Schweiz: 700 Jahre Papiland
Die Schweizer Mannsbilder stopfen wieder ihre Pfeife, schultern die Gewehre und heben die Hand zum Rütli-Schwur: 7OO Jahre Vaterland! Kein Grund zum Feiern, finden die Schweizerinnen. Sie rufen auf zum FrauenSTREIKam 14. Juni. Und die Züricher Schriftstellerin Hedi Wyss legt eine Besinnungspause ein: Einblick in 7OO Jahre Papiland.
Klopft mir nicht das Herz in der Brust, wenn ich über die dunkel bewaldeten Hügelkuppen des Emmentals blicke? Hab' ich nicht dieses weiche Gefühl im Magen, wenn auf dem Zürichsee die weißen Schiffe glänzen? Vor fast 40 Jahren, als auch so was Vaterländisches gefeiert wurde wie dieses Jahr, bin ich im Umzug mitgelaufen; die Zöpfe baumelten mir auf dem Rücken, ich hörte das Hufgeklapper, als auf ihren Gäulen die verkleideten Vögte und Burgherren dahertrabten, und ich liebte mein Vaterland innig, so sehr, wie nur ein kleines Mädchen seinen lieben Papi lieben kann.
Und freudig sang ich mit, wenn man (Mann und Frau) intonierte: Rufst du mein Vaterland... hast noch der Söhne ja. Ich dachte nichts dabei, fand es „natürlich", daß nicht von Töchtern die Rede war, auch nicht von Sanftheit, geschweige denn von Solidarität und all dem, sondern nur von freudvollem Streit. Ich bin in den strammen 40er und im kalten Kriegergeist der 50er Jahre erzogen worden. Als Kind ging ich fast täglich auf dem Weg zur Schule an einem Herrn vorbei, der in Kriegerrüstung und mit herrisch vorgestrecktem Arm die Hausfrauen unter ihm und die Geschäftsherren mit den Aktenköfferchen zu segnen schien: Adrian von Bubenberg. Überlebensgroß demonstrierte er uns, was ein Held, ein Schweizer, ein Freiheitsbewahrer war: ein Krieger erstmal, ein Mann vor allem. Ich hatte die Schweiz als Vaterland, als Land der Väter, als Papiland verinnerlicht.
Die Schweizer, ich wußte, wer das war: Da sogen sie im Wirtshausdunst hinter dem Bier an ihren Stumpen und politisierten; da standen sie breitbeinig mit den Händen in den Hosentaschen und jodelten; da flanierten sie im grünen Offiziersgewändchen die Lauben hinunter und hinauf und schleppten irgendein Mädchen am Arm hinter sich her. Und da radelten sie auf den Militärvelos vorüber, die Hosenstöße mit Klammern befestigt, und der Karabiner ragte über ihre geschorenen Männerköpfe empor: Das war Sonntag im Vaterland . Sie rückten hinterm Rednerpult ihre Krawatten zurecht, tippten mit dem Bleistift ungeduldig aufs Holz des Direktionspults, teilten als Rektoren der Mädchenschulen die Zensuren aus. Sie diktierten, sie entschieden, sie benoteten und tadelten, sie belohnten und tätschelten, sie blickten bedeutungsvoll ins Land, und sie sagten, wo's durchgehen sollte.
Ordentlich und geordnet war die Schweiz, und ich fand sie in Ordnung, so wie sie war: ein Männerland mit Hausfrauenkonzept. Mir schien es lange nicht befremdend, das heißt: Lang war ich zwar fremd als Tochter in diesem Vaterland und merkte es nicht, obschon meine Mutter, die nach der Ablehnung des Frauenstimmrechts in den 60er Jahren getreulich zu jedem Trauerfackelzug ums Frauenstimmrecht ging, zu sagen pflegte: ,,Wir Frauen werden behandelt wie Irre und Strafgefangene, die haben auch keine politischen Rechte."
Das war vor rund 25 Jahren. Erst 20 Jahre ist es ja her, daß die Schweiz kein Apartheidsstaat mehr ist (Apartheid praktiziert ein Land, das einem Teil seiner Bevölkerung wegen abweichender körperlicher Merkmale die Menschenrechte vorenthält). Das vielleicht, diese 20 Jahre, könnt' ich als Jubiläum ja jetzt feiern. Doch daß wir Frauen seitdem, trotz abweichender Anatomie, auch „ja" oder „nein" in die Vierecklein auf den Stimmzetteln schreiben können, heißt nicht, daß das Vaterland, der Papistaat überholt ist.
Die Schweiz ist, ausgeprägter als die meisten Nachbarn in Europa, ein Vaterland par excellence mit Papis an der Spitze überall. Immer noch können Frauen hierzulande ihr Leben am leichtesten fristen und bekommen am wenigsten Scherereien, wenn sie sich fügen in die vorgesehe nen Rollen als die Gattin von, die Mutter von, die Sekretärin, die Serviertochter, die rechte Hand von... Als die, die die Windeln waschen von, die Militärsocken spülen von, die Akten ordnen von, die Manuskripte abtippen von, das Fieber messen von...
Selbst der fortschrittlichste Entwurf zu einer neuen Bundesverfassung beginnt mit der Präambel: „Im Namen Gottes", denn der bärtige, alles dominierende Vater ist noch immer an der Macht. „Freiheit" ist noch immer ein Wort mit Männerstimme gesprochen, „Recht und Gesetz" ein Bariton, „Unser Volk" ist ein Baß und „Sicherheit" ein vielstimmiges Dröhnen. Nun, wird man sagen, das ist doch überall so, nicht nur in dieser Schweiz. Und hat sich nicht vieles doch geändert? Das „hast noch der Söhne ja" der Schweizer Nationalhymne ist inzwischen ersetzt worden durch das „trittst im Morgenrot daher". Und obschon wir Frauen das Vaterland nicht entworfen und gebaut haben, sind wir nun willkommen, wenn wir es stützen und aufrechterhalten, es polieren und mit
schonenden Häkeldeckchen versehen, seine Fenster putzen und seine Teppiche klopfen.
Wir können Vorschläge machen, und manchmal sogar gibt ein Papi uns recht, wenn wir über etwas meckern; er nimmt eine Anregung auf und bemerkt sogar anerkennend, wir machten es fast oder — seht einmal an! — ebensogut wie die „Söhne ja".
Aber natürlich, das mit der Mitsprache muß immer im Rahmen bleiben, es darf nicht zu weit gehen. In der Schweiz darf nie etwas zu weit gehen, der Familienfriede des Landes steht auf dem Spiel. Drum hat der Papi am Schweizer Familientisch noch immer das letzte Wort. ER bestimmt schlußendlich, welche Teppiche geklopft und welcher Dreck weggeputzt werden darf. Papiland bleibt Papiland bis auf den heutigen Tag. Denn eine intakte Familie ist immer noch der Ort, wo beginnt, was einmal „leuchten soll" im Papiland.
In einer intakten Schweizer Familie sitzt der Papi oben am Familientisch und die Mami mit den Kindern reihum. Und wie in guten alten Zeiten reden sie nur, wenn sie gefragt werden, sonst hocken sie aufs Maul, wie's sich gehört, besonders, wenn der Papi was zu sagen hat. Im aufs Maul hocken haben die Frauen hierzulande ja Übung. Schon immer haben sie meistens geschwiegen, und zwar nicht nur aus eigenem Triebe und Anschmiegsamkeit, sondern auch der Not gehorchend. Eine Schulstruktur wie die Schweizer, die ganz darauf abstellt, daß in jedem Haushalt mit Kindern eine Hausfrau 24 Stunden lang zur Verfügung steht, ist europaweit als Rarität schon fast schützenswert. Eine Arbeitswelt, die so tut, als pflanzten sich die Schweizer irgendwo in Reagenzgläsern fort und verrichte sich alles, was zum Alltag gehört, von selbst, funktioniert ja nur, wenn fleißige Heinzelfrauchenhände ständig still am Werke sind.
Hast du gesehen, zum Beispiel, wie's den Mamis geht, die sich nicht ans Hausfrauenkonzept anpassen, die etwa ohne einen Papi ein Kind in die Welt setzen? Dann wird die Mami zur Problemmami und das Kind zum Problemkind, denn wenn kein Individualpapi zahlt, wird's schwierig. All die Papis, die vorher, als es um Dinge wie Tagesschulen und Kindertagesstätten ging, immer mit Rührung in der Stimme gesagt haben, da seien sie dagegen, denn Mami und Kinderlein gehörten zusammen, [...] findes es jetzt ganz natürlich,wenn das Mami sich allein durchwursteln muß. Denn wo kämen wir hin, wenn nicht nur die Armee und die Bundespolizei, sondern auch noch die Mamis dem Papistaat auf der Tasche liegen würden? Also wird still vor sich hin gestreßt und gelitten. Noch immer, oder nein, immer mehr gehören alleinerziehende Mütter zu den Ärmsten im Vaterland.
Wenn im Jubeljahr die Politikerpapis das Papiland am l. August im Widerschein der Höhenfeuer auf allen Gipfeln und mit Tremolo in der Stimme als eine einzige große Familie loben, dann geben sie sich als die Landesväter, als die vorausschauenden, fürsorglichen Papis. Und dem Volk, das zuhört auf dem Festplatz und vor dem Fernsehschirm, auch den schwitzenden Trachtenfrauen in den historischen Umzügen wird das Herz in der Brust vor Rührung höher schlagen. Und dankbar werden sie daran denken, wie die harmonische Kleinfamilie Schweiz seit siebenhundert Jahren sicher in ihrem Hochhaus aus Alpenketten sitzt.
700 Jahre lang haben die Heidis und die Trudis nun schon treu zu Hause zum Feuerchen geschaut, während die Heiris und Werners draußen schworen und schössen, geschäfteten und jaßten. 700 Jahre haben die Vrenis zu Hause gezittert und den Stubentisch poliert, während die Wilhelms draußen so sinnvolle Dinge anstellten wie Kindern Äpfel vom Kopf schießen, im Sturm von Nauen springen, für fremde Fürsten plündern und brandschatzen, Geld waschen und in Geheimarmeen Soldäterlis spielen. Und meistens ist ja alles gut gegangen, immer kam der Papi wieder heim, manchmal zwar blutbefleckt (aber in der Schweiz weiß man ja, wie man weißwäscht), und der Alpenkranz erglühte am Feierabend jeweils traulich und unversehrt.
Ja, so was muß man wirklich feiern. Und die Vrenis und Hannis feiern mit. Sie stehen als Gattinnen den führenden Papis zur Seite. Sie lächeln und nicken, rücken sich die Frisur zurecht und bekommen Blumen geschenkt. Und sie strahlen alle. Denn, nicht wahr, dieses unser Vaterland hat's in sich: Es ist ein richtig fortschrittliches Papiland. Die Papis haben 1848 eine Demokratie gebaut, die sucht weitherum ihresgleichen! Wenn man sie wirklich beim Wort nähme, dann würden die Kinder am Schweizer Familientisch nicht immer nurnicken und ängstlich nach dem Papi schielen, wie das leider noch immer geschieht. Nein, das war' dann beim Essen ein Fragen und Antworten, ein Hin und Her und Sich-Auseinandersetzen. Da würden sich nicht viele so ducken wie jetzt und dem Papi so nach dem Mund reden.
Und Demokratie würd's der Papi auch nennen, daß die Landeskinder ihn aufmerksam machen, wenn etwas schief zu laufen beginnt. Daß sie zum Beispiel sagen: Halt Papi, so nicht: Atomkraftwerke wollen wir nicht, die sind nicht gut für die Kinder! Oder: Hast du gesehen Papi, wie die Chemie mit Feuerchen spielt, das schadet doch der Gesundheit, nicht? Oder: Was meinst du Papi, könnte man das mit dem Geld nicht ein bißchen gerechter regeln, du hast doch gesagt, allen soll es gleich gut gehen im Land? Aber, sagen jetzt viele am Tisch, das und nur das haben wir doch die ganze Zeit getan!
Wir haben dazwischengeredet und aufgemuckt. Wir haben geglaubt, daß alles so gemeint ist, wie's geschrieben steht. Und wir haben gehofft, daß alles so wird wie wir's uns erträumt haben, wenn man sich nur ein bißchen Mühe gibt. Und wir haben die ganze Zeit geglaubt, daß der Papi vom selben träumt wie wir.
Wir haben nicht nur geredet, wir wollten auch wissen, wie's steht um die Landesfamilie. Wir wollten dem Papi dabei helfen, die Harmonie aufrecht zu erhalten, die Ungerechtigkeiten auszumerzen. Wir haben also die Augen aufgemacht und uns in der Wohnung umgeschaut. Wir sind ins Kinderzimmer gegangen, und da wars wie in einer richtigen, kinderreichen Familie, alles voller Spielzeug, teures Spielzeug. Aber dann ist uns klargeworden, daß das, was da rumliegt, nicht für die Landeskinder gekauft wurde, sondern für die Papis mit den grünen Hüten und mit den goldenen Blättchen drauf und für die Papis mit den flatternden Krawatten und für die Papis mit den Aktenköfferchen, damit die etwas zu spielen haben: Pänzerchen gibt es da, Waffenplätzchen, Autobähnchen und Kampfflugzeuglein, Atomkraftwerklein, Chemiefabriklein und Genlabörchen.
Wir haben uns an den Familientisch gesetzt und dem Papi erklärt, daß uns das überstellte Kinderzimmer nicht gefallt. Und auch nicht, daß der Papi für seine Autos den ganzen Landesgarten mit Beton zupflastern will; kreuz und quer durch die Beete will er Autobahnen und Parkplätze legen! Aber der Papi hat uns mit seinem ernsten Blick nur sorgenvoll angeschaut. Und dann hat er gesagt, wir müßten realistisch denken und nicht emotional.
Wir haben trotzig weiter drauflos frei geredet und drauflos frei gedacht und so. Denn hat schon jemand so etwas gehört, daß ein Papi lügt wie gedruckt? Ein so lieber, so väterlicher Papi, einer, der dasteht wie Wilhelm Teil auf seinem Sockel und der seinem Kind schützend den Arm um die Schultern legt?
Aber wir haben gar nicht richtig hingeguckt und nicht gesehen, daß Vater Teil bei jedem Wort leicht mit den Augen zwinkert. Versteh mich recht, heißt dieses Zwinkern, versteh, was ich sagen will, und nicht, was ich sage. Und sagen will er halt nur eines mit allen Wörtern, und wenn ich eine aufmerksame Tochter wäre, hält' ich es schon früher gemerkt: Die Wörter „Freiheit" zum Beispiel und „Demokratie" und „Frieden" und so, die meinen „Geld" und nochmals „Geld" und „Wachstum" und „Profit" und „Macht".
Wie ernst es dem Papi damit ist, das haben wir bis heute nicht gewußt. Wir haben nicht gewußt, wie genau der Papi aufschreibt, wer mal böse und ungezogen war. Wir haben viel zu spät gemerkt, wie nachträgerisch und unduldsam er ist. Das Aufschreiben ist ein Hobby vom Papi, das hat er ganz im Geheimen, im stillen Dunkelkämmerchen getrieben. Dort schreibt er seine Notizen auf Zettelchen, dort entwickelt er seine Negative .
Und auch für dieses Hobby hat er so unverschämt viel vom Haushaltungsgeld gebraucht; Geld, das uns jetzt im Garten, zum Isolieren der Fenster, im Budget für Schulbücher, beim Notgroschen fürs Grosi empfindlich fehlt. Wir haben's ja immer vermutet, daß der Papi da im Dunkeln irgendwas Komisches macht... Zwar sagt der Papi immer noch mit treuherzigem Augenaufschlag, er hätte alles nur aus Liebe zu uns getan.
Um uns zu verteidigen und unser Hochhaus im Alpenkranz instand zu halten; um uns die Zuckerbretzeli zu sichern, die wir immer zum Dessert bekommen. Aber ich hab' mich trotzdem arg erschrocken. Ich bin vom Stuhl am Familientisch aus allen Wolken gefallen und hab' mir am Tischbein den Kopf angeschlagen; und dann hab' ich da unten gelegen, und mir sind die Augen nun wirklich aufgegangen, und ich hab' gesehen, wieviel im Schatten des trauten Scheins der Familienlampe liegt.
Und wenn ich jetzt da mit vielen ändern Töchtern und Söhnen unter dem Tisch herumkrieche und die Sachen ans Licht halte, so wird mir klar, wie wenig Vater der Papi für mich gewesen ist. Wie wenig Vaterland das traute Papiland wirklich war.
Oder hab ich das mit dem Vatersein falsch verstanden? Sind Väter und Papis immer die, die nur so tun, als sorgten sie für die Familie, im Grunde aber kommt's ihnen nur drauf an, oben am Tisch sitzen zu bleiben? Unsere Landespapis jedenfalls haben fast alle nur so getan, als wären sie Väter, dabei wollten sie — die im Parlament und die auf den Chefetagen — nur ihr Papitum auf dem Papistuhl nicht verlieren, ihre Papimacht. Denn Papi sein heißt in der Schweizer Landesfamilie, daß man immer das größte Stück Fleisch bekommt und die Wurst, wenn's nur die eine gibt.
Die Papis sagen zwar, Papi sein heiße, dafür zu sorgen, daß immer mehr Fleisch auf den Tisch kommt und daß die Würste immer größer werden. Und es stimmt, sie machen alles für mehr Fleisch und größere Würste, koste es, was es wolle, koste es auch das Leben (der Natur oder der Dritten Welt). Und dem, der gar kein Fleisch mag und dem dieses Prassen und Fressen nicht paßt, wird der Mund am Tisch mit Schinken und Speck gestopft, bis er kaum mehr atmen und nur noch spucken kann. Und wenn ihm auch übel wird davon, so soll er, so meint der Papi, dafür doch gefälligst dankbar sein! Du siehst nicht, wie gut du es hast, mein Kind! Hör auf mit dem Meckern! Andere Kinder auf der Welt müssen hungern, jawohl! Die wären alle froh, wenn sie hier mit am Tisch sitzen dürften.
Die Braunen zum Beispiel und die Schwarzen auch! Hörst Du, wie sie draußen an die Fensterläden klopfen? Wir sollen sie reinlassen, meinst du? Nein, nichts da, wo kämen wir da hin! Dann müssen wir am Ende noch den Braten teilen und die Wurst dazu. Gut, ein paar dieser fremden Fötzel können wir ja ausnahmsweise in die Küche lassen, damit sie den Mamis beim Abwaschen helfen. Aber damit hat sich's! Also, schweig jetzt, sei gefalligst dankbar und iß!
Ach ja, es wird einem ganz warm ums Herz: So heimselig, so altbekannt und urchig geht's zu am Familientisch im 700jährigen Papiland.