Feminismus mit vielen Gesichtern

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Canan Arin ist Juristin und eine der bekannten Aktivistinnen der türkischen Frauenbewegung. Sie wird fuchsteufelswild, wenn jemand behauptet, die Frauenrechte im türkischen Strafrecht seien nur Dank des Drucks der Europäischen Union zustande gekommen. 2004 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetz, das Gewalt in der Ehe unter Strafe stellt. Darüber hinaus schaffte es die Strafnachlässe für die so genannten Ehrenmorde ab und verbot willkürliche Jungfräulichkeitstests im Zuge einer EU-orientierten Gesetzesreform.

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Das hatten auch türkische Frauenrechtlerinnen seit langem gefordert. Vergeblich, doch eins brachten sie durch: das Wegweisungsgesetz, nach dem, ganz wie in Deutschland, gewalttätige Männer die Wohnung verlassen müssen. Als Anwältin gehört Arin zu den Mitbegründerinnen des ersten unabhängigen Frauenhaus-Projektes Mor Cati (Lila Dach) in Istanbul. Mor Cati gibt das Wegweisungsgesetz die Möglichkeit, auf Notrufe von Frauen zu reagieren, die, statt Hilfe zu erhalten, bisher von Polizisten nicht selten direkt von der Polizeistation zurück in die prügelnden Arme der Männer gebracht wurden.

Tatsächlich haben die türkischen Feministinnen in den vergangenen 25 Jahren eine breite gesellschaftliche Sensibilisierung für Frauenrechte erreicht. Standen sie nach dem Militärputsch von 1980 noch allein, weil Rechte wie Linke Frauenpolitik als überflüssigen westlichen Luxus betrachteten, so haben alle Parteien inzwischen die Gleichstellung von Männern und Frauen, einen verstärkten Zugang zu Bildung und Beruf, sowie die Bekämpfung von Gewalt in ihren Programmen verankert. "Ein Novum für unsere Islamisten", feixt Canan Arin.

Die meisten Politiker der konservativen Regierungspartei für "Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) stammen aus dem rigiden islamistischen Spektrum der immer wieder verbotenen und sich erneuernden Parteien um Islamistenführer Necmettin Erbakan. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan galt in den 90er Jahren als dessen potenzieller politischer Nachfolger, seine Frau Emine lief zur Amtszeit ihres Mannes als Oberbürgermeister von Istanbul gern im iranischen Ganzkörperschleier auf Frauenversammlungen der Partei herum.

Mittlerweile steigt bei der europaorientierten Mehrheit in der Türkei der Verdruss über die Tendenz im Westen, Menschen aus muslimischen Kulturkreisen religiös zu determinieren. Gleichzeitig haben neuerdings auch die Islamistinnen die Emanzipation auf ihre Fahnen geschrieben. Noch bis tief in die 90er Jahre bekämpften Feministinnen und Islamistinnen einander, obwohl sie inhaltlich in Forderungen nach mehr politischer Partizipation, Bekämpfung männlicher Gewalt und gleicher Rechte für Frauen Gemeinsamkeiten zu haben scheinen.

Nach einer Studie der Soziologin Nilüfer Narli über die politische Partizipation und das Rollenverständnis rechts-konservativer und islamistisch orientierter Frauen von 2004  unterscheidet sich zwar deren Verständnis von Emanzipation von Feministinnen wie Canan Arin, nicht aber ihre Wahrnehmung der Frauendiskriminierung in der Türkei. Die Islampartei AKP hat die meisten weiblichen, aktiven Mitglieder, wenn auch nicht in Führungspositionen.

Mit 24 Frauen im Parlament gibt es insgesamt eine schlappe Frauen-Partizipation von vier Prozent: Elf Abgeordnete der als sozialdemokratisch-kemalistisch einzustufenden Republikanischen Volkspartei' (CHP) und 13 der Regierungspartei  AKP.   Bezeichnenderweise sind die Mehrheit der Frauen in Führungspositionen auf lokaler Ebene der AKP Verwandte von Funktionären.

Die ebenfalls mit einem AKP-Funktionär verheiratete Sprecherin des Frauen-Flügels der AKP in Istanbul, Mutlu Alkan, meint dazu lakonisch, das sei in der türkischen Gesellschaft eben der einfachste Weg für eine Frau zur Macht.

Alkan selbst managt eine Textilfabrik, ein Kind, den Ehemann, sich selbst und ihre politische Arbeit. Es ist schwer, einen Termin mit ihr zu bekommen und sie wirkt gestresst. Vielleicht wird diesen islamisch orientierten Frauen die Super-Frauen-Rolle irgendwann zu anstrengend, zurück an den Herd lassen sie sich nicht drängen, zumindest nicht freiwillig.

Kampagnen gegen Gewalt an Frauen pflastern den Pfad der türkischen Frauenbewegung. Die Feministinnen wehren sich jedoch entschieden gegen das Stigma, der Islam oder die türkische Kultur ermuntere Gewalt gegen Frauen. Das Ausmaß des Problems in der Türkei ist allerdings erdrückend. Die Fraueninformationsstelle der Anwaltskammer Diyarbakir meldet, dass es allein in der Provinz Diyarbakir in den Jahren zwischen 1999 und 2005 genau 59 gerichtlich gemeldete Fälle von Ehrenmorden gab. Familienministerin Nimet Cubukcu veröffentlichte gerade eine Statistik, nach der allein in den letzten sechs Jahren 1.806 Frauen "um der Ehre Willen" ermordet wurden. Und das sind nur die offiziellen Zahlen. Die Dunkelziffer liegt bedeutend höher.

Die Konsolidierungsgespräche mit der EU haben den Vorteil, dass nun alle diese Zahlen erhoben und veröffentlicht werden. "Wir sind entschlossen, den Forderungen der EU nach Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen nachzukommen", erklärte Ministerin Cubukcu. Die Frauenbewegung hat dadurch neuen Auftrieb bekommen und beschäftigt sich endlich mehr mit der Realität der Mehrheit der Frauen der Peripherie.

Der Mord an der 22-jährigen Güldünya Toren in einem Istanbuler Krankenhaus im Februar 2004 verhalf der im türkischen Südosten bereits angelaufenen Kampagne für mehr Frauenhäuser zu landesweiter Popularität. Die junge Kurdin war aus dem südostanatolischen Siirt nach Istanbul geflüchtet und hatte ein uneheliches Kind zur Welt gebracht. Zwei ihrer Brüder kamen daraufhin nach Istanbul und vollstreckten das Urteil des Familienrates, die Ehre durch Mord wiederherzustellen.

Der Sitz des Landrates von Istanbul finanziert jetzt ein Frauenhaus für Mor Cati. Damit gibt es in der gesamten Türkei nur neun, das ist viel zu wenig. In Diyarbakir ist Nebahat Akkoc eine der couragierten Kurdinnen, die auch vor Kritik an den Verfechtern der heiligen Kurdenfrage nicht halt macht. Die pensionierte Lehrerin gründete 1997 trotz der Missbilligung der so genannten kurdischen Patrioten das Frauen-Zentrum Ka-mer. Seither haben sich fast 2.000 Frauen, die Gewalt erlitten haben, an die überall in der Stadt aushängende Telefonnummer der Hotline mit der Bitte um Hilfe gewandt.

Tatsächlich hatte die militante PKK in den 90er Jahren die Kurdinnen zum Kinderkriegen aufgefordert, um Soldaten für Kurdistan zu produzieren. Nach dem Zusammenbruch des kurdischen Befreiungskampfes konstatieren Frauenrechtlerinnen wie Nebahat Akkoç einen Anstieg der innerfamiliären Gewalt. Die frustrierten Kämpfer prügeln jetzt zu Hause. Nach der Streichung des juristischen Strafnachlasses bei Ehrenmorden verzeichnet die Region nun einen Anstieg so genannter Selbstmorde. Die Statistik für die gesamte Türkei nennt 5.375 Selbstmorde von Frauen für die letzten sechs Jahre.

Ein großer Anteil dieser angeblichen Suizide sind in Wahrheit Morde, die als Selbstmord getarnt werden oder bei denen die Frauen mit Gewalt zum "Selbstmord" getrieben wurden. Auch Güldünya Toren war von ihren Brüdern vor ihrer Ermordung zum Selbstmord aufgefordert worden.

Der Status türkischer Frauen hängt immer noch sehr stark von ihrem Wohnort und ihrer sozialen Stellung ab. Während in den Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir für die Ober- und Mittelschicht ein moderner Lebensstil selbstverständlich geworden ist, leben große Teile der Landbevölkerung und der in die Städte migrierten Anatolierlnnen nach patriarchalischen Wertvorstellungen. Laut UNICEF haben 640.000 Mädchen in der Türkei keinen Zugang zur obligatorischen Schulpflicht von acht Jahren. Jeder 14. Mann, aber jede vierte Frau über 15 Jahren ist Analphabetln. 92 Prozent allen Eigentums gehört Männern, 84 Prozent des Bruttosozialproduktes wird von ihnen erwirtschaftet. Männer verdienen bis zu 50 Prozent mehr als Frauen für gleiche Tätigkeit.

Der in der Türkei im Vergleich zum Westen über den grünen Klee gelobte hohe Anteil von Akademikerinnen, nämlich 37 Prozent allein in den Uni-Lehrkörpern, hat eher mit deren (gehobener) Klassenherkunft zu tun als mit ihrem Geschlecht. Nirgendwo anders werden Professorinnen allerdings auch so schlecht bezahlt. Dementsprechend werden türkische Männer lieber Chefärzte an Privatkliniken, weil sie dort dreimal so viel verdienen wie an der Universitätsklinik.

Die Frauenforscherin Sirin Tekeli hatte in den 1980er Jahren ein Buch darüber veröffentlicht, dass es parallel zur europäischen Frauenbewegung im 19. Jahrhundert bei den westlich orientierten Frauen des Osmanischen Reiches bereits eine aktive Frauenbewegung mit eigenen Publikationen gegeben hatte, die sich für die Abschaffung des Sultanats und die Einführung der monogamen Ehe einsetzte. Die republikanische Geschichtsschreibung unterschlug diese Frauenbewegung, um die paternalistischen Reformen des Staatsgründers Mustafa Kemals, genannt Atatürk (Vater der Türkei), zu glorifizieren.

Tatsächlich machte Atatürk die Emanzipation der Türkinnen zum Kernstück seines Modernisierungsprojektes. Bereits 1930 durften sie wählen, das Kopftuch wurde verboten. Gleichzeitig aber untersagte Atatürk mit Gründung der Republikanischen Volkspartei unter seinem Vorsitz den Frauen die gewünschte eigene Partei. Sie hatten sich unter seiner Leitung für das Vaterland zu engagieren: als Mütter, Ehefrauen oder Lehrerinnen, wie es damals so üblich war. Atatürks Ehe mit Latife, über die gerade eine erste Biografie erschien, hielt nur zwei Jahre. Sie war zu selbstständig.

Diese erste osmanische Frauenbewegung war in Europa weitgehend unbekannt. So schrieb Prinzessin Seniha Sultan, Tochter des Sultans Abfülmejid, 1901 an eine Freundin in Frankreich: "Meine Liebe, die türkischen Frauen werden in Europa verkannt. Sie erzählen sich erstaunliche Dinge über uns.  Wir lebten wie Gefangene, dürften das Haus nicht verlassen und werden von Zeit zu Zeit in Säcken in das Meer geworfen. Sind das nicht unglaubliche Geschichten?" Damals wie heute sind in der Türkei die europäischen Lebensrealitäten bekannter als umgekehrt. Die türkischen Feministinnen hoffen, dass sich das ändert.

Sabine Küper-Büsch, EMMA März/April 2007
Die Autorin lebt in der Türkei. Sie ist freischaffende Journalistin und Filmemacherin.

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