Glückliches Schweden, du hast es besser

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Keine Noten, kein Sitzenbleiben, kein Rumhängen. Keine Rabenmütter, aber dafür Ganztagsschulen. Die deutsche Schulforscherin Karin Kurpjoweit berichtet, warum vom "schwedischen Modell" einfach alle profitieren: SchülerInnen, LehrerInnen, Eltern - und vor allem die Mütter.
Bei meinem letzten Aufenthalt in Schweden bekam ich auf die Frage: "Den ganzen Tag Schule. Aber willst du nicht nachmittags draußen spielen?", die Antwort eines Schülers: "Mit wem denn? Die sind doch alle hier. Und außerdem können wir hier mehr machen." Schule als Lebensraum - ein Ziel, von dem wir hierzulande sehr weit entfernt sind.
Deutschland ist eines der wenigen europäischen Länder, die noch flächendeckend Halbtagsschulen haben. Die wenigen Ganztagsschulen werden von SchülerInnen als diskriminierend empfunden, denn ihre "Rabenmütter" sind berufstätig. Skandinavische Mütter aber gehen bereits in der zweiten Generation gut ausgebildet und selbstverständlich einem Beruf nach.
Die Schwedinnen haben innerhalb der OECD eines der höchsten Ausbildungniveaus, ihre formale Ausbildung liegt sogar über der ihrer Männer. Ihre finnischen Nachbarinnen sind noch häufiger ganztags beschäftigt, und trotzdem - oder darum? - belegt ihr Nachwuchs den ersten Platz im europäischen PISA-Ranking. Machen also 24-Stunden-Mütter Kinder dumm?
In Deutschland ist auch im 3. Jahrtausend die Familie noch Frauensache. Dabei hat die Schule nach dem Grundgesetz die Pflicht zur gleichberechtigten, was heißt zur chancengleichen Erziehung.
Doch die seit den 70er Jahren geforderte Chancengleichheit durch Bildung und Gleichstellung blieb hierzulande weitgehend ohne staatliche Unterstützung. Die Frauen haben zwar einiges erkämpft, aber in der Erziehung ihrer Kinder arbeitet die Schule ihnen bis heute entgegen: durch die fehlende Ganztagsschule und nachmittägliche Schulaufgaben.
Beides ist ein Tabu in Schweden, wo man seit langem ein gut ausgebautes Betreuungssystem und eine Vorschule ab dem 6. Lebensjahr hat. Ganzjährig geöffnete Kindergärten, Nachtkindergärten, Horte nach der Schule, die Tagesmutter als bezahlter Beruf und Krabbelgruppen flankieren weitgehend kostenfrei die Schule.
Und die Ganztagsangebote mit warmen Mahlzeiten lassen den Familien am Ende sogar mehr Zeit füreinander als hierzulande. Der Vorwurf bzw. die typisch deutsche Angst, zu viel "Fremdbetreuung" schade Kindern, wird durch den schwedischen Erfolg in PISA nicht nur entkräftet, sondern endlich als unbewiesener Glaubenssatz entlarvt.
Der skandinavische Erfolg einer gelungenen Bündelung von Bildungs-, Familien- und Sozialpolitik ist nicht zuletzt auf den Anteil aktiver Frauen in der Politik zurückzuführen. Seit 1995 sind 41 Prozent im schwedischen Parlament und die Hälfte der Regierungsmitglieder weiblich. Doch schon seit 1945 hat sich Schweden in seinen Bildungsreformen so weit vorgewagt wie kein anderes Land.
Man begann sehr solide in den 50er bis 70er Jahren mit dem Aufbau der neunjährigen Grundschule, es folgte der Ausbau der Gymnasialschule und schließlich die Hochschule. Das Konzept baute logisch aufeinander auf.
Das Geld kam aus der florierenden Wirtschaft, die als "Schwedisches Modell" bekannt wurde. Auch in wirtschaftlich schlechteren Zeiten Mitte der 90er Jahre kürzte man in der Bildung umsichtig und investiert heute wieder lebhaft.
Die wichtigsten, anfangs mit viel Skepsis im In- und Ausland betrachteten zentralen schwedischen Reformen waren zuallererst die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems und die Einführung einer gemeinsamen neunjährigen Grundschule.
Die sich daran anschließende Gymnasialschule mit berufsvorbereitender Fachlinie wird von etwa 90 Prozent der SchülerInnen fast immer kostenfrei besucht, alle erwerben nach deren Abschluss eine Hochschulzugangsberechtigung. Bildung und lebenslanges Lernen als Chance für alle - und das von Kindesbeinen an.
Im Baukastensystem lassen sich Berufsentscheidungen, die schon früh getroffen werden, ausbauen, jederzeit wieder verändern oder sogar korrigieren. Zum Beispiel kann eine Facharbeiterin nach erfolgreicher Zusatzqualifikation in Einzelkursen ein Universitäts- und Hochschulstudium aufnehmen, unterstützt mit Studiengeldern, die man später zurückzahlt. Schwedische Mütter sind auch deshalb an Universitäten in viel größerer Anzahl als bei uns anzutreffen.
Die Lernziele sind klar definiert: Demokratie, Gleichberechtigung, Ethik und Internationalisierung (Interkulturalität). In Deutschland dagegen arbeiten wir weiterhin mit philosophischen Ansprüchen von Mündigkeit und Emanzipation. Doch gleichzeitig wissen wir nicht, ob das, was wir im Unterricht tun, tatsächlich zu Mündigkeit und Emanzipation führt. Im Geschlechterverhältnis werden diese Ansprüche endgültig zur Farce, denn es gibt keine Befreiung von Abhängigkeit, ohne ein Bewusstsein der Mädchen für finanzielle Eigenständigkeit. Genau dazu erzieht die deutsche Schule aber kaum.
"Die Gleichstellung ist allzu oft als eine Frauenfrage oder als eine soziale Angelegenheit abgehandelt worden. Aber wir glauben, dass dies auch eine Frage der Demokratie ist", schreiben die SchwedInnen in ihrem Schulgesetz von 1994. Und fahren konsequent fort: "Es ist nicht schwer zu erkennen, dass die Teilnahme an demokratischen Prozessen für Jungen bereits mit einem Vorsprung versehen wird. Hier hat die Schule eine große Verantwortung. Die Schule soll aktiv und bewusst das gleiche Recht und die gleichen Möglichkeiten von Frauen und Männern fördern. Die Art und Weise, in der Mädchen und Jungen in der Schule aufeinander treffen und beurteilt werden, sowie Ansprüche und Erwartungen, die an sie gestellt werden, tragen dazu bei, dass deren Auffassung über das, was weiblich und männlich ist, geformt wird. Die Schule hat eine Verantwortung dafür, dem traditionellen Muster entgegenzuwirken. Sie soll Raum für Schüler und Schülerinnen schaffen, ihre Kenntnisse und Interessen auszuprobieren und zu entwickeln, unabhängig von ihrer Geschlechtszugehörigkeit."
Der zeitweilig nach Geschlecht getrennte Unterricht ist in Schweden kein Tabu. Das Ergebnis sind selbstbewusstere Mädchen mit einem breiteren Berufswahlverhalten: 29 % der Schwedinnen sind heute im Ingenieurberuf (in Deutschland keine 5 %). Bei den Jungen ist besseres Lese-, Sprach- und Schreibverhalten das Ergebnis solcher Trennungen, die auch das Sozialverhalten günstig beeinflussen. An vielen Schulen wurde außerdem der "Patenschaftsunterricht" eingeführt, in dem sich größere Jungen in einer Art "Bevaterung" um die kleineren kümmern. Man will eben auch mehr gleichberechtigte Väter und Chefs heranbilden.
Kleine Klassen (höchstens 24, dies aber eher selten) und keine Sitzenbleiber, statt dessen Einzelförderung, bis wieder Anschluss an den Stoff der Klasse gefunden ist, sind im Norden Europas ebenfalls selbstverständlich.
Gerade das schlechte Lesen der deutschen Jungen beeinflusste übrigens stark den unteren Rangplatz in PISA: Ohne seine Mädchen wäre Deutschland noch weiter unten gelandet.
Die Statistik weist nach: Die Mädchen sind Leistungselite! Sie machen häufiger und besser Abitur, sie bleiben seltener sitzen, gehen seltener auf die Sonderschule und Hauptschule. Der kritische Blick auf die schlechteren Schulleistungen von Jungen, von denen viele später trotzdem in Spitzenpositionen landen werden, fehlt hierzulande noch ganz. Unspezifisch ist immer noch von "Schülern" die Rede.
Aber auch die deutschen Schülerinnen werden kaum zu einer Eigenständigkeit befähigt. Ein Grund: Der stressinduzierte Frontalunterricht für LehrerInnen bestimmt immer noch 75 % aller deutschen Klassenzimmer. Von ihm wiederum profitieren vor allem die Jungen, die zu zwei Drittel die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Und die Mädchen? Die lernen früh, die männliche Dominanz zu tolerieren.
Auch das in Deutschland gängige "Erziehungsrezept", einen Rabauken neben ein braves Mädchen zu setzen, ist in schwedischen Schulen tabu. Es hat sich als falsch herausgestellt, dass Mädchen und Jungen im gemeinsamen Unterricht miteinander ihr Durchsetzungsvermögen trainieren. Vielmehr wird eine Komplementarität von Dominanz und Anpassung eingeübt.
Koedukation meinte ursprünglich miteinander und voneinander lernen. Dafür aber gab und gibt es in Deutschland weder den notwendigen zeitlichen und räumlichen Rahmen noch ein Konzept und schon gar nicht genug Personal. In Schweden dagegen arbeiten die LehrerInnen im Team, das heißt, drei in einer Klasse.
Eine Lehrkraft ist verantwortlich für maximal acht SchülerInnnen, das erlaubt den zeitweilig getrennten Unterricht und eine individuelle Förderung. Die Pädagogen verstehen sich als BetreuerInnen und sind den ganzen Tag in der Schule anwesend. Probleme werden untereinander ausgetauscht und gemeinsam wird nach Lösungen gesucht. Straffe Sanktionierung und gleichmachende Gängelung - alles, was den deutschen Schulalltag bis heute ausmacht -  sind in Schweden unüblich. Kein Wunder, dass dort niemals ein Lehrerpult den Raum dominiert!
Noten gibt es in den schwedischen Schulen erst ab der 8. Klasse. Regeln, gegen die immer wieder verstoßen wird, stellt man in Frage. Stundenausfall? Undenkbar, weil keine Schulleitung eine wartende Mutter zu Hause voraussetzt. Haltungsschäden durch schwere Schultaschen, vergessene Bücher? Dagegen hilft ein eigenes Schrankfach, gelernt wird nämlich in der Schule. Der eigene Schreibtisch fördert das ungestörte Lernen und bietet von Anfang an eine Identifikation mit dem eigenen "Arbeitsplatz". Schule ist eben so viel mehr als ein Lernort, sie ist ein offener Lebensraum.
Schon kurz nach sieben Uhr morgens treffen sich in Höfen und Klassen deshalb auch Kinder wie Kerstin, Svenja und Malin, die etwas zusammen machen. In der Regel gehen auch schlechte Schüler mindestens aus diesem Grund gern in die Schule. Im Unterricht ist die äußere Differenzierung in Kurssysteme heute
untersagt. Schulen, die Gegenteiliges versuchten, kehrten nach Misserfolgen zum gemeinsamen jahrgangsübergreifenden Lernen zurück.
Im Interesse des Kindes - aber auch in dem der Mütter und Familien - muss auch in Deutschland endlich begonnen werden, zeitgemäße Konzepte und klare Lernziele aufzubauen. Auch eine bessere LehrerInnenaus- und Fortbildung ist erforderlich. Und mehr Geld. Doch vermutlich wird das vernachlässigte und kaputtgesparte deutsche Bildungssystem alle Kraft einer Generation brauchen, um wirklich saniert zu sein.
Wenn wir wollen, dass die Kinder von heute als Eltern davon profitieren - dann müssen wir heute damit beginnen.

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Dr. Kurpjoweit lehrt an der Universität Oldenburg Koedukation und Erwachsenenbildung. Kontakt: www.uni-oldenburg.de/ fb1/lehre/kurpjowe.htm

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