Die Wahrheit über Prostitution

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Die heute 38-jährige Journalistin Rachel Moran prostituierte sich sieben Jahre lang: auf der Straße, im Bordell, als Escort-Girl. Sie hat es überlebt. Doch erst jetzt, viele Jahre später, schrieb sie die bittere Wahrheit auf. Das Buch räumt endgültig auf mit dem Mythos von der „freiwilligen, selbstbestimmten Prostitution“. Sie spricht vom Missbrauch der Täter wie der Scham der Opfer. Was das Buch so besonders und seine Lektüre so unverzichtbar macht, ist der Abgrund des Erlebten bei gleichzeitig hoher Reflektiertheit. Als Autorin und Bloggerin kämpft Moran heute gegen die Verharmlosung und Legalisierung der Prostitu­tion, als Aktivistin ist die Irin die Europa­Koordinatorin von SPACE (Survivors of Prostitution–Abuse Calling for Enlightenment). Am 17. März hat sie ihr Buch im Münchner Kofra (Baaderstr. 30) vorgestellt. Hier ein Auszug aus dem Kapitel „Scham“.

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Eines Abends, vor einigen Jahren, fragte mich eine meiner Schwestern in leicht angetrunkenem Zustand: „Wurdest du je vergewaltigt oder missbraucht oder irgend so etwas? Du weißt ja, dass du mit mir über solche ­Sachen reden kannst“.

Gehen wir davon aus, dass der Prostituierten ein Knebel verpasst wird (und ich weiß mit Gewissheit, dass das so ist). Wenn ich das Bild einer geknebelten Frau vor Augen habe, dann sehe ich, wie die Gesellschaft das eine Ende des Knebels festhält, während die Prostituierte das ­andere Ende hält – und sie gemeinsam darauf hinwirken, dass der Knoten sich fester zieht. Obwohl ich zu der Zeit der Prostitution seit mehreren Jahren den ­Rücken gekehrt hatte, war der Knoten meines Knebels noch fest an jenem Abend, als mich meine Schwester fragte, ob ich jemals vergewaltigt worden wäre. Deswegen konnte ich auch den ersten Gedanken, der mir durch den Kopf ging, nicht frei aussprechen. Er lautete: „Jeden Tag!“.

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Wir Frauen erzählten uns unsere Erlebnisse immer und immer wieder in der Sprache von Missbrauchsopfern. Wenn wir über die sexuellen Handlungen sprachen, die unseren Körpern aufgezwungen wurden, verwendeten wir Ausdrücke wie „abartig“, „abscheulich“, „ekelerregend“, „abstoßend“ und „widerlich“.

In Bezug auf besonders grausame ­Kunden benutzten wir für gewöhnlich Ausdrücke wie „Bastard“, „Drecksack“, „Dreckschwein“ und „dreckiges Tier“. Diese Wörter habe ich von zahllosen Frauen gehört. Doch in all dem anschaulichen Vokabular habe ich einen Ausdruck selten gehört, und zwar: Missbrauch. Und ich weiß auch, warum. Wir hatten von „Berufs“ wegen keinen Anspruch darauf, von Missbrauch zu sprechen.

Wenn man sich prostituiert, geschieht im Grunde Folgendes: Man willigt ein und akzeptiert ein Entgelt für den sexuellen Missbrauch am eigenen Körper. Man durchlebt all die negativen Gefühle, die mit sexuellem Missbrauch einhergehen, aber weil man eingewilligt hat, hat man sich praktisch selbst geknebelt. Man hat im wahrsten Sinne des Wortes sein Recht darauf verwirkt, seiner eigenen Sichtweise Ausdruck zu geben. 

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In meiner Anfangszeit in der Prostitution, in meinen frühen Teenagerjahren – bevor ich lernte, jede Gefühlsregung im Ansatz zu ersticken, wenn ich mit einem Kunden zusammen war – begegnete ich Männern, die sich an der Offensichtlichkeit meines Widerwillens förmlich weideten. War das etwa kein Missbrauch? Und später, als ich es gelernt hatte, meine Abneigungen nicht offen zu zeigen, sondern mich einfach als unnatürlich gefühllos und kalt zu präsentieren, als wäre ich eine Schaufenster­puppe, wandelte sich ihr Missbrauch dann in etwas anderes um? 

Einmal unterhielt ich mich mit einer nicht prostituierten Freundin, die als Kind sexueller Gewalt zum Opfer gefallen war. Ich erzählte ihr, dass ich den Männern, die mich benutzten, immer mein echtes Alter verraten hatte, als ich 15 war, weil ich festgestellt hatte, dass es sie stark erregte. Dadurch kamen sie schneller und dadurch konnte ich mich schneller aus dem Staub machen. Worauf meine Freundin sagte: „Ist dir nicht klar, dass das sexuelle Gewalt war? Diese Männer wussten, wie alt du warst, aber anstatt entsetzt zu sein, hat es sie sogar noch ­angeturnt, und sie haben deine Jugend und deine Armut ausgenutzt, um deinen Körper auszubeuten.“

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Die Erniedrigung, die auf sexueller Ebene geschieht, beschränkt sich nicht auf die Sphäre des Sexuellen. Sie sickert in das gesamte Leben eines Menschen ein, insbesondere wenn sie wiederholt und ­ritualisiert erfolgt. Drogen- und Alkoholsucht, vernichtetes Vertrauen, zerschmettertes Selbstwertgefühl, körperliche Selbstverletzungen, Selbstmordgedanken – all diese Dinge sind allgemein als „Früchte“ von sexuellem Missbrauch anerkannt. Und all dies habe ich in der Prostitution im Überfluss gesehen.

Wenn eine Person einen Zustand gedanklicher Blockade ausüben und perfektionieren muss (wie es Prostituierte ganz routiniert tun), um die sexuellen Handlungen zu überstehen, die sie über sich ­ergehen lässt, so steht für mich fest, dass diese Person missbraucht wird. Einige Prostituierte werden das nicht gern hören, daran habe ich keinen Zweifel. Ich weiß es, weil ich es selbst nicht gern gehört hätte, als ich mich noch in der Prostitution befand.

Rachel Moran: Was vom Menschen übrig bleibt. Die Wahrheit über Prosti­tution (Tectum, 17.95 €).

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Prostitution: Zum Beispiel Ioana

Ioana mit ihrer Familie in Rumänien.
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Am 13. März 2014 kam die 19-jährige Ioana aus dem rumänischen Dorf Bobolia am Leipziger Hauptbahnhof an. Dort wurde sie von ihrer Schulfreundin Florentina abgeholt. Die hatte sie seit Monaten am Telefon bedrängt, doch nach Deutschland zu kommen. Sie könnten sich dann einen Putzjob teilen und alle drei Monate alternierend nach Hause fahren. Ioana zögerte lange, doch dann entschloss sie sich: „Mama, ich gehe, um Geld zu verdienen und meinem Kind ein besseres Leben zu ermöglichen.“

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Das waren ihre letzten Worte zu Hause. Viereinhalb Monate später, am 31. Juli 2014, lag Ioana halb totgeschlagen in einer „Modelwohnung“ in Köln, mitten in der Innenstadt, gegenüber von Karstadt.

Was war passiert? Als Ioana in Leipzig in die Wohnung ihrer Schulfreundin kam, begriff sie schnell. Denn die lebte zusammen mit ihrem Landsmann Robert T., einem Zuhälter. Der zwang nun auch Ioana, sich zu prostituieren. Mehrmals am Tag. Mit Gewalt. Auch pornografische Fotos wurden von ihr aufgenommen. Nach zwei Monaten Leipzig wurde Ioana weitergeschoben, nach Nürnberg, in das nächste Bordell. Ob es vor Köln noch weitere Stationen gab, ist noch nicht bekannt.

Der Mann ihrer Freundin zwang nun auch Ioana zur Prostitution

Am 31. Juli 2014 fand eine Zimmernachbarin in dem Wohnhaus in der Glockengasse mit „Modelwohnungen“ Ioana reglos im Bett. Der Notarzt brachte sie ins Krankenhaus. Dort stellte man eine Hirnblutung und zahlreiche schwere Verletzungen fest. Die junge Frau wurde ins künstliche Koma versetzt. Seither wurde sie dreimal operiert.

Zunächst tappte die Polizei noch im Dunkeln. Wer hatte Ioana das angetan? Ein Zuhälter? Ein Freier? Man stellte auf jeden Fall fest, dass sie auch zahlreiche ältere Hämatome hatte, also schon seit Monaten ein Opfer von Gewalt gewesen war.

Robert T. und die Schulfreundin waren verschwunden – bis sie wieder auftauchte, im rumänischen Fernsehen: Dort beschuldigte Florentina ihren Mann, mit dem sie ein dreijähriges Kind hat, schwer. Er habe sie gezwungen, Ioana nach Deutschland zu locken. Er habe die Freundin in die Prostitution getrieben. Er habe sie halb totgeschlagen.

Der Fall Ioana schlägt seither hohe Wellen in den rumänischen Medien. Die Rumänen halten das Schicksal der 19-Jährigen für typisch. Eine junge Frau wird unter Vorspiegelung falscher Tatsachen aus dem armen Rumänien ins reiche Deutschland gelockt und dort mit Gewalt in die Prostitution gezwungen.

Robert T. konnte nur dank der Aussagen seiner Ehefrau, die inzwischen die Scheidung eingereicht hat, verhaftet werden. Sie hat inzwischen auch bei der deutschen Polizei ausgesagt. Er sitzt seit Ende November in U-Haft in Köln. Genauer: Robert T. war inzwischen bereits im Gefängnis in Leipzig inhaftiert gewesen. Dort wartete auf ihn die Auslieferung nach Rumänien, wo er wegen Doppelmordes gesucht wird. In drei EU-Ländern hatte der Zuhälter bereits vor dem Kölner Skandal Einreiseverbot. Fragt sich, warum so ein Verbrecher sich in Deutschland frei bewegen konnte.

Inzwischen war Ioanas Mutter Gratiela mehrfach am Krankenbett ihrer Tochter. Noch ist deren Zustand sehr kritisch, aber die Ärzte geben sie nicht auf. Doch im besten Fall wird die junge Frau ein lebenslanger Pflegefall sein.

Die Medien be-
zeichnen sie als „Prostituierte“. Dabei wollte sie nur Geld für ihr Kind verdienen. Mit Putzen.

Die Mutter hatte sich schon kurz nach der Abreise der Tochter nach Leipzig Sorgen gemacht. Ioana klang komisch am Telefon. Und irgendwann meldete sie sich überhaupt nicht mehr. Sie konnte keinen Schritt tun und kein Wort sagen ohne die Überwachung von Robert T., sagt heute Florina. Er diktierte ihr jedes Wort. Auch wenn sie mit ihrer Familie telefonierte.

Anfang August gelang es der Mutter erstmals, das Geld für die Reise nach Köln zusammenzukratzen. Der Schock am Krankenbett ihrer Tochter war groß. Mitte Oktober kam sie wieder, für fünf Tage. Nachts schlief sie im Auto. Geld für ein Hotel hatte sie nicht. Inzwischen gibt es Hilfe. Die Mutter muss viel öfter kommen, sagen die Ärzte. Ihre Anwesenheit ist extrem wichtig für die Genesung von Ioana. Ebenso wie das geplante Wiedersehen mit dem Sohn David.

Das einzig Tröstliche in der ganzen so grauenvollen wie in dem Milieu in Deutschland alltäglichen Geschichte ist: Das Schicksal von Ioana hat eine Welle von Hilfsbereitschaft für sie und ihre Familie ausgelöst. In Rumänien wie in Deutschland.

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