"Saudi-Arabien: Apartheid & Terror"
Zynischer geht es wohl kaum noch: Am Sonntag, den 11. Januar 2015, nimmt Ali Awadh Asiri, der saudische Botschafter im Libanon, an einer Kundgebung teil. Wie in vielen Städten der Welt gehen hier in Beirut Tausende nach dem Anschlag auf das Pariser Satire-Magazin Charlie Hebdo als Zeichen der Solidarität auf die Straße. Verübt wurde das Attentat, bei dem zwölf Menschen starben, von radikalen Islamisten. Um den Kampf für Meinungsfreiheit ging es bei diesen Märschen. „Wir sind Charlie“ stand auf den Transparenten.
Sein Vergehen: Er hatte sich öffentlich für Frauenrechte eingesetzt
Nur zwei Tage zuvor hatte das saudische Regime den Blogger Raif Badawi brutal auspeitschen lassen. Sein Vergehen: Er hatte auf seiner Internet-Seite „die Liberalen Saudi-Arabiens“ seine Meinung veröffentlicht: „Juden, Christen und Muslime sind in ihren Rechten gleich“, schrieb er und kritisierte die Macht des ultrakonservativen religiösen Establishments.
Und er startete eine Initiative, um Frauen Englisch zu unterrichten und ihnen IT-Fertigkeiten beizubringen. Dies war die brisanteste Kampfansage an die Apartheid Saudi-Arabiens, wo Frauen Menschen zweiter Klasse sind. Die Anwältin Suad Al-Shammari, die mit Raif den Blog gegründet hatte, wurde wegen zweier Tweets, in denen sie für die Gleichstellung von Frauen eintrat, inhaftiert. Im Januar, kurz nach dem Tod Abdullahs, kam sie frei.
In Saudi-Arabien „darf“ nur jede fünfte Frau berufstätig sein, es gibt keine Gesetze gegen häusliche Gewalt, obwohl zwei von drei sie erleiden. Frauen sind Sklavinnen ihrer Familien: wenn sie sich ihrem männlichen Aufpasser – dem Vater, Bruder oder Mann – widersetzen, wandern sie ins Gefängnis; auch wenn er sie vergewaltigt hat. „Ehebrecherinnen“ werden gesteinigt und das 2011 versprochene Wahlrecht ist nach wie vor nicht umgesetzt.
Saudi-Arabien tritt die Meinungsfreiheit der 27 Millionen Bürger und vor allem Bürgerinnen mit Füßen wie kaum ein anderes Land der Welt. Raif Badawi ist nun das Symbol dafür geworden.
„Wir sind Raif“, sind die Slogans einer neuen globalen Protestkampagne. Saudische Führungsfiguren reihen sich hier genauso wenig ein wie die politische Elite der freien Welt. Angeführt wird die Kampagne von Raifs Ehefrau Ensaf Haidar. Sie flüchtete vor der Verhaftung ihres Ehemannes 2012 mit den drei gemeinsamen Kindern nach Kanada. Seither organisiert sie den internationalen Protest und versucht, westliche Staatschefs zu bewegen, Druck auszuüben. Nicht nur zur Rettung ihres eigenen Mannes, sondern auch zum Schutz der tausenden Freiheitsliebenden, die von dem verbrecherischen Regime der Saudis verfolgt werden. Sie sagt: „Ich bin stolz auf meinen Mann!“ Ohne Ensaf würde vermutlich niemand in der Welt vom Schicksal ihres Mannes wissen.
Raif war bereits 2012 zum Tod wegen „Gotteslästerung“ verurteilt worden. Das Urteil wurde auf „Beleidung des Islams“ und Cyber-Kriminalität zurück gestuft. Die Strafe dafür: 1000 Peitschenhiebe, zehn Jahre Gefängnis und knapp 200000 Euro Strafe. Also faktisch ein Todesurteil auf Raten. Auf dem Platz der Al-Jafali-Moschee in der saudischen Hafenstadt Dschidda erhielt Raif am 9. Januar die ersten fünfzig Hiebe auf den Rücken.
Laut der Ärztin Juliet Cohen von der US-amerikanischen Organisation „Freedom of Torture“ besteht seither akute Lebensgefahr für ihn: „Je mehr er geschlagen wird, desto höher wird die Gefahr, dass sich offene Wunden bilden und sich diese infizieren, die Schmerzen werden massiv zunehmen,“ gab sie für Amnesty International zu Protokoll.
Ihr Vergehen: Sie war vor ihrem gewaltätigen Vater geflüchtet
Über zwanzig Wochen, jeden Freitag, sollte Raif ausgepeitscht werden. Ein einziges Mal jedoch reichte. Die Strafe wurde aus „gesundheitlichen Gründen“ ausgesetzt.
Mit Raif sollte ein Exempel statuiert werden, sagt seine Schwester Samar: „Die Botschaft ist ganz klar: Wenn ihr so denkt wie er, werdet ihr enden wie er“, sagte sie der Washington Post. Sie riskierte mit dem Telefonat viel, denn sie steht selbst im Visier. Ende letzten Jahres, als sie auf Einladung der EU an einer Konferenz in Brüssel teilnehmen wollte, wurde ihr am Flughafen der saudischen Hauptstadt Riad der Pass abgenommen.
Schon vor Jahren war Samar Badawi inhaftiert worden und über Monate ins Gefängnis gesteckt. Grund: Sie war vor ihrem gewalttätigen Vater geflüchtet. Dank internationalem Druck kam sie frei. Später war Samar die erste Frau, die in Saudi-Arabien vor Gericht ihr Wahlrecht einklagte. Und sie ist eine der Initiatorinnen der Kampagne, die sich gegen das Fahrverbot für Frauen einsetzt. Samar ist mit Waleed Abulkhair verheiratet, dem Anwalt ihres Bruders. Mittlerweile ist auch der Anwalt inhaftiert und zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Sein Vergehen: der Einsatz für Menschenrechte, bzw. in der Diktion der saudischen Richter: „Ungehorsam dem Führer gegenüber“. Seine Frau Samar Badawi hatte 2012 von Hillary Clinton und Michelle Obama den „International Women Courage Award“ verliehen bekommen.
Unter dem 79-jährigen König Salman bleibt Saudi-Arabien auf Kurs. Wieso auch nicht? Der Westen macht ungestört weiter Geschäfte mit dem Land. So setzte die britische Regierung als Zeichen des Respekts ihre Flaggen auf Halbmast, als König Abdullah starb; Großbritannien will für acht Millionen Euro die Gefängnisse in Saudi-Arabien zu betreiben. In diesen Gefängnissen werden heute etwa 30.000 Menschen aus Gesinnungsgründen festgehalten. Menschen wie Raif Badawi oder sein Anwalt.
Nicht viel anders das Verhalten von Deutschland. Der FC Bayern trat nur wenige Tage nach der öffentlichen Auspeitschung Badawis zum Freundschaftsspiel gegen Saudi-Arabiens Fußballer von „Al-Hilal“ in Riad an. Und der deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier änderten – wenigstens vorerst – nicht ihre Pläne, an der 19. Sitzung der deutsch-saudischen Wirtschaftskommission Anfang März teilzunehmen.
Eine Frau gilt als Terroristin, weil sie sich dem Fahrverbot widersetzt hat
Seit 2011 hat sich die Gangart Saudi-Arabiens massiv verschärft. Besonders das im April 2014 verabschiedete neue Anti-Terror-Gesetz ist in Wahrheit ein schlecht getarnter Versuch, Regimekritiker, allen voran Frauen, einzuschüchtern. Eine regimekritische Statusmeldung auf Twitter genügt und eine Terror-Anklage droht. Als sich zwei Frauen Anfang Dezember 2014 dem Fahrverbot widersetzten, wurden auch sie nach den neuen Terrorgesetzen angeklagt.
Und es geht weiter. „Ich bin unschuldig. Ich habe nichts verbrochen“, schrie mit gellender Stimme Laila Bint Abdul Muttalib Basim am 20. Januar 2015. Dokumentiert wurden diese Hilferufe auf einem verwackelten Video, das zeigt, wie die Henker mit einem Schwert den Kopf der Frau abschlagen. Einmal mehr eine öffentliche Hinrichtung in Saudi-Arabien. Einmal mehr traf es eine Frau, eine Gastarbeiterin aus Burma, der vorgeworfen wurde, ihre Stieftochter ermordet zu haben. Der Saudi, der dieses Video gemacht hat, wurde verhaftet, wegen Cyber-Kriminalität.
Alleine vom 1. Januar bis zum 1. Februar 2015 wurden in dem Land 15 Menschen hingerichtet. Raif lebt noch. Doch wie lange? Wir sind Raif!