Die ersten Pfarrerinnen
Argula von Grumbach riskierte viel, als sie 1523 beschloss, diesen Brief zu schreiben. Die 31-Jährige aus gutem Hause hätte es dabei belassen können, sich innerlich über die Ungerechtigkeit zu empören, die ihrer Ansicht nach einem Menschen widerfahren war. Und dann, wenn die Wut nach ein paar Tagen verflogen wäre, hätte sie einfach wieder zurückkehren können zu ihrem Alltag als Mutter von vier Kindern und Gattin des im Dienste des Herzogs stehenden Friedrich von Grumbach, Statthalter von Dietfurt.
Aber all das tat sie nicht. Sie schrieb diesen Brief, in dem sie sämtliche Professoren der Universität Ingolstadt aufforderte, mit ihr öffentlich über die Auslegung der Heiligen Schrift zu disputieren und so dem Reformationsverfechter Arsacius Seehofer zu seinem Recht zu verhelfen. Denn der 18-jährige Magister hatte es allen Verboten zum Trotz gewagt, die Ideen Martin Luthers an der Universität anzupreisen. Seehofer musste nicht nur öffentlich seinen „Irrglauben“ widerrufen, sondern wurde auch in ein Kloster verbannt.
„Zeigt mir, wo es steht, Ihr hohen Meister, ich finde es an keinem Ort der Bibel, dass Christus noch seine Apostel oder Propheten jemanden eingekerkert, gebrannt noch gemordet haben oder das Land verboten“, schrieb sie an die Professorenschaft. Dass von ihnen keine Antwort kam, hielt Argula nicht davon ab, weitere Briefe zu schreiben, darunter an den Herzog von Bayern. Ihm erklärte sie, dass die Bibel der Gehorsamspflicht gegenüber der Obrigkeit Grenzen setze.
Daraufhin entließ der Herzog Friedrich von Grumbach aus seiner gut dotierten Stellung – weil er seine Frau nicht daran gehindert habe, Derartiges zu äußern. Doch die Ehe mit dem überzeugten Katholiken galt ohnehin als zerrüttet. Seine Verwandten sollen ihm geraten haben, seine Frau einzumauern. Er übertrug ihr trotzdem die Verwaltung des verschuldeten Besitzes. Doch sie ging in die Geschichte ein: als erste Autorin des Protestantismus. Acht Flugschriften erschienen in den Jahren 1523/24 von Argula von Grumbach, mit einer geschätzten Reichweite von 30.000 Leserinnen und Lesern.
Dass die Kämpferin für die Reformation nicht von Beginn an als Vorreiterin eines weiblichen Priestertums wurde, gehört zu den unrühmlichen Kapiteln evangelischer Kirchengeschichte. Stattdessen klammerten sich auch die Lutheraner an Bibelsprüche, die bis heute die katholische Kirche verbissen an der Vorstellung festhalten lassen, dass Frauen nicht fürs Priesteramt geeignet seien. Die Überlieferung, wonach Jesus seine männlichen Apostel mit der Verkündigung seiner Lehre beauftragt habe, gehört dazu.
Auch die Paulus zugeschriebene Aussage über die Stellung der Frau in der Gemeinde war folgenschwer. So heißt es im 1. Korintherbrief, 14, 34: „Wie in allen Gemeinden der Heiligen lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde; denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, dass sie reden, sondern sie sollen untertan sein, wie auch das Gesetz sagt.“ Mächtige Worte.
Seit dem Erscheinen der Flugschriften der Argula von Grumbach mussten 419 Jahre vergehen, bis in der evangelischen Kirche die ersten zwei Pastorinnen an den Altar treten durften. Und die waren nicht einmal legal. Die Rede ist von Ilse Härter und Hannelotte Reiffen. Kurt Scharf, Präses der brandenburgischen Provinzialbekenntnissynode und damals Pfarrer in Sachsenhausen bei Berlin und später EKD-Ratsvorsitzender, ordinierte sie aus Protest gegen einen Beschluss der Synode der Bekennenden Kirche. Die hatte sich zwar als Opposition gegen die nationalsozialistischen Deutschen Christen gebildet, war in Sachen Geschlechtergerechtigkeit aber nicht gerade fortschrittlich, auch die Widerstände der Bekennenden Kirche sahen die uneingeschränkte Ordination nur für Männer vor. Kurt Scharf setzte sich darüber weg. Am 12. Januar 1943 ordinierte er die beiden Frauen „zum Dienst an Wort und Sakrament“.
Erst 16 Jahre später Pfingsten 1959 war es endlich auch offiziell so weit: Die kleine Landeskirche Lübeck wagte einen großen Schritt und ordinierte als erste evangelisch-lutherische Kirche in Deutschland und rechtlich abgesichert eine Frau: Elisabeth Haseloff. Wer war diese Frau? 1914 als Tochter eines Professors für Kunstgeschichte und einer Malerin geboren, erlebte sie eine unbeschwerte Kindheit, die einen schweren Einbruch erlitt, als der jüngere Bruder schwerkrank wurde und starb. Dieses Erlebnis sowie die Eindrücke aus dem Konfirmandenunterricht hätten sie innerlich so reifen lassen, berichtete sie später, dass sie schon als 14-Jährige beschlossen habe, Theologie zu studieren. Immerhin das war Frauen seit Beginn des 20. Jahrhunderts erlaubt. Zum Einsatz kamen diese Theologiestudentinnen nach Ablegung der Examina allerdings lediglich in der Kinderarbeit oder der Gefängnisseelsorge. Ein Pfarramt leiten, das durften sie nicht.
Elisabeth Haseloff wollte trotzdem Theologin werden, sich auf irgendeine Weise in der Kirche engagieren, die seit Hitlers Machtübernahme zunehmend ideologischen Zugriffen ausgesetzt war. Auch sie hatte sich der Bekennenden Kirche angeschlossen, auch sie musste erleben, wie rückwärtsgewandt die in Frauenfragen war. 1939 legte Haseloff als erste Frau in der SchleswigHolsteinischen Landeskirche die 1. Theologische Prüfung ab. Die Zulassung musste erst von der „Theologischen Konferenz“ im Landeskirchenamt genehmigt werden. Als sie im Mai 1941 ihr 2. Theologisches Examen ablegte, brauchte sie keine Sondergenehmigung mehr. Pastorin durfte die promovierte Theologin dennoch nicht werden, für Frauen war lediglich das Amt der Vikarin vorgesehen.
Als Vikarin wurde sie während des kriegsbedingten Mangels an männlichen Pfarrern kommissarisch mit der Pfarrstelle von Büdelsdorf bei Rendsburg betraut. Predigen, taufen, trauen, beerdigen, Konfirmandenunterricht – plötzlich durfte sie all die Aufgaben übernehmen, die einer Frau eigentlich nicht zustanden. Doch als nach dem Krieg die Männer wieder für den Pfarrdienst zur Verfügung standen, sollten die Frauen zurück in die zweite Reihe und das Gemeindepfarramt abgeben.
In der im Januar 1945 von der schleswig-holsteinischen Landeskirche beschlossenen „Verordnung zur vorläufigen Regelung der Anstellung im Amt der Vikarin“ hieß es: „Trauungen und Beerdigungen sind tunlichst nicht von den Vikarinnen vorzunehmen“. Doch Elisabeth Haseloff hatte den Kirchenvorstand hinter sich. Der fuhr extra zur Kirchenleitung, um gegen die Absetzung der Vikarin zu protestieren. Die Kirche gab nach, ließ die Frau im Amt und genehmigte, dass sie die Gemeinde leitete. Natürlich nur in der Funktion eine „Vikarin“ – und auch nicht zum Gehalt eines „Pfarrers“.
Nachdem in der Bundesrepublik am 1. Juli 1958 das Gesetz zur Gleichberechtigung von Mann und Frau in Kraft getreten war, verabschiedete Lübeck ein „Kirchengesetz zur Rechtsstellung der Pastorin“. Bis heute lässt es sich nicht nachvollziehen, ob die Regelung, die Frauen plötzlich das Pfarramt öffnete, auf Elisabeth Haselhoffs Forderung zurückging. Tatsache ist, dass Lübeck sie als Leiterin der übergemeindlichen Frauenarbeit wollte – und sie die Leitung der evangelischen Frauenarbeit als ordinierte Pfarrerin 1959 übernahm.
Nach ihrer feierlichen Amtseinführung ging erst einmal ein Aufschrei durch die Republik. Der Quick-Titel: „Der Herr Pastor ist – eine Frau!“ war noch harmlos. Der bayerische Landesbischof Hermann Dietzfelbinger wetterte, die Frauenordination wäre „ein Verstoß gegen die schöpfungsgemäße Ordnung“. Hamburgs Bischof Karl Witte erklärte, eine Pastorin könnte nicht „väterlich“ sein, „aber Gott ist Vater“. Verfechter der Frauenordination wie der Lübecker Bischof Meyer erwiderten den Traditionalisten, wenn die Frau nach dem göttlichen Willen tatsächlich weniger Rechte als der Mann haben sollte – müsste die Kirche dann nicht einen Antrag auf Aufhebung der Gleichberechtigung an den Bundestag stellen?
Doch auch, wenn die Ordination von Elisabeth Haseloff ein Paukenschlag war – Ausdruck wirklicher Gleichberechtigung war sie nicht. Denn anders als ihre männlichen Kollegen mussten Frauen im Pfarramt zölibatär leben. „Das Dienstverhältnis der Pastorin endet mit dem Tage ihrer Eheschließung“, hieß es im Kirchengesetz über die Rechtsstellung der Pastorinnen vom 6. Juli 1966. Erst 1974 hob die EKD die „Zölibatsklausel“ auf – 17 Jahre nach Aufhebung des „BeamtinnenZölibats“.
Der Weg, den Elisabeth Haseloff den Frauen bereitet hat, war ein steiniger. Als 1967 auch Hamburg über ein Pastorinnen-Gesetz debattierte, waren zwar bereits in 15 Landeskirchen Pfarrerinnen zugelassen, deutschlandweit gab es aber erst 87 Frauen auf den Kanzeln. In einigen Landeskirchen wehrten sich die Traditionalisten beharrlich. In Bayern durften erst ab 1976 Frauen ordiniert werden. Und das auch nur unter einer Bedingung: Der „Veto-Paragraph“ räumte einem Pfarrer das Recht ein, aus Gewissensgründen die Zusammenarbeit mit einer Pfarrerin zu verweigern und so deren Einstellung in einer Gemeinde zu verhindern. Erst 1997 schaffte Bayern die Regelung ab, die mehrfach angewendet worden war.
Als letzte Kirche innerhalb der EKD führte 1991 die schaumburg-lippische Landeskirche die Frauenordination ein. Zu dem Zeitpunkt wagten in der Nordelbischen Kirche, der heutigen Nordkirche, Pfarrerinnen schon Unerhörtes: Frauen bewarben sich um das Bischofsamt. 1990 kandidierte in Schleswig die Leiterin des Frauenreferats, Ruth Rohrandt, ein Jahr später in Lübeck die Oberkirchenrätin Käte Mahn. Sie scheiterten.
Aber die Frauen gaben keine Ruhe. 1992 stellte sich die 47-jährige Pröpstin Maria Jepsen zur Bischofswahl für den Sprengel Hamburg. Eine Theologin, die sich durch Weltoffenheit auszeichnete, sich zur feministischen Theologie bekannte und sogar die Jungfräulichkeit Marias in Frage stellte. Mehr als 80 Pfarrer der Nordelbischen Kirche drohten, in den vorzeitigen Ruhestand zu treten, sollte Jepsen gewählt werden.
Da erklärte Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth (CDU), die evangelische Kirche dürfte nicht ein drittes Mal einer Frau das Amt der Oberhirtin verweigern. Am 4. April 1992 war es so weit: Maria Jepsen bekam bei der Wahl in der Hamburger Michaeliskirche 78 von 137 Stimmen und wurde die weltweit erste evangelisch-lutherische Bischöfin.
Das Gejammer war groß. Von einer „geistlichen Katastrophe“ sprach der Tübinger Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus. Der Vatikan sah den „interkonfessionellen Dialog schwer gestört“, der Bremer Theologe Georg Huntemann forderte die Pastoren sogar auf, Maria Jepsen das Abendmahl zu verweigern. Doch die sich auf ihre Bibeltreue berufenden Traditionalisten konnten sich nicht durchsetzen.
1999 wurde Margot Käßmann hannoversche Landesbischöfin, 2009 wurde sie zur EKD-Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland gewählt. Dieses Mal kam der lauteste Protest von der russisch-orthodoxen Kirche, die sich nicht nur über die Tatsache empörte, dass eine Frau an der Spitze der evangelischen Kirche stand, sondern auch darüber, dass diese Frau gerade geschieden worden war. Die Orthodoxen drohten, den Kontakt mit der EKD abzubrechen. Doch Margot Käßmann trat schon vier Monate später, im Februar 2010, zurück, nachdem sie mit 1,54 Promille eine rote Ampel überfahren hatte.
Seither ist keine Frau mehr zur EKD-Ratsvorsitzenden gewählt worden – der Einfluss, den Frauen auf die Kirche haben, ist dennoch gewachsen. Auf der bischöflichen Ebene beträgt der weibliche Anteil immerhin knapp 30 Prozent und liegt damit nur leicht unter den 35 Prozent Frauen in der Pfarrerschaft.
Die Tatsache, dass Frauen im Pfarramt zur Normalität geworden sind, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie überproportional häufiger in Funktionspfarrstellen wie in der Krankenhausseelsorge vertreten sind. Überrepräsentiert sind sie auch in Teilzeit-Stellen. Hier spielt also auch der traditionelle Frauenlebenslauf eine Rolle, die sogenannte „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“.
Dass Frauen im Pfarramt auch in lutherischen Kirchen noch immer keine Selbstverständlichkeit sind, zeigt auch die Haltung der Selbständigen Lutherischen Kirche (SELK). Die mehr als 33.000 Mitglieder umfassende Freikirche lehnt die Frauenordination ebenso ab wie die Missouri-Synode, die zweitgrößte, amerikanische Lutherische Kirche. Und für den europäischen Protestantismus war die 2016 getroffene Entscheidung der Evangelisch-Lutherischen Kirche Lettlands, die 1975 eingeführte Zulassung von Frauen zum Pfarramt wieder abzuschaffen, ein schwerer Rückschlag.
Vor einigen Jahren klagte der Münchener Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Graf, es würden zunehmend „Mutti-Typen“ in den Pfarrberuf drängen: junge Frauen aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, ohne die nötige Intellektualität. Wurde jemals eine ganze männliche Berufsgruppe derart diffamiert?
Dass sich der Zimmermannssohn aus Nazareth über die kleinbürgerliche Herkunft seiner Anhängerinnen mokiert hätte, ist ebenso wenig von ihm überliefert wie ein minderwertiges Frauenbild. Der Überlieferung nach hatte Jesus viele Frauen um sich, begegnete ihnen auf Augenhöhe. Und obwohl damals das Wort einer Frau weit weniger zählte als das eines Mannes, waren es seine Anhängerinnen, die als erste am leeren Grab von der Auferstehung erfuhren und von Jesus beauftragt wurden, den Jüngern davon zu berichten. Für die Verkünderinnen der wichtigsten Botschaft des Christentums soll immer noch kein uneingeschränkter Platz am Altar sein?
CLAUDIA BECKER
IM NETZ: Vom 13. bis 16. Mai findet der Ökumenische Kirchentag statt, diesmal virtuell. www.oekt.de
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