergleich.
Dass die italienische Stadt mit dem schiefen Turm ebenfalls Pisa heißt, hätte ein PR-Manager nicht besser planen können. Denn für das deutsche Bildungssystem gibt es kein treffenderes Bild. Es ist in einer gefährliche Schieflage, ganz wie der berühmte Turm vor seiner Sanierung.
In der PISA-Gesamtwertung, die 32 Staaten umfasst, lagen die getesteten 15-jährigen deutschen SchülerInnen weit unter dem Durchschnitt. In Mathematik und Naturwissenschaften landeten sie gar auf Platz 20. Beim Lesen und Verstehen von Texten fielen sie auf Platz 21. Eine noch größere Blamage des Bildungsbürgerlandes Deutschland verhinderten die Mädchen, die nur zu 29 Prozent (OECD-Schnitt 23%) "keinen Spaß am Lesen" haben, während 54 Prozent der Jungen (OECD-Schnitt 40 %) nie freiwillig zu einem Buch greifen.
In der Schlüsselkompetenz "Lesen" sind Mädchen übrigens in allen OECD-Ländern führend, während die Schüler in Mathematik einen kleineren Vorsprung halten. Und: Knapp doppelt so viel deutsche Schülerinnen (11,1 %) wie Schüler (6,7 %) erreichten die höchste der in PISA ermittelten Anforderungsstufe.
Für die Talfahrt des deutschen Gesamtsystems sind zwei zentrale Befunde verantwortlich: Die Guten sind nicht so gut, wie sie sein könnten - dafür sind die Schlechten sehr viel schlechter als anderswo. Doch eine Überraschung ist PISA nur für die, die Jahre lang weggeschaut haben. Was also muss und kann sich nun ändern in deutschen Klassen und Köpfen?
Die PISA-Studie ist ein einziges Plädoyer für die Ganztagsbetreuung der Kinder inklusive Ganztagsschule, denn sie erhöht die Chancengleichheit. Doch gerade hier ist Deutschland seit der Nazizeit, in der die Ganztagsschule abgeschafft wurde, absolutes Schlusslicht. Nach dem Krieg wurde die Ganztagsschule in der Bundesrepublik dann zur Glaubensfrage - und in der DDR gar nicht erst zum Thema.
Es ist relativ neu, dass diese ideologischen Barrieren ins Wanken gerieten, dass ein SPD-Kanzler für die Ganztagsschule plädiert und ein CSU-Kandidat die eigenen Kinder auf eine solche schickt. EMMA plädierte im Jahr 2000 offensiv für die Ganztagsschule - ist die Zeit jetzt reif?
Ganztagsschulen kosten nicht nur Umgewöhnung, sondern auch Geld. Und um das locker zu machen, bräuchte die Politik Druck von unten. Doch genau der lässt auf sich warten, selbst in der Wahlzeit. Über den mangelnden Basisdruck ist SPD-Politikerin Renate Schmidt allerdings nicht sehr erstaunt, und das nicht nur wegen der sehr deutschen Geschichte vom unentbehrlichen Mütterlein.
"Warum sollten Schüler jubeln, wenn von Ganztagsschule die Rede ist?", fragt sie in ihrem gerade erschienen Buch "S.O.S. Familie". "Welche Lehrer möchten die Schule zum ganztägigen Arbeitsplatz umwandeln, wo sie jetzt den Arbeitsplatz in den eigenen Haushalt verlegen können - mit freier Zeiteinteilung? Und warum sollten Mütter ein Lebensmodell in Frage stellen, das ihnen auch persönliche Macht verleiht?"
Dennoch: 60 Prozent aller jungen Frauen wollen Erwerbstätigkeit und Familienarbeit kombinieren, 20 Prozent sogar in Vollzeit, und das ohne Nachteile und schlechtes Gewissen! Und genau das scheint in Ländern wie den skandinavischen gelungen, die laut PISA die Nase vorne haben.
Als Kanzler Schröder zum Auftakt des Wahlkampfes vier Milliarden Euro extra aus der Bundeskasse für den Ausbau einer besseren und ganztägigen Kinderbetreuung in den nächsten vier Jahren versprach, da war das ein erstes Signal. Doch auf konkrete Nachfragen, wie und wo die Milliarden verteilt werden, heißt es abwiegelnd: "Nach der Wahl" (Bildungsministerin Bulmahn).
Dabei sind selbst die vier Milliarden nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Würde die Bundesregierung den in PISA ermittelten OECD-Durchschnitt für Bildungsausgaben anstreben, müsste Schröder mit der fünffachen Summe, nämlich rund 20 Milliarden Euro, nachbessern. Und um auf schwedische Verhältnisse zu kommen, müsste der Kanzler gar 40 Milliarden drauflegen!
Und Kanzlerkandidat Edmund Stoiber? Der will die WählerInnen lieber mit einer individuellen Kindergelderhöhung locken, die den Staat 25 Milliarden kosten würde, anstatt dieses Geld kollektiv in mehr Krippenplätze und Kindergartenplätze zu investieren. Kein Geld? Die Streichung des Hausfrauen fördernden Ehegattensplittings brächte rund 25 Milliarden Euro im Jahr!
Doch da nutzt kein Flickwerk, das Fundament des deutschen Bildungssystems ist schief: das dreigliedrige Schulsystem. Es betreibt zu früh - meistens in der 4., spätestens aber in der 6. Klasse - eine Auslese. Das schafft sehr unterschiedliche und gleichzeitig hermetische Lernmilieus. Was da auf den ersten Blick leistungsorientiert wirkt, ist in Wahrheit klassenorientiert und verschärft die Geschlechtsunterschiede.
In deutschen Realschulen und Gymnasien sind Mädchen den Jungen im Lesen weit überlegen,  in der Mathematik stark unterlegen, in den integrierten Schulen jedoch gibt es keine Unterschiede zwischen den Schülern und Schülerinnen.
Chancengleichheit und Leistung ist also kein Gegensatz, sondern bedingen sich gegenseitig, wie PISA beweist. Die besten Lernergebnisse bringen innerhalb der OECD die Systeme, in denen alle Kinder gemeinsam mindestens 6, oft aber 8 bis 10 Klassen lang zur Schule gehen, kombiniert mit einer gezielten individuellen Förderung. Doch in Deutschland hat ein Kind aus der Oberschicht immer noch eine viermal größere Chance aufs Abitur als ein Arbeiterkind. Denn benotet wird, um die "Schwachen" zu orten.
Wer nicht passt, wird nach unten aussortiert: vom Gymnasium zur Realschule, von der Realschule zur Hauptschule, von der Hauptschule zur Förderschule. "Mit jedem Kind, das in der Hauptschule verelendet, bestätigt sich das Elend dieser Schulform", klagte der Essener Bildungsforscher Professor Klaus Klemm auf dem SPD-Kongress "Zukunft Bildung".
Mit der Zeit ist unten ein "Ghetto der Bildungslosigkeit" entstanden. Dort tummeln sich wie in allen getesteten Ländern hauptsächlich männliche Kinder ausländischer Eltern aus sozial benachteiligten Milieus. Die Saat für die deutsche Bildungsungerechtigkeit wird früh gelegt. Anspruch auf einen Kindergartenplatz haben zwar inzwischen auch in deutschen Landen theoretisch alle Dreijährigen, doch das nur für einen halben Tag und meistens gegen hohe Gebühren.
Genau das hält aber die Gruppe fern, die es aufgrund ihres familiären Hintergrundes am nötigsten bräuchte: Ihre Eltern können oder wollen nicht zahlen. Das Fernsehen ist billiger und rund um die Uhr bereit.
Es rächt sich auch, dass zu lange geleugnet wurde, dass Deutschland faktisch ein Einwanderungsland ist: Sprachkurse für Migrantenkinder gab und gibt es in keiner Schule ausreichend, im Gegensatz zu Ländern mit vergleichbaren Ausländeranteilen.
Dafür blieb bis heute die deutsche Universitätsausbildung kostenlos. Derjenige, der im Bildungssystem ganz oben angekommen ist, wird von denen ganz unten mitfinanziert, dabei könnte er es sich viel eher leisten zu zahlen.
Verschärfend hinzu kommt: Die Frühförderung der drei bis sechs Jahre alten Kinder, deren Lust am Lernen noch leicht geweckt und deren Sprachdefizite noch mühelos ausgeglichen werden könnten, ist in deutschen Kitas nicht gewährleistet. Deutsche Erzieherinnen haben eine Ausbildung, die sie innerhalb der EU unvermittelbar macht, denn dort wird für ihren Job mindestens Fachhochschulstudium erwartet.
Zu lange ferngehalten werden die Kleinen bei uns von der vermeintlich "freudlosen Schule", aber eine "glücklichere Kindheit" haben sie deswegen nicht unbedingt. Nach dem PISA-Debakel setzen deshalb viele BildungspolitikerInnen verstärkt auf die Karte "Frühföderung": Ein kostenloses Pflicht-Vorschuljahr für alle ist ernsthaft im Gespräch.
Auch der Wirtschaft fehlen Leute mit qualifizierten Abschlüssen, aber zunehmend auch Abiturienten. Und da kann Bayern nicht jubilieren, sondern sollte nachdenklich werden, wenn im Schnitt rund ein Drittel des Jahrganges auf Gymnasien wechselt, aber nur 17 % erfolgreich abschließen. Dümmer sind diese bayrische Jugendlichen sicher nicht.
Gründlich missverstanden hat auch Arbeitgeber-Präsident Hundt die PISA-Studie, als er forderte: Schluss mit der Kuschelpädagogik! Denn das werfen die PISA-Forscher dem deutschen Bildungssystem nun gerade nicht vor, im Gegenteil: Sie hinterfragen das Selektionsinstrument "Sitzenbleiben", das Jahr für Jahr rund 280.000 SchülerInnen trifft und 850 Millionen Euro kostet. Die "Ehrenrunden" sind mitverantwortlich, dass in Deutschland viele 15-Jährige manchmal noch in der 7. oder 8. Klassen herumdümpeln, klein gemacht, chancenlos.
Trotz der drückenden "Belege für die riesige Ungerechtigkeit und das Vergeuden von Begabungen" wagen deutsche Bildungspolitiker bislang nicht den Trumpf einzusetzen, auf den die PISA-Gewinner schon lange setzen: den Ausbau der Phasen gemeinsamen Lernens.
Im Gegenteil, quer durchs Land ertönt es immer lauter: "Bitte keine neue Strukturdebatte". In diesem Fall aber bitte auch keine "strukturelle Rolle rückwärts", warnt Bildungsforscher Klemm. Darum müsse die sechsjährige Unterrichtung der Haupt- und Realschüler in Bayern wieder eingeführt werden, die noch kurz vor PISA gegen breiten Protest abgeschafft wurde.
Dann dürften in Hessen die Förder- und in Niedersachsen die Orientierungsstufen nicht zur Disposition stehen. Und das "Turbo-Abitur", das im Gymnasium "die wahren von den nicht so richtigen Gymnasiasten" trennen soll, sei auch schlichter "Unfug".
Aber ist die Schule allein an allem schuld? Eltern trügen eine gehörige Portion Mitschuld am PISA-Debakel, tönt es aus Schulkreisen. Sie seien zu ehrgeizig. Zu oft breche der Elternwille die Empfehlungen der Lehrer. Aber haben nicht gerade diese Eltern kapiert, wie unser System funktioniert? Einmal eingeordnet, immer eingeordnet, Aufstiege gelingen selten. Schon im zehnten Lebensjahr fallen Entscheidungen fürs ganze Leben. Die PISA-Forscher bewiesen: Gerade den deutschen Kindern fehlt besonders stark "die Unterstützung durch den Lehrer".
Ich weiß, wovon ich rede. Wenn ich zum Beispiel bei meinem Sohn, der in die 6. Klasse des Gymnasiums geht, nachfrage, wie der Deutschlehrer denn seine Bildbeschreibung, auf die er viel Mühe verwendet hatte, gefunden habe, zuckt er nur die Achseln: Ich war nicht dran mit Vorlesen. Direkte Rückmeldungen sind selten, und wenn, meist pauschal. Dagegen sind auch Ganztagschulen keine Wunderwaffe, aber sie fördern erfolgreiches Lernen. Das ist eine weitere zentrale PISA-Botschaft.
Eine echte Ganztagsschule - also kein Billigfreizeitangebot am Nachmittag - schafft den zeitlichen und räumlichen Rahmen für gleichere Chancen zwischen KLassen und Geschlechtern. Doch wie ernst ist es BildungspolitikerInnen und LehrerInnen wirklich damit?
Für Renate Hendricks, die Vorsitzende des Bundeselternrates, steht und fällt alles mit "der Veränderung der Lehrerarbeitszeit. Es muss in Zukunft verlangt werden, dass die Lehrer und Lehrerinnen, wie in jedem anderen Beruf, 35 Stunden an ihrem Arbeitsplatz tätig sind. Zur Zeit sind die Lehrer und Lehrerinnen 23 bis 28 Unterrichtsstunden in der Schule, den Rest arbeiten sie zu Hause. Wo gibt es das noch?"
Die Pädagogen müssten auch am Nachmittag zur Verfügung zu stehen für die Betreuung und Beratung der Schüler. Lehrer übernehmen dann automatisch mehr Verantwortung für das Schulleben. So werden sie sich auch selbst in der Schule wieder wohler fühlen. Doch genau darüber wird auch nach PISA noch kaum öffentlich diskutiert.
"An der Ganztagsschule führt kein Weg mehr vorbei", glaubt auch Jutta Wreschniok, Konrektorin an der Grundschule Mittenwald mit über 600 Mädchen und Jungen. "Das wird in zehn Jahren geschafft sein. Das wird dann auch eine ganz andere Gruppe von jungen Leuten bewegen, den Lehrerberuf zu wählen, der eines sicher nicht ist: ein lockerer Job."
Vielleicht werden dann auch in Deutschland - wie im PISA-Musterland Finnland - die besten StudentInnen eines Jahrgangs LehrerInnen. Denn der einseitige Paukerberuf wird dann zum vielseitigen Menschen-Management.
Lehrerin Wreschniok hat in Bayern eine dreijährige Ausbildung zur "studierten Beratungslehrerin" abgeschlossen. Sie betreut unter anderem zwei Gruppen von je acht verhaltensauffälligen Kindern. Und sie ist auch für Eltern mit Erziehungsproblemen da: 200 Gespräche führte sie allein im letzten Jahr. Auch ein "Jugendgericht" betreut sie an der Schule.
Und: Die 52-jährige Pädagogin ist Ansprechpartnerin für KollegInnen mit einem Burnout-Syndrom. Nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrungen ist sie für die Abschaffung des Beamtenstatus. Die Unkündbarkeit unfähiger, überforderter Lehrer ist für sie schlicht "ein Unding"! Jutta Wreschniok selber hat auch nach 30 Jahren Arbeit als Grundschullehrerin "immer noch Spaß an der Schule. Weil ich mich immer wieder verändert und weitergebildet habe. Aber: Weder in Kollegien noch in den Klassen sind "Streber" gut angesehen.
Doch auch bei den Eltern muss sich etwas ändern. Meine Erfahrungen auf Elternabenden: Mütter und Väter sitzen stumm in den Bänken. Frontalunterricht wie einst, die Erwachsenen mutieren zu Schulkindern. Offene Diskussion über den Unterricht: Fehlanzeige. Dafür abwiegelnde Sätze der Klassenlehrerin wie: "Machen Sie sich keine Sorge, wenn Ihr Kind eine Vier hat, der Mathelehrer geht eben etwas schneller vor."
Die Bitte einer Mutter, mehr Rücksicht auf die Schwächeren zu nehmen und die neuen Aufgaben länger zu üben, erzeugt nur die Gegenfrage der Lehrerin: "Üben Sie denn nicht zu Hause?" Und die Nachfrage eines Vaters: "Warum stellen Sie Kinder zur Strafe in den Flur?", erzeugt nur Schweigen. Auch bei den anderen Eltern. Erst anschließend bewundern sie "den Mut" der beiden Frager, doch: Wir sagen lieber nichts, sonst kriegt es unser Kind ab.
Zwischen 1995 und 2001 hat sich die Zahl der SchülerInnen mit Nachhilfeunterricht verdoppelt auf 600.000. Schweigend bezahlen deutsche Mütter und Väter, die es sich leisten können, lieber Geld für Nachhilfeunterricht, anstatt gegen die Streichung von Förderstunden und den ständigen Stundenausfall zu protestieren.
Konjunktur hat darum in der PISA-Debatte auch "die Elternkatastrophe", wie die "Zeit" noch im Frühjahr vorwurfsvoll titelte. Eltern - sprich: Mütter? - vermittelten außer Spaß und Konsum keine Werte mehr, Disziplin versacke auf der Couch vor dem Fernseher, Ehrgeiz tobe sich nur noch in Videospielen aus,
Bücher dienten bestenfalls als Dekoration in der Schrankwand. Entgegen solcher Klischees sind die meisten Eltern bemüht, ihre Kinder "aktiv" zu erziehen, aber ihr Einfluss ist nicht der einzige. Und die mangelhaften Betreuungseinrichtungen tragen das ihre zur Verwahrlosung mancher Kinder bei. Es fehlen Sprachtherapeuten, Sozialarbeiter und Psychologen.
Lehrerin Wreschniok in Mittenwald arbeitet da noch in einer relativ heilen Schulwelt. Dass früher alles besser war, sagt sie nicht, aber: "Am Anfang meiner Tätigkeit hatten wir pro Klasse ein schwieriges Kind, das allen namentlich bekannt war. Heute sind in jeder Klasse im Schnitt vier bis fünf schwierige Kinder, Tendenz steigend. Dazu kommt meistens noch ein schwerstgestörtes Kind in fast jeder Klasse." Redet sie mit den Familien, macht sie oft ähnliche Erfahrungen: Diesem Kind hat nie jemand zugehört - warum sollte es also reden.
Schwierige Kinder werden zu schnell zu Versagern, zu EinzelgängerInnen oder SitzenbleiberInnen gemacht, die aus Hilflosigkeit irgendwann destruktiv werden: Mädchen meist gegen sich selbst, Jungen meist gegen andere. Nicht nur große Demütigungen wie Schulverweise sind es, sondern auch kleine Alltagsdinge: die blamable Korrektur mit roter Tinte oder der öffentliche Tadel vor der Klasse. "Kinder lernen am besten durch Um- und Irrwege", sagen Erziehungswissenschaftler wie Peter Struck von der Universität Hamburg.
"Deshalb macht es keinen Sinn, wenn man Fehler 13 Jahre lang mit einem Rotstift bestraft. Wir müssen die Schule von einer Belehrungsanstalt zu einer Lernwerkstatt umbauen." Dazu gehören auch neue Methoden zur Überprüfung, ob das, was gelehrt wird, auch wirklich bei den Schülern ankommt.
Nachdenken nach PISA, auch was die Lerninhalte und Unterrichtsmethoden angeht: In den PISA-Tests wurde weniger das gepaukte Faktenwissen abgefragt, sondern eher die Fähigkeit, eigene Schlüsse zu ziehen und Gelerntes anzuwenden. Doch auch asiatische Paukschulen waren laut PISA erfolgreich. Genauso wenig wie die Ganztagsschule eine Wunderwaffe ist, ist die Gruppenarbeit ein Wundermittel. Die Mischung macht's vermutlich. Und um das zu erreichen, braucht es wenig Neues, nicht einmal neue Lehrpläne.
Die Bayerin Jutta Wreschniok stellte gerade im Schulkreis Garmisch den neuen "Lehrplan Grundschule" vor. Und von dem ist sie restlos begeistert, weil er die freie Arbeit, die Gruppenarbeit, betont. "Aber es gibt überall sehr viel Widerstand." Wreschniok selbst hat in ihren Klassen sehr gute Erfahrungen mit Gruppenarbeit gemacht, für die sich Kinder nach Interesse zu Unterthemen in einem Fachgebiet zusammenfinden.
Sogar Schwächere werden in den Gruppen animiert, auch wenn sie vielleicht erst mal bei anderen abschreiben. "Die Klassen werden nicht lauter und unruhiger, sondern sogar leiser", denn: "Eine positive Lernatmosphäre macht friedlicher."

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So ein Klima hätte auch Erfurt gut gebrauchen können. Und vielleicht kriegt es das eines schönen fernen Tages ja sogar. Denn PISA 2000 war nur der Anfang: 2003 und 2006 wird unser Bildungssystem erneut getestet, wird geprüft, ob alle ihre PISA-Hausaufgaben gemacht haben. Sonst werden aus der schiefen Schule noch einstürzende Schulbauten.

Die Autorin ist nicht zuletzt deswegen Bildungsexpertin geworden, weil sie selber ein Kind hat. Im Beltz & Gelberg Verlag erschien von ihr "Seidenraupe, Dschungelblüte".
In EMMA u.a. zum Thema: Ganztagsschule jetzt! (5/01), Gewalt an der Schule (5/00) und Gewaltzone Schule (2/00).

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