Nonne & Revoluzzerin
Alice, Telefon für dich! Wer ist dran? Schwester Lea. Schwester wer? Schwester Lea Ackermann in Kenia. Damals waren Ferngespräche noch teuer. Ich eile ans Telefon. Die Schwester springt quasi aus der Leitung. Worum es geht? Können Sie mir die Adresse der Roten Zora geben? Wie bitte? Ja, es eilt. Schwester, Sie wissen schon, dass die Rote Zora der feministische Flügel der als Terroristen gesuchten „2. Juni“ ist? Egal! Es muss etwas geschehen, es geht so nicht weiter.
Und nun erzählt Schwester Lea mir, dass es um Frauen in der Prostitution geht, um die sie sich kümmert. Und dass die meisten Freier aus Deutschland kommen, die Frauen für wenige Dollar benutzen und so manches Mal auch noch Kinder hinterlassen. Einem, einem Stammkunden, hat sie letztens 2.000 Dollar abgeknüpft für das Kind, das er beim letzten Mal hinterlassen hatte.
Ich hatte die Adresse von der Rota Zora auch nicht. Aber die Schwester des Ordens „Unserer lieben Frau von Afrika“ ließ sich nicht bremsen.
Mitte der 80er Jahre kehrte die unkonventionelle Nonne nach Deutschland zurück und gründete SOLWODI, Solidarity with Women in Distress. Heute hat SOLWODI 21 Beratungsstellen sowie Schutzwohnungen in Deutschland und Afrika für Zwangs- und Armutsprostituierte, die Hilfe zum Ausstieg brauchen. Lea wurde eine der vernehmlichsten Stimmen in Deutschland gegen das System Prostitution und für die Bestrafung von Freiern.
Nach einem Oberschenkelhalsbruch ist die 86-Jährige am 31. Oktober nicht mehr aus der Narkose aufgewacht. SOLWODI trauert um eine „starke Persönlichkeit und charismatische Gründerin“. Ich blieb mit Lea bis zuletzt befreundet. Über ihre Aktivitäten hat EMMA immer wieder berichtet. 1993 schrieben wir: „Wäre Sr. Lea Ackermann nicht bei „Unserer lieben Frau von Afrika“ gelandet, hätte sie auch Revolutionärin oder Staatschefin werden können“.
„Ihre Mischung von Gerechtigkeitssinn und Empörung und Handlungsfähigkeit ist explosiv“, schrieb EMMA 2015, anlässlich der Verleihung des „Augsburger Friedenspreises“. Nachfolgend ein rasantes Porträt über die revolutionäre Nonne. ALICE SCHWARZER
EINE NONNE IN RAGE...
Der Gerichtsreporter des Trierischen Volksfreundes ist irritiert. "Es bot sich ein seltenes Bild. Der große Saal des Landgerichtes war mehrheitlich mit weiblichem Publikum überfüllt", notiert er am 10.11.1992 auf seinem Block, "für die zu spät Gekommenen gab es nur noch Stehplätze." Auf der Anklagebank sitzt Klaus R., 42, Landwirt aus Deutesfeld-Desserath in der Eifel. Anklage: "Fortgesetzte Freiheitsberaubung, Vergewaltigung, gefährliche Körperverletzung und Nötigung." Frauen interessiert es nun mal besonders, was mit einem passiert, der sich erst eine Filipina per Katalog bestellt, sie dann einsperrt, vergewaltigt und sie mit glühender Zigarette foltert.
Es ist allerdings nicht das nächste Frauenzentrum, das sich so besonders für den Prozess gegen Klaus R. interessiert. Auf der harten Zuhörerbank sitzen keine jungen Frauen mit kurzen Haaren, sondern ältere Damen mit weißen Häubchen auf den meist schon ergrauten Haaren. Fast alle sind vom Orden "Unserer Lieben Frau von Afrika". Wie kommen sie, die im Leben nie mit dem irdischen Richter in Konflikt gerieten, in den Sitzungssaal des Trierer Landgerichts? Durch Schwester Lea. Die hat's an die große Glocke gehängt, wie es ihre Art ist.
Wir haben hier eine Filipina. Ihr Mann hat sie für 5000 Mark gekauft.
Februar 1992. Lea Ackermann bekommt einen Anruf aus einer Arztpraxis in Trier: "Wir haben hier eine Filipina, der geht es sehr schlecht. Ihr Mann hat sie für 5.000 Mark gekauft, und jetzt soll Lina zeigen, dass sie das Geld wert ist." Lea Ackermann bekommt öfter solche Anrufe. Die Ordensschwester hat 1987 "Solwodi" gegründet. "Solidarity with Women in Distress" (Solidarität mit Frauen in Not) kämpft gegen Frauenhandel und Sextourismus.
Auch diesmal reagieren die Solwodi-Frauen schnell. Der Arzt bestellt Lina noch einmal zu sich, und während ihr Ehemann im anderen Behandlungszimmer ist, wird Lina "entführt". Die 27-Jährige kann kaum aufrecht gehen. Am Abend zuvor hat ihr Mann ihr die Beine mit einer brennenden Zigarette auseinandergezwungen, 15 Brandwunden und ein Schock blieben zurück. "Den Hof verlässt du nicht lebend", hat er gedroht, auf dem Nachttisch lagen Messer und Strick.
Eine Ärztin untersucht die völlig verängstigte Filipina, die kaum ein Wort deutsch spricht und nichts bei sich hat als eine Handtasche und ihren Pass, den sie sich auf den Bauch gebunden hat. Vor einem Richter gibt sie alles zu Protokoll, die Wunden werden fotografiert - alles muss schnell gehen, denn Lina ist in Todesangst. Bloß keinen Tag länger in Deutschland!
Sechs Tage nach ihrer Flucht steigt sie ins Flugzeug nach Manila. Den neun Monate später anberaumten Prozess mutet sie sich nicht mehr zu. Im Prozess stellt sich dann plötzlich alles ganz anders dar. "Vergewaltigung" gibt es in der Ehe ohnehin nicht, "Freiheitsberaubung" können die deutschen Richter auch nicht erkennen - "sie hätte ja durchs Fenster fliehen können." Und die Wunden, spekuliert eine Gutachterin anhand der Fotos, könnten auch eine "harmlose Hauterkrankung" oder gar "selbst beigebrachte Verletzungen" sein. Im Zweifel für den Angeklagten - Bauer R. wird freigesprochen.
Schwester Lea hat angerufen. Sie lässt ausrichten, sie platzt gleich...!
Am nächsten Tag liegt eine Telefonnotiz auf meinem EMMA-Schreibtisch: "Schwester Lea Ackermann hat angerufen. Sie lässt ausrichten, sie platzt gleich!" Der Prozessausgang lässt die Schwester an der Welt verzweifeln. Noch am selben Tag faxt sie uns einen entrüsteten Text: "Begegnen wir hier der berühmten Männer-Solidarität, die wir Kirchenfrauen oft nicht wahrhaben wollen?"
"Wenn man erst einmal eine Frau besitzt, kann mann mit ihr umgehen wie beliebt" - dieser Satz steht kurz darauf nicht etwa in EMMA, sondern im "Solwodi"-Rundbrief, der alle paar Wochen an 4000 Adressen verschickt wird.
4.000 Briefe falten, eintüten, adressieren - damit wäre das Acht-Frauen-Team um Lea Ackermann restlos überfordert. Das erledigen die von Schwester Lea mobilisierten Hausfrauen im 453-Seelen-Dorf Hirzenach bei Boppard am Rhein. Hier, im alten Pfarrhaus, ist die Kommandozentrale des Kampfes gegen Sextourismus und Frauenhandel.
Als ich Lea Ackermann ein paar Monate später in Hirzenach besuche, hat sie ihre Wut über den Freispruch von Bauer R. noch nicht verdaut. "Der holt sich jetzt die nächste!" Lina war schon die dritte Frau von Bauer R., den ersten zwei gelang die Flucht. Und will Bauer R. seine Drittwelt-Frau wieder los werden, genügt ein Anruf beim Ausländeramt: "Diese Frau hat mich nach dem Urlaub hierher begleitet, jetzt will sie unbedingt hier bleiben." Innerhalb weniger Tage wird die Frau dann ausgewiesen - schließlich ist sie ein "Wirtschaftsflüchtling". Noch nicht einmal fürs Rückflugticket muss ein deutscher Mann bezahlen.
"Ich wollte etwas wirklich Großartiges aus meinem Leben machen!"
Wie wird eine deutsche Ordensfrau zur Fighterin gegen Frauenhandel? Das ist eine lange Geschichte, und eigentlich hat Lea gar keine Zeit, sie zu erzählen. Das Telefon klingelt ununterbrochen, im Fax rappelt der Brief nach Thailand, eine Mitarbeiterin braucht Unterschriften von ihr, und auf Leas Schoß quengelt Parang, drei Jahre alt, deren afrikanische Mama eine Schneiderlehre in Fulda macht. Ich zähle die Schiffe auf dem Rhein. Bis Lea Zeit hat.
Schon mit zwölf Jahren verkündet Lea, Tochter eines Saarbrücker Bauunternehmers, entschlossen: "Ich gehe ins Kloster." Die Eltern lächeln milde - ins Kloster, schon gut, das geht vorbei. Während die anderen Mädchen für Elvis schwärmen und Petticoats à la Brigitte Bardot schwingen, verliert Lea ihr Ziel nicht aus den Augen. Warum? "Ich wollte etwas Großartiges aus meinem Leben machen", antwortet sie fast feierlich.
Doch was gibt es im Deutschland der 50er schon "Großartiges" für Frauen? Da ist die Banklehre, die die 19-Jährige nach dem Abi macht, schon "groß", zumal Lea nach Paris versetzt wird. Aber: "Es befiel mich die Panik, ich könnte mein Leben verplempern."
1960 fällt der Entschluss. Lea erinnert sich genau. "Wir waren auf Betriebsausflug in Trier, und ich tanzte die ganze Nacht durch. Am nächsten Morgen um zehn hatte ich mein Vorstellungsgespräch bei den Afrika-Schwestern." Warum die? Wegen des Abenteuers! Bloß keine abgeschiedene Zelle, sondern rein ins Leben und in die Welt. Am liebsten nach Afrika.
Wir blättern in Fotoalben aus ihrer Novizinnen-Zeit bei den Schwestern "Unserer Lieben Frau von Afrika", vor 140 Jahren zur Missionierung in Afrika gegründet. Dem Orden gehören in Deutschland nur 180 Schwestern an, weltweit sind es immerhin rund 1.500. Ihr direkter Chef ist der Papst ...
Aus einem Workshop wird die erste große Studie über Frauenhandel
Erst zwei Jahre nach ihrem Eintritt in den Orden darf Lea das erste Mal ihre Eltern besuchen. Das Familienfoto zeigt eine fröhliche Runde mit Lea und einer zweiten, düster dreinblickenden Schwester in Tracht und dicker Brille - der klerikale Anstandswauwau. Die Tracht wird von Fotoalbum zu Fotoalbum lockerer, das Gewand kürzer, die Kopfbedeckung flotter: statt Gesichtsschleier nur noch Häubchen.
Lea als Lehramtsstudentin, Lea als Lehrerin in Rwanda, Lea beim Bergsteigen auf dem Nyiragongo - da legt sie die klösterliche Uniform auf die Seite und geht in Zivil. Nicht nur, weil es sich mit langem Kleid schlecht kraxeln lässt." Als der Papst anfing, immer auf den Trachten rumzureiten, kam ich ins Nachdenken. Ich stelle doch schon mein ganzes Leben in die Sache der Kirche - warum sollen mir die Männer dann auch noch vorschreiben, was ich anziehe?"
Schon bei diesem ersten "Einsatz" als Rektorin im ostafrikanischen Rwanda schärft Lea ihren Schülerinnen ein: "Ihr seid Partnerinnen, nicht Untertaninnen eurer Männer." Sehr zum Missfallen eines afrikanischen Lehrers, der absichtlich die Schulstunde nach ihr übernimmt - "um Ihre Ideen wieder geradezurücken, Schwester Lea!"
Partnerinnen? Die katholische Kirche behandelt Frauen doch auch nicht als "Partnerinnen", oder? Das trifft Leas Nerv. "Bei meinem 25-jährigen Jubiläum", wettert sie, "da saßen wir Schwestern in der ersten Reihe, und im Chorraum haben acht Priester die Messe zelebriert. Die da oben und wir da unten - und die bekommen vor Gott noch nicht mal einen roten Kopf!"
Zurück in Deutschland, bekommt die inzwischen promovierte Pädagogin einen Lehrauftrag an der Uni Eichstätt. Aus einem Workshop zum Thema "Sextourismus" entsteht eine Petition an den Bundestag, später eine "Kleine Anfrage". 1988 gibt Rita Süssmuth bei Lea Ackermann die erste große Studie zum "Umfeld und Ausmaß des Menschenhandels mit ausländischen Mädchen und Frauen" in Auftrag, die im Frühjahr 1993 veröffentlicht wurde.
In einem alten Lagerhaus machen 50 Ex-Prostitutierte eine Ausbildung
"Ich war in Deutschland gerade so gut am Rühren", erinnert sich Lea, "da bekam ich 1985 die Berufung nach Kenia." Nach Mombasa, ausgerechnet, der Drehscheibe des Sextourismus. In Fernsehaufnahmen aus dieser Zeit sieht man Schwester Lea, die Streetworkerin, im leichten Sommerkleid durch die Bars der afrikanischen Hafenstadt ziehen. Unternehmungslustige deutsche Männer, Typ Geschäftsreisender oder Typ Rucksack-Tourist, lehnen am Tresen. Schwarze Frauen nippen scheinbar gelangweilt an ihren Drinks - offiziell ist Prostitution verboten, oft genug müssen sich die Frauen ein zweites Mal an die Polizei verkaufen.
Als die Oberin in Mombasa Schwester Lea zu verstehen gibt, sie könne sich ihre Aufgabe selbst aussuchen, renoviert die Bauunternehmers-Tochter auf dem Kirchengelände ein altes Lagerhaus, dort können 50 Ex-Prostituierte eine Ausbildung machen. Sie fertigen Perlen aus Lehm und Erde, nähen und verkaufen Kleider, eröffnen die erste Vollkornbäckerei Mombasas, produzieren Fruchteis. "Keine Frau", so Leas Ziel, "soll sich mehr verkaufen müssen."
Wir blättern weiter im Fotoalbum "Kenia". Haselnussbraune Babys lachen quietschvergnügt in die Kamera, darunter steht in Leas ordentlicher Handschrift: "Vater Schweizer Tourist" oder "Vater Deutscher". So mancher europäische Mann ist Stammkunde, besucht jedes Jahr dieselbe Frau. "Einmal", erzählt Lea, "kam ein deutscher Kunde zum zwölften Mal, er hatte in Mombasa schon eine siebenjährige Tochter. Da kam ich einfach rein, als er gerade bei der Frau war und hab ihm 2.000 Mark abgeknöpft - als Alimente für das Kind." Ob die deutschen Ehefrauen und Freundinnen von diesem Nachwuchs ihrer Männer wissen?
Seit ihrer Rückkehr nach Deutschland 1987 beobachtet Schwester Lea Prozesse, trommelt in den Medien, redet auf Podien und Talkshows. Im alten Pfarrhaus in Hirzenach, das ihr der Hausherr, der aufmüpfige Pater Köster (Autor von "Kirche im Koma") weitgehend überlassen hat, laufen seither die Fäden zusammen. Solwodi ist professionell organisiert. In 30 Aktenordnern sind die Schicksale von Prostituierten und per Katalog bestellten Frauen abgelegt, von A bis Z.
Auf der ganzen Welt gibt es Solwodi-Frauen, ein gigantisches Netzwerk
Was Solwodi für diese Frauen tun kann: mit den Ausländerbehörden eine "Duldung" aushandeln für die Dauer der Ausbildung. Der Frau eine Wohnung, dem Kind einen Kindergartenplatz besorgen. Und dann eine Lehrstelle suchen: als Schneiderin, Bäckerin, Sekretärin. Englischkurs und EDV-Kurs erleichtern die Jobsuche im Heimatland. Während die Frau noch lernt, wird von den Solwodi-Frauen schon eine Wohnung in ihrer Heimat gesucht. Sisterhood is global: Auf der ganzen Welt gibt es Ordensschwestern, ein gigantisches Netzwerk.
Inzwischen haben wir auch das letzte Fotoalbum durchgeblättert, draußen ist es schon dunkel, ab und zu blinkt das Licht eines Frachtkahns vom Rhein herauf. Das Fax an die Guthirtinnen in Thailand ist immer noch nicht durch, unbeantwortete Briefe stapeln sich neben Schwester Leas Computer. Sie fährt mich in ihrem weißen Ibiza (mit Kindersitz!) zum Bopparder Bahnhof.
Während die deutschen Nonnen um ihren Nachwuchs bangen müssen, scheint Schwester Lea die Aufgabe für die Nonne des 21. Jahrhunderts gefunden zu haben. Aber ob das wirklich im Sinne ihrer obersten Dienstherrn in Rom ist?
URSULA OTT