Polen 2021 - tief gespalten

Die Polinnen gehen gegen die Verschärfung der Abtreibungsgesetze auf die Straße. - Foto: Karol Serewis/imago images
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In Warschau werden keine Pflastersteine herausgerissen, um Polizisten damit zu bewerfen. Denn es gibt seit langem keine mehr. Im Zweiten Weltkrieg ist die Altstadt plattgemacht und durch große stalinistische Alleen in Quadrate aufgeteilt worden. Auf der einen Straßenseite imposante graue Granitblöcke mit schmalen Fenstern, typisch für den brutalistischen Stil der fünfziger Jahre; auf der anderen vom Krieg verschont gebliebene neoklassizistische Prunkbauten und Rokokokapellen. Sozialistischer Realismus versus römisch-katholische Kirche. Fortschrittliche Utopie gegen Konservatismus. Zwei Blöcke. Zwei Welten.

An diesem Tag vor dem polnischen Parlament hat die neue Welt das Gesicht von Jarzebina. Sie ist 32 Jahre alt, trägt Doc Martens an den Füßen, einen Ring an der Nase und hat vom Brüllen gegen die 50 Polizisten, die wie Bleisoldaten aufgereiht stehen, eine kaputte Stimme. Jarzebina ist Tattoo-Künstlerin, Feministin, und erklärt bisexuell. Wenn sie sich die Stimme kaputtschreit, dann weil die seit 2015 regierende ultrakonservative Partei PIS (Recht und Gerechtigkeit) sie daran hindert, das zu sein, „was ich bin“. Nein! zu der Initiative der Regierung, die zugelassen hat, dass sich 88 Kommunen, also ein Drittel aller polnischen Gemeinden, 2019 offiziell als „frei von LGBT-Ideologie“ erklärten. Um die Einheit des Vaterlands vor der „Bedrohung“ zu schützen.

Die neue Welt, das ist auch das Mädchen mit den kastanienbraunen Haaren und den leuchtendgrünen langen Nägeln, Mola, kaum 20 Jahre alt und schon gezeichnet vom fünf Jahre langen Kampf für das Recht auf Abtreibung. Sie streift den Ärmel ihres Sweaters hoch und zeigt eine lange violette Narbe, die sich über ihren Körper zieht. Spuren einer Verletzung durch einen Polizisten auf einer Demonstrat.

Die alte Welt, das könnte der Mann mit den kurzgeschorenen Haaren und den stechend blauen Augen sein, der ein Schild mit der Aufschrift „Stop pedofilii“ hochhält, auf dem ein rotes Verkehrsverbotszeichen eine Regenbogenfahne verdeckt. Oder der „Kriegsveteran“, wie er sich nennt, der seinen Posten vor dem Streiklokal des OSK bezieht, des „Ogólnopolski Strajk Kobiet“ (Generalstreik der Frauen), der seit fünf Jahren alle Demonstrationen für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen in Polen anführt. Ans Hemd hat der Mann das Foto eines Fötus geheftet mit dem Slogan „Tak dla Życie“ (Ja zum Leben). Er brüllt, dass Abtreibung Mord sei, auch Schwule und Lesben müssten verschwinden. „Soll man sie verbrennen?“ wird er gefragt. „Sie zu töten, nützt nichts“, antwortet er allen Ernstes. „Es hilft nur, sie zu behandeln und in die Psychiatrie wegzuschließen.“

Zwei Blöcke, die nicht mehr miteinander reden. Ein Polen, das sich unaufhörlich nach rückwärts wendet mit messianischen Slogans, die die Identität Polens glorifizieren und die katholischen Werte, wie sie dem polnischen Papst Wojtyla, Johannes Paul II., lieb und teuer waren. Ein arbeitsames, familienverbundenes und patriotisches Polen. Ein „Polen als Messias der Völker“, wie es einst im 19. Jahrhundert der Dichter Adam Mickiewicz besang. Der träumte davon, das Ansehen seines von den heidnisch-germanischen Völkern zerstückelten Vaterlandes wieder herzustellen. Als müsste man um jeden Preis das rote Polen des Kommunismus vergessen machen, in das einst rappelvolle Busse mit Westeuropäerinnen zur heimlichen Abtreibung fuhren.

Dreißig Jahre später ist das einst linke Land nach rechts umgeschwenkt, wird immer aufklärungsfeindlicher. Nachdem das Verfassungsgericht mit einem Urteil vom 22. Oktober 2020 die Abtreibung quasi für illegal erklärt hat, selbst bei schwerwiegender Missbildung des Fötus, hat sich das Land gespalten. Auf der Rechten hat die frischgewählte PIS im Lauf des Jahres 2016 die Kontrolle über das Verfassungsgericht, die höchste Instanz des Landes, übernommen, indem es RichterInnen ernannte, die juristisch unqualifiziert sind, aber politisch auf Linie.

In diesem Polen durch die Straßen zu laufen ist, wie durch die Republik Gilead zu reisen, die theokratische Diktatur, die Margaret Atwood in „Der Report der Magd“ imaginiert. An den Häuserwänden auf 4x 3 Meter großen Plakaten überall das gleiche Bild: ein riesiger Uterus in Form eines Herzens, in dem ein ganz und gar rosiges Baby am Daumen lutscht. Das ist ein „Geschenk“ von Mateusz Kłosek, einem regierungsnahen Milliardär, der für 10 Millionen Złoty (rund zwei Millionen Euro) sämtliche Werbeflächen der Stadt gekauft hat.

Und plötzlich an einer Straßenecke neben einem Kloster ein kleines Fenster, hinter dem man eine Wickelunterlage und einen Teddybären erkennt. Fast könnte man es für einen Babyausstattungsladen halten, fielen da nicht die roten Buchstaben ins Auge: „Okno Życia“ (Fenster des Lebens), der Name für die „Babyklappen“, wo man ein nicht gewolltes Baby abgeben kann.

Links das andere Polen, das fortschrittliche und moderne, mit kleinen Regenbogenfahnen an den Fenstern und dem roten Blitz auf schwarzem Grund, dem Symbol der Frauenstreik-Bewegung. Die ist 2016 aus dem „Czarny Protest“ (dem Schwarzen Protest) gegen das Abtreibungsverbot und für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen hervorgegangen. Das Polen, das seit vier Monaten zu Hunderttausenden mit der Parole „Nein zum Kompromiss“ (Nie kompromie) auf die Straße geht.

Das bezog sich auf das bisher geltende Gesetz, wonach ein Schwangerschaftsabbruch in nur drei Fällen erlaubt war: nach Vergewaltigung, bei Gefahr für Leben und Gesundheit der Schwangeren und bei schwerwiegender Missbildung des Fötus. Doch selbst das soll nun nicht mehr gelten.

„Damit erklärt Jaroslaw Kaczynski den Frauen den Krieg“, sagt Krysztyna Kacpura, 60, die Vorsitzende des polnischen Verbandes für Frauen und Familienplanung (Federa). Einen ideologischen Krieg, in dem die Familie als sittliche und göttliche Ordnung proklamiert wird; in dem man davon träumt, einer neuen reaktionären Achse in Europa den Weg zu bahnen und in Brüssel hinter den Kulissen darauf hinarbeitet, eine christlich-fundamentalistische Ideologie zu verbreiten: „Seit dem Fall der Berliner Mauer wächst in Polen der Einfluss der katholischen Kirche unablässig“, konstatiert die Soziologin Katarzyna Zielińska.

Auf den Druck der Kirche hin wurde Anfang der 1990er Jahre das erste Anti-Abtreibungsgesetz verabschiedet. Die Kirche war es, die sich gegen das Referendum über die Abtreibung stellte, dass über 58 Prozent der BürgerInnen forderten. Sie war es auch, die 2004 der Europäischen Union versprochen hat, ihre Gläubigen von der Notwendigkeit des Beitritts zur EU zu überzeugen – im Austausch gegen die Zusicherung der EU, dass die Einschränkungen des Schwangerschaftsabbruchs entgegen den EU-Bestimmungen nicht angetastet würden. Im Namen Gottes führt diese Kirche eine sexuelle Konterrevolution: Die Pille danach gibt es seit 2017 nur noch auf Rezept, selbst im Fall einer Vergewaltigung. Auch In-vitro-Fertilisationen werden nicht mehr finanziert. Und zahlreiche Krankenhäuser lassen ihre Ärzte eine Gewissensklausel unterzeichnen, die es erlaubt, die Durchführung eines Abbruchs abzulehnen.

Nach einer Erhebung, die 2019 von lokalen NGOs durchgeführt wurde, machen rund 160.000 Polinnen jährlich illegale Abtreibungen. Sie fahren in die Slowakei, nach Deutschland, nach Tschechien, nach Österreich oder, nach der 24. Woche, in die Niederlande bzw. nach Großbritannien und bezahlen da 300 bis 600 Euro für den Eingriff (bei einem Durchschnittslohn von 850 Euro). Oder sie besorgen sich Abtreibungspillen im Internet und beten, dass alles gut geht und sie im Fall einer Blutung ein Krankenhaus finden, in dem sie behandelt werden.

Kamila Ferenc, 29, ist Anwältin des Frauenverbands. Sie berät täglich Hunderte von Frauen, die Verhütungsmittel oder einen Abbruch brauchen. Am 22. Oktober 2020, dem Tag des Verfassungsgerichtsurteils, waren alle Telefone der Familienberatungsstelle überlastet. „Das Jammern und Schreien vor lauter Panik an dem Tag war unvorstellbar“, erinnert sich Ferenc.

„Es ist sehr riskant geworden, heutzutage in Polen schwanger zu werden“, sagt auch Marta Machalowska, 37, Aktivistin des Vereins „Ciocia Csesia“ (Tante Tschechien) mit Sitz in Prag. Der Verein hat in den letzten zwei Jahren rund hundert Frauen bei ihrem Abbruchsvorhaben im Ausland begleitet.

Vor einem Monat hat die Staatsanwaltschaft von Białystok vom Universitätskrankenhaus der Stadt die medizinischen Unterlagen aller Frauen angefordert, bei denen zwischen dem Urteil im Oktober 2020 und der Verkündung des neuen Gesetzes im Januar 2021 ein Abbruch vorgenommen wurde. „Was wollten sie damit? Nichts hält sie auf in ihrem teuflischen Vorhaben, aus unserem Land eine Diktatur zu machen“, empört sich Marta Lempart, eine der Aktivistinnen der ProChoice-Bewegung „Strajk Kobiet“. Der Anwältin drohen acht Jahre Gefängnis, weil sie einen Polizisten beschimpft hat. „Wir haben die Mehrheit auf unserer Seite: 69 Prozent der Polen unterstützen uns. Und vor allem haben wir die Jugend.“

Eine Jugend wie Kamil, 17 Jahre, ein „feministischer und panromantischer Junge“, wie er sich selbst beschreibt, Aktivist der Lewica (Die Linke), eine pro-laizistische Koalition, die seit drei Monaten keine Demonstration versäumt. Für diese Generation ist das Geschlecht nicht wichtig.

Die fundamentalistische katholische Lobby der Stiftung „Ordo Juris“ verfolgt Menschen wie Kamil, Menschen, die „nicht den rechten Weg gehen“. Und solche wie Zuzanna Hertzberg, 39, Ärztin für plastische Chirurgie. Sie hat den „Jewish Antifascist Bloc“ gegründet, zum Kampf gegen den Anstieg des Antisemitismus in Polen. Ledig und „child-free“ hofft sie auf eine inklusive und laizistische Gesellschaft, in der sie nicht mehr zur Finanzierung der Kirche beitragen müsste.

Auch Klaudia Jachira, 32, eine der jüngsten Parlamentsabgeordneten (für die Grünen, kein Parteimitglied) glaubt an eine solche Gesellschaft. „Alle die alten Abgeordneten, die im Plenarsaal das große Wort führen, haben nicht begriffen, dass die Welt dabei ist, sich zu verändern“, sagt sie. Sie ist Kabarettistin und Puppenspielerin. Ihre Videoclips auf Facebook, mit denen sie die PIS bloßstellte, sind ein Riesen-Hit. Auge um Auge. Block gegen Block.

MARIE VATON

Aus dem Französischen von Sigrid Vagt. Der Text erschien zuerst im „L’Obs“.

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