Ganztagsschule jetzt!

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Plötzlich wollen sie sie angeblich alle, die Ganztagsschule: Vom Kanzler Schröder bis zum CSU-Chef Stoiber, vom Arbeitgeberverband bis zu den Grünen. Und der Verband Alleinerziehender wollte sie schon immer. Wird die Ganztagsschule zum Wahlkampfthema?  Es sieht ganz so aus.
Denn sogar der Bund der deutschen Städte und Gemeinden - die sie letztendlich bezahlen müssten - erklärte jüngst, eine "verlässliche Betreuung von Kindern in Krippen, Horten und Ganztagsschulen" sei wünschenswert. Nun müssten nur noch die potentiellen WählerInnen ordentlich Druck machen - damit Vater Staat die Steuergelder nicht nur für schönere Panzer, sondern auch für mehr Schule ausgibt.
Übrigens: Die Ganztagsschule ist in fast ganz Europa selbstverständlich - nur in Deutschland machten die  Nazis ihr den Garaus. Das wirkt nach. - Ein Report von Charlotte Kerner, selbst Mutter. Ein Interview von EMMA-Redakteurin Barbara Frank mit dem Experten Nr. 1. Und ein Wort der Arbeitsrechtlerin Heide Pfarr zur Verantwortung der Wirtschaft.
Ich habe die Frechheit besessen, drei Kinder zu bekommen ... ‚Frechheit' natürlich insofern", schreibt Friedeborg Meyn (35) aus Winsen an der Luhe an EMMA, "als ich gleichzeitig den Anspruch habe, meine insgesamt acht Jahre Studium und Referendariat nicht völlig verkommen zu lassen.
Aber mein erzwungenes Hausfrauendasein frustriert mich ebenso, wie es bereits meine Mutter frustriert hat. Und dass dringend mobil gemacht werden muss, ist für mich schon im Interesse meiner Töchter sonnenklar." - Ich weiß auch als Mutter nur eines schulpflichtigen Kindes leider nur zu gut, wovon diese Mutter redet.
Die Töchter von Juristin Meyn könnten Glück haben - und ihre Mutter vielleicht auch. Denn vom Kinderschutzbund über die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) bis zur "Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände" (BDA), vom Akademikerinnenbund bis zum "Bündnis für Arbeit", von der PDS bis zur CDU, von Bergmann bis Stoiber - eine in Deutschland nie gekannte große Koalition für mehr Ganztagsschulen hat sich formiert.
Die Frauenbewegung ist nach 30 Jahren im Programm der CDU/CSU  angekommen, denn dort steht zu lesen: "Die Vereinbarkeit von Familienarbeit und Erwerbstätigkeit beider Eltern (Hervorhebung durch die Red.) ist ein zentrales Ziel der Familienpolitik der CDU/CSU.(...) Wir wollen ein bedarfsgerechtes Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen. Dieses ist eng an den Bedürfnissen der Eltern auszurichten. Wenn Eltern dies wollen, sollen Schulen auch Mittagessen und eine Nachmittagsbetreuung anbieten." Hört, hört. Das klang bisher ganz anders.
Berufstätige Mütter fordern das schon lange. Aber von 35.000 allgemeinbildenden Schulen betreuen nur 1100 auch am Nachmittag, das sind gerade mal drei Prozent. Im europäischen Vergleich ist Deutschland Entwicklungsland. Nirgends sonst in Europa haben Schulen nur einen halben Tag lang geöffnet, und bis vor wenigen Jahren war hierzulande nicht einmal das sicher: Dagegen haben seit einigen Jahren private Initiativen (siehe EMMA 5/00) mobil gemacht und mit "betreuten Grundschulen" zur Selbsthilfe gegriffen. Inzwischen sind garantierte Halbtagsschulen in zahlreichen Bundesländern die Regel.
Nirgends sonst in Europa treffen berufstätige Mütter bis heute auf so massive Vorurteile wie bei uns. In Schweden etwa enden Schulen inklusive Mittagessen um 16 Uhr; in Dänemark und Norwegen bleiben SchülerInnen bis 14 oder 15 Uhr und bringen ein eigenes Essen mit, danach gibt es Freizeitangebote. In England schließen Grundschulen nicht vor 14 Uhr 30 und die Gymnasien erst gegen vier, ein Schulessen wird selbstverständlich angeboten. In Frankreich sind die Ganztagsschulen die Regel, und Kindergärten haben fast überall in Europa von 7 oder 8 Uhr bis mindestens 16, oft bis 18 Uhr geöffnet.
Dieser "emanzipatorische Fortschritt Europas" war deutschen Frauen bislang im Namen "der ewigen natürlichen Mütterlichkeit" vorbehalten, diagnostizierte jüngst auch die Hamburger Professorin Barbara Vinken in ihrem neuen provozierenden Buch "Die deutsche Mutter - Der lange Schatten eines Mythos". Die sehr reale Quittung für den Mythos erhalten die Frauen jetzt. Vinken: "Die fehlende Kinderbetreuung hat Deutschland im europäischen Vergleich in Sachen Karriere und Geburtenrate nach hinten katapultiert.
Statt sich für Ganztagskrippen und Ganztagsschulen einzusetzen, streitet man sich hierzulande so ergebnislos wie unverdrossen, wer die Kinder wickeln soll."
Genau das beginnt sich zu ändern, weil immer mehr Frauen Kinder und Karriere wollen, aber nicht länger um jeden Preis und nicht länger von Mannes Gnaden. Besonders jüngere, gut ausgebildete Frauen treten in einen stillen "Gebärstreik" und bekommen keine oder höchstens ein Kind (siehe EMMA- Titelgeschichte 4/2001).
Außerdem ruft die Wirtschaft zunehmend laut nach qualifizierten Frauen. In Zeiten der Green Card ist Ganztagsbetreuung plötzlich nicht länger Sand, sondern Schmiere im kapitalistischen Arbeitsmarktgetriebe. Und weil der Staat die Entwicklung verschlafen hat, hilft so manches Unternehmen sich und seinen Arbeitnehmerinnen zunehmend selbst. Kinderbetreuung als Standortfaktor - schließlich sind heute zwei von drei der 9,2 Millionen Mütter minderjähriger Kinder in Deutschland berufstätig.
Die Wirtschaft verweist auch auf weitere Folgen fehlender Ganztagsangebote: Gerade im Hauptschulbereich ist die Abbrecherquote in Halbtagsschulen erheblich höher (12,9 Prozent) als bei entsprechenden Ganztagsschulen wie Gesamtschulen (6,6 Prozent). In NRW, wo jede fünfte Hauptschule ganztags ist, scheitern nur 10 Prozent der SchülerInnen; in Berlin dagegen, wo es überhaupt keine Ganztagsschule gibt, verlassen 37 Prozent die Hauptschule ohne einen Abschluss.
Das schlechte Abschneiden deutscher SchülerInnen in internationalen Vergleichen schürt die Angst, dass unser halbes, in der Wochenstundenzahl abgehängtes Schulsystem irgendwann ganz "sitzen bleibt" und die letzten deutschen Bedenken von wegen  "Kinderverwahranstalt" sind mit der Mauer ins Wanken geraten.
Die Forderung nach staatlicher Kinderbetreuung hat sich zehn Jahre nach der Wende abgekoppelt vom ideologischen Streit der siebziger und achtziger Jahre um die Gesamtschule. Inzwischen befürworten - so neueste Umfragen - rund die Hälfte (40-50 Prozent) der deutschen Familien in Ost wie West eine ganztägige Schulbetreuung ihrer Sprösslinge. In  Bayern sollen es gar 88 Prozent der Eltern sein, und die sind sogar bereit, dafür in die eigene Tasche zu greifen.
Die pädagogischen Argumente pro Ganztagsschule sind nicht neu und seit langem bekannt - vom sozialen und intensiven Lernen  bis zur Gewaltprävention. Fachbücher dazu füllen meterlange Regale. Darunter ein Buch mit dem Titel "Handbuch Ganztagsschule. Konzeption, Einrichtung und Organisation", geschrieben 1998 von Stefan Appel (siehe S. 64). Er ist  Vorsitzender des bereits 1955 gegründeten Ganztagsschulverbandes und in Kassel selbst Direktor einer Ganztagsschule. Heute ist er als Berater so gefragt wie nie.
In Zeiten wachsender Scheidungsraten und eines steigenden Anteils Alleinerziehender wiegen die pädagogischen Vorteile der Ganztagsschule schwer. Auch weil die Zahl der Ein-Kind-Familien und armer Familien stetig zunimmt, wird ihr eher zugetraut, den schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrag noch zu erfüllen. Heile Familienwelt ade! Ganztagsschulen sollen nun vordringlich in großstädtischen "Problemgebieten" entstehen; auch das ist parteiübergreifender Konsens. So richtig das auf den ersten Blick scheint, birgt es auf den zweiten die Gefahr einer Dis-kriminierung, Ganztagsschule gleich Armenschule.
Vornehmer, aber letztlich genau in diese Richtung argumentiert Josef Kraus, der Präsident des deutschen Lehrerverbandes (DL), in einer Stellungnahme zur Ganztagsschule vom Juli 2001.
Darin heißt es: "So sehr Betreuung und Sozialerziehung implizit Charakteristikum von Schule sind, so wenig sind
sie deren vorrangiger Zweck. Ganztagsbetreuung und Ganztagsschule sind gegenüber familiärer Betreuung der Kinder am Nachmittag und gegenüber außerschulischen Erfahrungsfeldern nun einmal nur die zweitbeste Lösung. (Hervorh. der Red.)
Schulische Ganztagsangebote dürfen zu keinem Funktionsverlust des elterlichen Erziehungssouveräns führen, sie sollten Eltern auch nicht dazu verführen, nur noch 'außer Haus' in einer staatlichen Schließfachpädagogik erziehen zu lassen." Trotz solch typisch deutscher, pauschaler Elternschelte übersteigt nach Schätzungen der GEW inzwischen die Nachfrage nach ganztägigen Angeboten die Plätze örtlich um das Zehnfache.
Und die Nachfrager gehören nach dem Einkommen eher zur "neuen Mitte". Nicht zuletzt deshalb wurde die Ganztagsschule jüngst in Rheinland-Pfalz zum Wahlkampfschlager und der siegreiche Kurt Beck "zum Vorbild für andere Bundesländer" von der SPD erklärt. Zu Recht, denn Becks Regierung klotzt: Mit jährlich 100 Millionen Mark mehr sollen LehrerInnen und pädagogisches Fachpersonal eingestellt und damit zirka 300 Schulen in fünf Jahren flächendeckend auf Ganztagsbetrieb umschalten. "Flächendeckend" meint hier: An jedem Ort sollen Eltern dann wirklich die Wahl haben.
"Mittelfristig" wollen auch andere Bundesländer genau diese Wahlfreiheit ermöglichen. Vorrang werden - auch hierin besteht breite Einigkeit in der Politik - die Fünft- bis Zehntklässler haben, da ältere SchülerInnen öfters Nachmittagsunterricht haben und selbstständiger sind. Sie können auch schon mal allein bleiben.
In Heide Simonis' Schleswig-Holstein geht die Kultusministerin Uta Erdsiek-Rave einen etwas anderen Weg als Kollege Beck. Sie gibt "dem Ausbau von Ganztagsangeboten an der Schule den Vorrang" statt dem "flächendeckenden Ausbau von Ganztagsschulen". Ein jährlicher Landeszuschuss von 60.000 Mark pro Angebot ist geplant, den Rest müssen Kommunen, Städte und auch Eltern übernehmen.
Schulvereine, freie und öffentliche Träger der Jugendhilfe sollen nach diesem Modell Träger sein und je nach Bedarf "ihre" Betreuung entwickeln. Die Spanne kann reichen von zwei Tagen von mindestens sechs Schulstunden bis zum viertägigen Vollzeitangebot von 8 bis 16 Uhr.
Der Norden baut also ganz wie bei den "Betreuten Grundschulen" stark auf  Privatinitiativen oder Eltervereine, die selbst gestalten und finanzieren. Bis zu 100 Mark im Monat kostet vielerorts die "garantierte" Halbtagsschule. Das wird bei den Nachmittagsangeboten ähnlich geregelt werden.
Die echte "Ganztagsschule" wäre gebunden, das heißt obligatorisch für alle, die in Schleswig-Holstein favorisierte, sehr "offene" Form ist dagegen freiwillig. Und diese Freiwilligkeit stellen alle gesellschaftlichen Gruppen und Parteien als positiv heraus.
Im einst braunen und dann roten Deutschland sitzt die Angst vor dem staatlichen Zugriff eben tief. Niemand plane - das wird immer wieder betont -, einer "glücklichen Mutter", die zu Hause ihre Kinder betreut, den Lebensinhalt wegzunehmen. Nur wer will, solle auch Ganztagsangebote nutzen. Diese offene Variante wäre für den Staat billiger und schneller zu verwirklichen. Sie ist eine Ganztagsschule light.
Vor raschen "Billiglösungen" ohne pädagogische Konzepte warnt die LehrerInnen-Gewerkschaft, aber genau wie auch die Grünen akzeptieren sie offene Formen als "Übergangslösung" und damit als Einstieg in die überfällige Ganztagsschule. In Zukunft wird es wohl beide Formen nebeneinander geben.
Ob diese vielfältigen angedachten Ganztagsprogramme zu "mehr Wettbewerb" (FDP) zwischen den Schulen führen oder am Ende doch eine "gemeinsame Ganztagsschule für alle Kinder und Jugendliche" herauskommt, wie die PDS hofft, oder ob das Gymnasium im Ganztagsbetrieb dadurch leichter auf acht Jahre verkürzt werden kann, was CSU-Ministerin Monika Hohlmeier vorschwebt - all das ist zur Zeit noch Zukunftsmusik. Hauptsache, die Ganztagsbetreuung wird endlich auf den Weg  gebracht.
Es wäre fast eine Revolution, denn über 100 Jahre lang blieb unser Halbtagsschul(un)wesen unangetastet. Wenn jetzt endlich Reformen in Angriff genommen werden, haben wir als Mütter - und Wählerinnen - die Chance, uns prägend einzumischen. Das ist auch nötig, wenn die Ganztagsschule keine "Fata Morgana in der Planungswüste" bleiben soll, sondern ein "schulpolitischer Quantensprung" wird.
Ob das gelingt, das ist auch eine Frage des Geldes! Ganztagsschulen brauchen 20 bis 40 Prozent mehr Personal. 2.500 Mark mehr pro Jahr soll ein Schulplatz kosten, 30 Prozent mehr als ein Halbtagsplatz. Jährlich sechs Milliarden Mark - so Schätzungen des Instituts der deutschen Wirtschaft - kostet die Ganztagsbetreuung für alle SchülerInnen der Klassen 5 bis 10.
Der Bund zahlt in unserem föderalen System nichts für Ganztagsschulen, diese Kosten tragen je zu Hälfte Land und Kommunen. Doch auch hier könnten neue Lösungen gesucht, könnte das Thema zur Chefsache gemacht werden. In einem Stern-Interview vom Januar 2001 sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder:
"Was es in anderen westeuropäischen Ländern gibt, müsste auch in Deutschland zu schaffen sein, nämlich eine Betreuung über den Tag. Die Ganztagsschule halte ich für einen richtigen Ansatz, gar keine Frage. Man muss nur wissen, dass das alles unendlich viel Geld kostet und dass der Bundeskanzler es leicht hat, darüber zu diskutieren, denn zahlen müssen es die Länder. Insofern bin ich da zurückhaltend. Aber die Perspektive ist richtig. Bund und Länder sollten mal darüber reden, wie man das hinkriegen kann." Nehmen wir ihn beim Wort.
Woher nehmen und nicht stehlen? Vom Ehegattensplitting, das nicht etwa Kinder fördert, sondern nur Gattinnen: jedem Ehemann sein persönliches Dienstmädchen. Bis zu 25.000 DM im Jahr kann ein Spitzenverdiener dank Splitting im Jahr sparen. Rund 50 Milliarden Mark im Jahr fehlen Vater Staat dadurch im Steuersäckel. Schleswig- Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis wagt es zur Zeit, das bei Spitzenverdienern aller Couleur und aller Berufsgrade - inklusive Politiker - so beliebte Splitting anzugreifen.
Alle anderen Politikerinnen sind zwar auch dagegen, halten sich aber bedeckt.
Wobei: Mehr Geld für die Schulen müsste zunächst in das vorhandene Schulsystem gesteckt werden. Denn da blättert im wahrsten Sinne der Putz von der Decke. Keine Farbe, keine Mittel, keine LehrerInnen. Jeder einzelne Lehrerausfall hat bittere Konsequenzen. Klassenzusammenlegungen und Unterrichtsausfall sind die Folge.
Mütter und Väter streichen Klassenräume oder verschönern Pausenhöfe, zahlen "Kulturgeld", um die Schulbücherei zu bestücken, oder spenden Euros, um ergonomische Stühle für unsere Sextaner anzuschaffen. Versteckt bezuschussen wir unsere Kinder und  vergrößern schon lange die Schere zwischen den besseren und armen Schulen.
Doch es wäre falsch, einen Mangel gegen den anderen aufzurechnen. Beide Probleme - arme Halbtagsschule und fehlende Ganztagsschule - sind in der reichen BRD ein Skandal. Beide erlebe ich als Mutter eines Schulkindes seit Jahren. Mein Sohn steht, inzwischen fast zwölf und Gymnasiast, schon nach der vierten Stunde wieder vor der Tür. Da war ich schon mal viel weiter!
Als Mütter sind wir Hilfslehrerinnen der Nation und machen kostenlose Hausaufgabenbetreuung oder bezahlen Nachhilfeprofis. Die  Mehrheit kann sich weder das eine noch das andere leisten. Derweil werden  die Rufe nach Privatschulen lauter.  "Wenn  ich schon für mein Kind Geld ausgebe, will ich bekommen, was ich will, und mein Kind auch", ist nach den Elternabenden immer öfter zu hören, auf denen immer neue Unterrichtsausfälle angekündigt werden.
Deshalb ist die Frage fast theoretisch, ob Ganztagsschulen kostenlos sein müssen oder durch "zumutbare" Elternbeiträge "kofinanziert" werden, weil wir Eltern bereits drauf- und mitzahlen. 30 Mark mehr pro Kind - umgerechnet ein kostenloses Pamperspaket oder bestenfalls zwei Nachhilfestunden pro Woche für jedes Kind - war deshalb genau das falsche Signal in dieser Zeit! Wie viel Ganztagsplätze hätte dieses Geld gebündelt gebracht!
Es fällt auf, dass in der angelaufenen Schuldebatte eine große Chance vertan wird: Endlich radikal in Deutschland aufzuräumen mit dem "Mythos der Mütterlichkeit". Barbara Vinken: "Wie ein roter Faden zieht er sich vom Protestantismus durch die nationalsozialistische Ideologie bis zum heutigen Biogesundheitswahn". "Nur die gesunde Kleinfamilie mit einer Mutter, die sich um alles kümmert, kann gegen die kalte, harte Welt bestehen."
Groß sei immer noch die "unthematisierte Diskrepanz zwischen einem aufgeklärt auftretenden Bewusstsein von Gleichberechtigung und der genügsamen Einwilligung in deren praktisches Gegenteil", wirft Barbara Vinken deutschen Müttern vor. Je kleiner das Kind, umso lauter der Ruf nach der 24-Stunden-Mutter!

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Darüber schütteln französische oder dänische Mütter nur verständnislos den Kopf. Ihr Nachwuchs ist weder in Kinderkrippen noch in den Ganztagsschulen seelisch verkrüppelt oder verhaltensauffällig geworden. Ein Tag hat 24 Stunden und acht Stunden in Betreuungseinrichtungen lassen noch genug Zeit für ein - dann in der Regel eher entspanntes - Miteinander in der Familie.
Die Ganztagsschule ist keine bevölkerungspolitische Wunderwaffe. Allein macht sie weder mehr Lust auf Kinder, allein taugt sie auch nicht zur Mobilisierung qualifizierter weiblicher Arbeitskräfte. Sie ist ein Faktor im Bündel Ganztagsbetreuung: eine notwendige, überfällige Hilfe für die zweite Hälfte der Kindheit.
Doch die erste Hälfte ist noch entscheidender - gerade für uns Frauen. Und da sieht es in Deutschland noch trostloser aus als in den Schulen. Krippenplätze - geschätzte Versorgungsrate magere 2 Prozent! - sind noch rarer als Hortplätze. Und was nützt der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, wenn Sohn oder Tochter um 12 oder 13 Uhr abgeholt werden müssen?
In den neuen Bundesländern können viele Frauen zum Glück noch auf das zu DDR-Zeiten geschaffene Angebot zurückgreifen. Nach einer Statistik von 1996 war eine Versorgung für die Hälfte der Kleinstkinder bis drei Jahre, aller 3- bis 6-Jährigen sowie von gut 80 Prozent der Schulkinder sichergestellt. Doch viele wohnungsnahe Angebote schließen bereits wegen Kindermangel,  also sinkender Geburtenrate, oder weil in die Arbeitslosigkeit entlassene Frauen keinen Platz mehr brauchen. Die makabere Folge: Wegen fehlender Ganztagsbetreuung können manche dann keine neue Stelle mehr annehmen.
In den Niederungen des Betreuungsalltags einer Berufstätigen mit Klein- und Schulkind werden mütterliche Gefühle schnell überstrapaziert oder zerrieben. Ob Verkäuferin oder Uniprofessorin, ob Lehrerin oder Putzfrau - ein öffentliches Ganztagsangebot hilft jeder Mutter.
Doch in Zeiten des Mangels werden Frauen schnell zu Konkurrentinnen um die knappen Plätze. Dann argumentiert die Alleinerziehende gegen die Verheiratete, die Berufseinsteigerin gegen die Karrierefrau. Diejenige, die arbeiten muss, gegen die andere, die arbeiten will. Genau das hat Uta Grey (38) selbst oft genug erlebt.
In Stuttgart war sie im Frühjahr dieses Jahres mit dabei, als die Aktion Kitas entstand, die inzwischen umfassender "Initiative zur Förderung ganztägiger Betreuung" heißt: "Ich habe das Gefühl, wir haben in ein Wespennest gestochen." In der Schwabenmetropole fehlen nämlich für Kinder bis 14 Jahre rund 2.100 Ganztags-Betreuungsplätze in Krippen, Kindergärten und an Schulen bzw. in Horten.
Grey selbst hat nach langem Bangen für ihren zweijährigen Sohn Marko einen Ganztagsplatz in einer nahen Kita bekommen, der "meine Existenz sichert". Angesichts der Proteste hat Stuttgart jetzt sogar ein Sofortprogramm aufgelegt, trotzdem stehen noch zu viele auf Wartelisten.
"Damit wir über die Sommerpause nicht in Vergessenheit geraten", haben die Frauen von der Initiative vom 23. bis 25. Juli noch schnell eine Mahnwache vor dem Rathaus organisiert. "Je zahlreicher wir sind, desto eher werden aus bloßen Statistiken lebendige Anliegen. Brauchen wir vielleicht", so fragen sich die Stuttgarterinnen provokant, "am Ende doch ein bundeseinheitliches Recht auf Ganztagsbetreuung?"
Drinnen - im Haus Deutschland - waltet nicht länger, frei nach Schiller, die züchtige Hausfrau allein, sondern immer mehr die berufstätige Mutter. Und die ist im Jahre 2001 gar nicht mehr züchtig.

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