Ausgezeichnet: Laura Poitras

Laura Poitras erhält die Carl-von-Ossietzky-Medaille. Foto: Adam Berry/Getty
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Es gibt eine Szene zu Beginn der Dokumentation „Citizenfour“, die trotz ihrer Beiläufigkeit Bände spricht: Für ­Sekunden ist Laura Poitras im Spiegel zu sehen, wie sie ihre Kamera justiert und sich dabei selbst filmt. Es ist der 3. Juni 2013. Die Filmemacherin und der freie Journalist Glenn Greenwald treffen im Hotel „The Mira“ in Hongkong das erste Mal auf den Mann, der kurz darauf Geschichte schreiben wird: den NSA-Systemadministrator Edward J. Snowden. Der 29-Jährige wird dem Duo Zugriff auf tausende Geheimdokumente liefern, die die Massenüberwachung durch den amerikanischen Nachrichtendienst in einem Ausmaß belegen, das die Welt erschüttert. Nach dem achttägigen Interviewmarathon wird der Guardian ein Video veröffentlichen, das nicht nur Snowden, sondern auch Poitras aus der Anonymität katapultiert. Denn sie ist die Frau, die Snowdens Brücke zur Öffentlichkeit war.

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Für Sicherheits-
behörden ist sie eine „potentiellen
Terroristin“.

Bisher profitierte die damals 49-jährige Filmemacherin von einem ehernen journalistischen Prinzip: Sie verschwand hinter der Kamera. So nach dem 11. September, da filmte sie am ­Abgrund von Ground Zero nicht die apokalyptische Szenerie, sondern die entsetzten Gesichter der New Yorker. Sie sagt: „Meine besten ­Szenen entstehen zufällig.“ Und: „Ich finde die Handlung meiner Filme, indem ich Menschen folge.“

Im Januar 2013 erhält Poitras das erste Mal eine verschlüsselte E-Mail von einem gewissen Citizenfour. Der gibt sich als „hochrangiger Angestellter im Geheimdienstbereich“ aus und verspricht vertrauliche Informationen, solange sich Poitras an seine Anweisungen zur Verschlüsselung hält. „Ich habe dich nicht ausgewählt, du hast dich selbst ausgewählt“, schreibt der Informant.

Zu diesem Zeitpunkt arbeitet Poitras seit fast zwei Jahren an einer Dokumentation über staatliche Überwachung in Amerika. Die New Yorkerin ist nach Berlin gezogen. Auch zum Schutz ihrer Quellen, sagt sie. Poitras hatte Whistleblower wie Wikileaks-Gründer Julian Assange und den ehemaligen technischen Direktor der NSA, William Binney, interviewt, der die USA schon lange wegen illegaler Überwachungsmethoden von Privatpersonen kritisiert. Der Dokumentarfilm soll der letzte Teil einer Trilogie über den „War on Terror“ werden. Diesen Krieg kennt die Filmemacherin zu gut. 2004 flog sie in den Irak, um den Alltag unter amerikanischer Besatzung zu filmen. Es gelang ihr, in dem berüchtigten Gefängnis Abu Ghraib zu drehen. Dort traf sie auf den sunnitischen Arzt und Menschenrechtsaktivisten Riyadh al-Adhadh. Ihn und seine Familie begleitete Poitras in ihrer ­Dokumentation „My Country, My Country“. Dieses Porträt des irakischen Alltags im Krieg brachte Poitras nicht nur eine Oscar-Nominierung ein – den sie 2015 für „Citizenfour“ erhielt! –, sondern machte sie für die ­Sicherheitsbehörden zu einer „potentiellen Terroristin“. Seit der Film 2006 lief, wurde die Vielreisende über 40 Mal am Flughafen verhört, die Daten auf ihrem Computer und ihrer Kamera, ihre Notizbücher kopiert. „Sie stehen auf der Liste“, sagte ein Beamter. „Es gibt eine Skala, wie bedrohlich jemand ist. 400 ist die maximal mögliche Punktzahl. Und die haben Sie.“

Um die Finanzierung ihrer Filme muss Poitras sich keine Sorgen machen. Sie kommt aus der amerikanischen Upperclass. Ihre Eltern sind so reich, dass sie 2007 20 Millionen Dollar an das Massachusetts Institute of Technology spendeten, um das „Poitras Center for Affective Disorders Research“ aufzubauen, ein ­Forschungsinstitut zu Bipolaren Störungen, Depressionen oder ­Schizophrenie. Vater Jim, ein Ingenieur, und Mutter Pat, eine Krankenschwester mit Bachelor in Philosophie, hatten 1979 das Familienunternehmen von Lauras Großvater übernommen.

Laura, die mittlere Tochter, besuchte die Sudbury Valley School in Boston, an der es keine Noten und keine Alters-Trennung gibt. Nach der Highschool zog sie nach San Francisco und wollte Köchin werden. Parallel schrieb sie sich am Art Institute ein und entdeckte ihre Leidenschaft für Dokumentationen. 1992 ging sie nach New York. Fünf Filme hat sie seither gedreht. Zum Beispiel auch „The Oath“ (2010) über Osama bin Ladens Ex-Bodyguard, der im Jemen Taxi fährt.

Greenwald schreibt 2012 als erster über die von Kritikern gefeierte Filmemacherin, die „ständig an der Grenze ­abgefangen wird“. Später erfährt Poitras: Der ehemalige Anwalt und Journalist aus Rio wäre Snowdens erste Wahl gewesen. Aber er reagierte nicht auf dessen Forderungen nach Verschlüsselung. Also wandte sich der Whistleblower an Poitras mit der Bitte, Greenwald mit ins Boot zu nehmen.

Wir reden von einer Bedrohung der Privatsphäre und Demokratie.

Dank „Citizenfour“ haben die ZuschauerInnen das Gefühl, neben Snowden in dem Hotelzimmer in Hongkong zu sitzen. ­Poitras ist immer ganz dicht dran, hält ohne Zögern drauf – und zeigt uns einen wahrhaft anrührenden, todesmutigen aber auch erschütternd naiven Snowden. Poitras Film zeigt auch, dass der heute 32-Jährige kein Vaterlandsverräter, sondern ein echter Held ist.

Als Poitras im Februar den Oscar entgegennahm, rief sie von der Bühne: „Wir reden nicht nur von einer Bedrohung unserer ­Privatsphäre, sondern einer Bedrohung für die Demokratie.“ Ihre Stimme klang gehetzt. Triumph und Stärke waren ihr anzusehen. Aber auch: Angst. Inzwischen hat sie massig Auszeichnungen ­erhalten, darunter die Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte (Foto). Und auch den Deutschen Filmpreis für die beste Dokumentation. Am Flughafen wird Poitras nicht mehr aufgehalten. Es ist ihre Sichtbarkeit, die sie schützt.

Aktualisierte Fassung. Das Porträt erschien zuerst in EMMA Juli/August 2015. Außerdem in dieser Ausgabe: Die Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusi Nicolini - Die US-Comedien und Feministin Amy Schumer - und Ingeborg Rapoport, die mit 102 Jahren ihren Doktor in Medizin gemacht hat. Ausgabe bestellen

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