Alice Schwarzer schreibt

Sexualität: Frauen obenauf?

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"Jeder Teil des Körpers ist jeder und vielleicht bei jeder Frau ein anderer oder auch der, wo sich nach Schwarzerscher Vorschrift nichts abspielen darf, aber unglaublich viel geschehen kann, vorausgesetzt, der Kopf ist frei. Wenn er aber voll ist von ideologischem Schrott, passiert gar nichts, egal ob mit oder ohne Penetration." Ariane Barth 1988 im "Spiegel".

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"Wir haben dieses Knäuel von Gewalt, Sexismus und Gesetz, von Phantasie, Sexualität und Erotik, von Kunst und Politik nicht lösen können." Bundestagsabgeordnete Regula Bott 1988 auf dem Porno-Hearing der Grünen.

Die härteste aller Erfahrungen ist vielleicht die, dass die fortschreitende Zeit nicht identisch ist mit dem Fortschritt. Ärger noch: Es geht in der Geschichte so manches mal rückwärts statt vorwärts. Und was das kollektive Gedächtnis angeht - darauf ist schon gar kein Verlass. All das bringt in Gefahr, nostalgisch zu werden. Oder penetrant.

Es geht in der Geschichte so manches mal rückwärts statt vorwärts.

Mitte der 70er zum Beispiel. Da war es doch ganz schlicht eine Selbstverständlichkeit, dass die Frauen den Ton angeben, die graderaus sagten: Einfach rein/raus reicht nicht mehr! Frauen standen nicht länger zur Verfügung; sie begannen, sich Fragen zu stellen: Was will ich eigentlich? Worauf habe ich Lust? Habe ich überhaupt Lust? (Und wenn nicht, warum nicht?)

Lange her. Heute scheinen (wieder) die Frauen den Ton anzugeben, für die Sexualität gleich Heterosexualität ist, Heterosexualität gleich Koitus und Mann gleich Pornograph. Eine, die anders denkt und lebt, ist schlicht eine "frustrierte Männerhasserin" - was im Patriarchat nicht als nüchterne Realitätsbeschreibung gilt, sondern als Verstoß gegen das l. Gebot, das da lautet: Du sollst IHN lieben (und das unter allen Umständen und um jeden Preis).

Schier zum Resignieren wär's, , ginge es nicht um etwas so Elementares und Zentrales wie Sexualität. Denn Sexualität ist ja soviel mehr als nur augenzwinkerndes Spielchen, lässige Turnübung oder cooles Ritual. Sexualität kann eine ganz zentrale Quelle für Vitalitat, Sinnlichkeit und Lebenslust sein. Darum hat die Tatsache, dass uns Frauen über Jahrhunderte und Jahrtausende eine eigene Sexualität verboten, geraubt und zerstört wurde, vermutlich noch viel weitgehendere Folgen für die Verfassung der weiblichen Persönlichkeitsstruktur, als wir es heute auch nur ahnen ...

Mitte der 70er Jahre herrschte bei den Frauen Aufbruchstimmung in Sachen Sex. Die "Sexwelle" der späten 60er hatte sie gestreift, ein paar neue Freiheiten, aber noch mehr neue Pflichten gebracht. Die Frauenbewegung nannte die Verhältnisse beim Namen. Da konnte die Männerpresse noch so hetzen, es half alles nichts: Eine Mehrheit von Frauen und Mädchen erkannte sich wieder in den exemplarischen Protokollen vom "Kleinen Unterschied".

Das Buch löste eine wahre Kettenreaktion von Aha-Effekten aus. Frauen begannen zu sagen, was sie bis dahin noch nicht einmal zu denken gewagt hatten. Es wurde öffentlich, dass die herrschende Sexualität selten dem Erzeugen von Lust dient und oft dem Erhalt von Macht ("Höchste Zeit, dass ich meine Frau mal wieder bumse - damit sie weiß, wer der Herr im Haus ist." Ein Zitat aus dem Film "Der Kumpel lässt das Jucken nicht"). Und es wurde klar, dass wir alle - Frauen wie Männer - verdammt viel tun müssen, um das zarte Pflänzchen Eros freizulegen unter dem ganzen Müll.

Die Konsequenzen, die einzelne Frauen aus dem "Kleinen Unterschied" (und all den anderen Büchern und Gesprächen) zogen, waren (und sind) vielfältig. Manche trennten sich von ihren Männern. Manche fingen erst jetzt an, für wirkliche Beziehungen zu ihnen zu kämpfen, auch im Bett. Manche begannen Liebesbeziehungen zu Frauen - oder sie standen endlich auch zu diesen Beziehungen, die sie schon immer hatten. Aber es gab auch die heterosexuellen Paare, die die feministischen Anregungen gemeinsam ernst nahmen und - davon profitierten, auch erotisch.

Ja, es gab sogar die (wenigen) Männer, die den erotischen Aufbruch der Frauen begrüßten (meist, weil ihr eigener Leidensdruck unter dem Macker-Sex schon immer groß gewesen war).
Veränderung war angesagt. Denn Sexualität ist ja nichts Angeborenes, ist nicht Natur, sondern Kultur. Das heißt: sie ist veränderbar. Heute ist Sexualität noch immer für Frauen eher Fessel als Entfesselung.

Wie eine wirklich befreite Sexualität (in einem wirklich freien Leben) sein wird, darüber sind Spekulationen müßig. Ein wenig ahnen es die, die sich bereits ein Stück erotischer Freiheit erkämpft haben.

Zu dieser erotischen Freiheit gehört das Wissen um den Körper und die Emotionen. Das orgastische Zentrum des weiblichen Körpers - also das Pendant zum männlichen Penis - ist die Klitoris. Ein Orgasmus aber ist mehr als das Resultat körperlicher Abläufe, er ist auch und vielleicht vor allem das Ergebnis seelischer Erregung. Das heißt: Was erotisch Spaß macht, das muss letztendlich jede (und jeder) für sich entscheiden, darüber kann und darf es keine Rezepte geben - und schon gar keine Dogmen.

Und genau darum haben wir Feministinnen das erschlagendste der sexuellen Dogmen angegriffen: das Dogma vom Koitus, von der Penetration. Wir waren nie und sind nicht der Auffassung, dass Penetration (mit Penis, manuell oder wie auch immer) keinen Spaß machen darf. Wir haben lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass dies nicht der einzige Spaß und, rein körperlich, für Frauen sicherlich auch nicht immer der Hauptspaß ist!

Warum der Koitus in der Männergesellschaft trotzdem so mystifiziert wurde, liegt auf der Hand: Er ist das Privileg von Männern. Er ist in unserer Kultur darum auch zum männlichen Akt per se stilisiert worden und er liefert Frauen, ganz nebenbei, permanent der Ungewissheit einer ungewollten Schwangerschaft aus (oder zwingt sie zur Verhütung). Dabei ist er nur für eines unentbehrlich: für die Zeugung eines Kindes. Für die Zeugung von Lust ist er oft eher hinderlich. Zumindest für Frauen.

Koitus: Er ist das Privileg von Männern.

Wie es bei den Männern ist? An ihnen, das zu begreifen und zu sagen. Offensichtlich ist, dass in unserer männerdominierten Kultur Sexualität und Gewalt auf eine ungute, fast unlösbare Art und Weise miteinander verquickt wurden. Diese Tendenz wird von der Pornographie erneut verstärkt. Darum kann man zunehmend weniger von Sexualität reden, ohne die immer prägende) werdenden Auswirkungen der Pornographie mitzubedenken.

Pornograpie brutalisiert Sexualität und - macht sie arm. Turnübungen oder Rituale sind nun mal ohne Phantasie und Emotionen schlicht langweilig bis lächerlich. Das macht ja auch Autoren wie de Sade oder Bataille so rasch so fad: mal von vorn, mal von hin ten, mal mit Kruzifix, mal im Würgegriff - die rein technisch möglichen Varianten sind beschränkt.

Auch die Möglichkeiten der Tabubrüche sind, dank der Emanzipation vom Christentum und von der bürgerlichen Moral, weniger geworden. Und noch nicht einmal Aids, die "neue Sexgeißel" hält, was sich der "Spiegel" schaudernd von ihr versprach: Sie verschont die Heterosexualität und die weibliche Homosexualität fast ganz und straft vor allem die Fixer.

Eine Lektion allerdings, eine ganz besonders bittere, lernten wir Frauen hinzu in diesen letzten zehn Jahren: Nämlich die, dass es nicht nur den Macker draußen zu bekämpfen gilt, sondern auch das Weibchen drinnen. Manche Frauen taten das nicht, sei es aus Angst, sei es aus Opportunismus. Sie stellten sich nicht den eigenen Widersprüchen, sondern kultivierten sie.

So formierte sich in dieser zweiten Phase des Geschlechterkampfes ein neues, ein besonders scharfes Batallion: die Truppe der Weibchen. Die, die mit den Wir-lieben-Männer- und Wir-finden-Porno-geil-Gebetsmühlen in der Hand in der vordersten Linie die Kamikaze-Jobs für die Jungs erledigen (welche es ihnen auf Dauer ohne Zweifel nicht danken werden). Diese Weibchen müssen, dies nur zur Klärung, übrigens nicht unbedingt heterosexuell leben. Unter den intellektuell oder erotisch männlich identifizierten Lesbierinnen finden wir einige ihrer bedingungslosesten Parteigängerinnen.

Die Stunde der Weibchen schlug (wieder) mit der PorNO-Kampagne. Und nicht zufällig stieß den Stephans und Barths dabei der "Kleine Unterschied" wieder hoch. Denn in der Tat ist das dieselbe Sache: Der Kampf gegen männliche Übermacht und weibliche Degradierung, auch und gerade in der Sexualität. So ist es denn nicht weiter verwunderlich, dass eine "Spiegel"-Redakteurin 13 Jahre nach Veröffentlichung vom "Kleinen Unterschied" gegen das Buch so schäumt, als sei es gerade erst erschienen; und sich dabei im Ton vergreift, wie es anno 75 nur Männer taten.

Und sie schüren auf Weibchenart ein Missverständnis, das es zu klären gilt. Die PorNO-Kampagne leugnet nicht die eigenen Widersprüche von Frauen: diese unheimlichen Sehnsüchte und Begierden, die zwangsläufig all das spiegeln, was in uns hineingegeben wird. Im Gegenteil. Hingabe, Auslieferung, Unterwerfung - das sind weiterhin zentrale Motive der Erotik der meisten Frauen. Denn zu lange waren das für sie die einzigen erlaubten Formen von Lust. Darüber gibt es kein rechten, und schon gar kein richten!

Nur: Ob es immer so bleiben soll diese Frage muss erlaubt sein. Qui en profite? Wem nutzt es eigentlich, wenn es so bleibt? Und wer sagt, dass wir ausgerechnet bei er Liebe den Verstand verlieren müssen?!

Im Herbst 1988 konnte es sich eine grüne Bundestagsabgeordnete auf dem Porno-Hearing erlauben, allen ernstes öffentlich zu beklagen, sie habe "dieses Knäuel von Gewalt und Sexismus, Phantasie und Sexualität, Kunst und Politik licht lösen können".

Konsequentes Ergebnis dieses ungelösten grünen Hearing: "Wir wollen eine "alternative Pornographie"! (Frau bleibt gespannt, wann diese Bonner Spitzen-Grünen die "alternative Bombe" fordern.)
18 Jahre nach Erscheinen von Kate Milletts "Sexus und Herrschaft" (zum Beispiel) kann eine alternative Politikerin - die immerhin den ganzen Tag dafür bezahlt wird, Politik zu verstehen und zu machen - es sich erlauben, so zu tun, als wäre nie etwas geschehen. Als hätten Feministinnen in den letzten 20 Jahren nichts gedacht, nichts getan, nichts geschrieben. Als sei die neue Frauenbewegung nicht die bedeutendste soziale Bewegung nach 68. Und als sei gerade die Analyse und Auseinandersetzung mit der herrschenden Sexualpolitik - von Abtreibung über Inzest und Vergewaltigung bis hin zu den Sexual)praktiken - nicht der wichtigste historische Beitrag dieser Bewegung!

Stimmt übrigens, das Knäuel von Sexismus, Sexualität und Gewalt ist nicht lösbar. Das hätten wir den Grünen schon im vorhinein sagen können. Eben das macht ja die Brisanz der Pornographie aus! Pornographie beginnt nicht im Pornoladen, sondern am Kiosk, im Museum, in der Glotze, im eigenen Bett. Die erotischen Phantasien und Sehnsüchte eines jeden - und einer jeden! - sind heute davon angefasst. Je jünger, je stärker. Es gibt darum nicht hier die gute Erotik und da die böse Pornographie. Genau das ist unser Problem!

Und darum können Frauen sich vor Pornographie selbstverständlich nicht wirklich per Gesetz schützen. Sie müssten dazu den pornographischen Blick des anderen genauso verbieten wollen wie die eigenen, manchmal pornographisierten Gelüste.

Uns Frauen bleibt - wollen wir weder mit unserer Lust wieder auf der Strecke bleiben, noch vom Hammer der Sexualgewalt erschlagen werden- nur ein Weg: Wir müssen ehrlich mit uns selbst sein, und wir dürfen die Augen nicht verschließen vor dem, was um uns herum geschieht. Das kann heißen, dass wir unsere eigenen Bedürfnisse (die ja keineswegs immer den hehren feministischen Ansprüchen entsprechen!) leben - soweit ausleben, wie sie anderen oder uns selbst nicht zu sehr schaden. Das muss heißen, dass wir uns gegen die steigende Pornographisierung der Sexualität zur Wehr setzen. Und das kann heißen, dass wir vor ihren übelsten Auswüchsen (der Propagierung von Gewaltpornos) rechtlichen Schutz fordern.

Wo Macht und Abhängigkeit herrschen, kann sich auf Dauer keine Erotik entfalten. Pornographie aber propagiert sexualisierte Macht und Ohnmacht. Und sie tut das zunehmend. Denn Pornographie artikuliert sich immer mehr in Bildern. Und die Macht der Bilder in unserer Kultur steigt. Bilder sind allgegenwärtig. Sie sind um uns und in uns.

Soll die Erotik wieder an die Leine gelegt, soll sie Regeln und Ritualen unterworfen werden? Soll sie verstärkt befrachtet werden mit den Dominanzgelüsten von Männern (oder, perverser Höhepunkt männlicher Macht, den Domina-Inszenierungen auf ihren Befehl)? Das wäre schade um die mögliche Lust, zu schade.

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