Alice Schwarzer schreibt

"Es gibt nur eine Sorte von Opfern"

© Bettina Flitner
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Ich kenne Khalida seit 1992, damals hatte ich sie nach Frankfurt in eine Talkshow eingeladen, damit sie den Deutschen erzählt, was wirklich los ist in Algerien. Mit kühlem Verstand und heißem Herzen berichtete sie von ihrem Volk, das im Bürgerkrieg dem Terror der Islamisten ausgeliefert war (und noch ist): Zehntausende Kinder, Frauen und Männer wurden seither von den selbst ernannten "Gotteskriegern" hingeschlachtet. Die Mörder sind meist so genannte "Afghanen", Fremde oder Algerier, die als Freischärler im Krieg gegen die Russen in Afghanistan das Töten gelernt haben. Ausgebildet werden sie vom Iran, finanziert von Saudi-Arabien.

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Khalida Messaoudi selbst war Opfer einer "Fatwa", eines offiziellen Todesurteils, das die Menschenrechtlerin zum Freiwild erklärte. Acht Jahre lang war sie gezwungen, im Untergrund zu leben und Nacht für Nacht in einem anderen Bett zu schlafen. Doch noch nicht einmal davon ließ sie sich einschüchtern. Die junge Frau wurde zum Symbol des Widerstandes. Im März 2002 kam die Algerierin wieder nach Deutschland, diesmal eingeladen von der Akademie Tutzing. In ihrem Vortrag berichtete sie von dem Grauen, das die Islamisten in den letzten zehn Jahren in Algerien angerichtet haben. Und sie wunderte sich darüber, dass im Westen zwar der Schock über die 3.000 Opfer vom 11. September groß ist - sich aber jahrelang kein Mensch für die Hunderttausende von Toten in Algerien interessiert hat. Dabei sind sie Opfer derselben Täter, der "Gotteskrieger". "Warum haben bei uns alle weggesehen?", fragt Messaoudi. "Gibt es zwei Klassen von Opfern?"

Im darauf folgenden Gespräch unter vier Augen erwähnt Khalida Messaoudi eine alarmierende Zahl: Allein in Deutschland leben zur Zeit 20.000 deklarierte algerische Islamisten als politische Asylanten (weil sie in ihrer Heimat verfolgt werden). Darunter sind Mitglieder der verbotenen FIS (Islamische Heilsfront) ebenso wie Männer aus dem bewaffneten Kampf, die oft Hunderte von Morden auf dem Gewissen haben. Woher Messaoudi diese schockierende Zahl kennt? Von Bundestagspräsident Thierse, der jüngst mit einer parlamentarischen Delegation Algerien besucht hat. Jahrelang hatte der algerische Staat vergeblich um Auskunft über den Aufenthalt der gesuchten Verbrecher gebeten. Deutschland verweigerte sie. Erst jetzt, nach dem 11. September, wird der deutsche Staat gesprächig: Jetzt würde er die unheimlichen Gäste am liebsten en bloc nach Algerien zurückschicken. Was Algerien sich verbittet, denn die wankende Demokratie kann die Gottesstaatler nur in kleinen Portionen verkraften. Sie müssen integriert bzw. verurteilt werden, wenn sie nicht weiteres Unheil anrichten sollen.

Die jahrelang gehetzte Khalida Messaoudi sitzt heute als Abgeordnete im erstmals demokratischen Parlament. Ende gut, alles gut? Nein. Jetzt geht es erst richtig los für sie. Warum, das erzählte sie im Gespräch mit Alice Schwarzer. Nach dem Vortrag über die Schrecken, die ihre deklarierten Feinde, die Islamisten, ihrem traumatisierten Volk angetan haben, spricht sie unter vier Augen über den Schrecken, den ihre angeblichen Freunde, die Demokraten, heute ihrem traumatisierten Geschlecht antun. Die Menschenrechtlerin bitter: "Beide, Gottesstaatler wie Demokraten, haben uns Frauen im Visier."

Alice Schwarzer: Du wurdest im vergangenen Jahr aus der RCD, der " Vereinigung für Kultur und Demokratie", ausgeschlossen. Du bist heute als parteilose Abgeordnete im algerischen Parlament. Warum?
Khalida Messaoudi: Der vordergründige Anlass war der Jugendprotest der Berber, mit dem ich mich solidarisiert hatte. Die jungen Leute sind auf die Straße gegangen, um die Anerkennung ihrer Kultur zu fordern - und dafür blutig niedergeschossen worden. Es gab mehr als hundert Tote. Makabrerweise war es meine Politikgeneration, die vor 20 Jahren diese Forderung initiiert hatte. Inzwischen wird die Berbersprache zwar auf Wunsch in den Schulen unterrichtet, aber sie ist noch immer nicht in der Verfassung als algerische Sprache anerkannt. Die Tatsache, dass diese jungen Leute gegen uns protestieren, hat mich gezwungen, mich selbst und meine Art, Politik zu machen, infrage zu stellen. Also habe ich den Journalisten, die mich interviewt haben, geantwortet: Ich glaube, wir müssen diese jungen Leute um Verzeihung bitten. Denn wir waren nicht da, als sie uns brauchten. - Die Folge war, dass meine Partei mir ein Disziplinarverfahren gemacht und mich ausgeschlossen hat.

Du hast gesagt, der Jugendprotest sei nur der vordergründige Anlass gewesen. Was war dann der wahre Anlass für deinen Parteiausschluss?
Die Tatsache, dass ich eine Frau bin. Ich denke, die politischen Parteien, die klassisch patriarchale Institutionen sind, ertragen Frauen nur, wenn sie sich unterwerfen und die Strategien der Männer nicht stören. Bedingung ist, dass Frauen nicht zum Symbol, keine Konkurrentinnen auf der Ebene der symbolischen Bedeutung werden...

Seit deiner Verurteilung durch eine Fatwa, dein Leben im Untergrund und deinen Widerstand, bist du zum hervorragenden Symbol des Kampfes für Menschenrechte in Nordafrika geworden.
So ist es. Leider. Eine Frau, die als Frau zum Symbol wird und dann auch noch politische Analysen und Strategien entwirft - eine solche Frau wird als Bedrohung empfunden und geköpft, so sie nicht bereit ist, sich zu beugen. Das ist leider keine algerische Spezialität, sondern eine internationale Regel.

Früher waren es deine Feinde, die dich verfolgt haben. Sind es heute deine Freunde?
Der Schmerz ist, dass mein politischer Feind nie ein Geheimnis aus seinen Absichten gemacht hat. Ich bin ganz offiziell zum Tode verurteilt worden: Man hat mir einen Brief geschickt etc. Aber ich habe von denen nichts anderes erwartet als Beleidigungen, Diffamationen, Bedrohungen. Entsprechend habe ich mich gewehrt und geschützt. Aber von meinen eigenen Kameraden habe ich nicht erwartet, dass sie zu denselben Methoden greifen wie meine Gegner.

Dabei ist es nicht das erste Mal, Khalida, dass die Algerierinnen von ihren eigenen Männern verraten werden. Erinnere dich, die Generation deiner Mutter und Großmutter hat im Kampf gegen den französischen Kolonialherren ihr Leben riskiert - mit dem Resultat, dass die Frauen nach Erringung der Unabhängigkeit unter Todesdrohung von der Straße verjagt und ihren Töchtern von den eigenen Vätern und Brüdern der Schulbesuch verboten wurde.
Ich habe die Geschichte meiner eigenen Vorfahrerinnen vergessen. Genau das war mein Irrtum! Ich habe einen monumentalen Fehler begangen.

Wie kann das innerhalb einer einzigen Generation passieren?
Es ist ja so einfach und so bequem, zu vergessen. Man lebt schon in der alltäglichen Feindschaft und sehnt sich so nach Freunden. Mein Fehler war, vergessen zu haben, dass die Behandlung der Frauen durch die politischen Parteien die entscheidende Frage ist. Ich war einfach blind. Obwohl ich es doch eigentlich hätte wissen müssen. Trotzdem war ich nicht wachsam genug. Dabei bewundere ich die Freiheitskämpferinnen aus dem algerischen Unabhängigkeitskrieg, eine von ihnen ist eine enge, über alles geschätzte Freundin.

Ist das nicht auch eine Frage des Stolzes: Dass man nicht immer "nur" Frau sein will, sondern einfach auch mal Mensch?
Nein, ich habe immer dazu gestanden, dass ich eine Frau bin. In erster Linie eine Frau. Und so lange ich nicht zum Symbol geworden war, hat das meine Kameraden auch nicht gestört. Aber all das gilt nicht nur für mich, sondern für alle Frauen, die aus der zweiten Reihe hervortreten.

Hast du auch Probleme mit den Frauen?
Nein... nein... nein... Nicht mit der Mehrheit der Frauen. Nur mit einer gewissen Minderheit. Mit den Frauen, die Politik machen wie Männer und nicht wie Frauen. Das ist natürlich unangenehm. Aber am schlimmsten sind die Männer in der Politik. Und die Männer in den Medien.

Wieso?
Wenn der FIS früher nicht fähig war, meine Argumente sachlich zu widerlegen, dann sagte er einfach: Khalida Messaoudi ist die Geliebte der Generäle! Das hat mich nicht weiter überrascht, denn das sind die Methoden, die man auf Frauen in der Politik anwendet. Und natürlich bleibt so was nicht ohne Wirkung. Man greift bei den Gegnern nicht die Sache an, sondern die Frau, ihr Privatleben, ihre Sexualität. Da sind die Methoden der Männer an der Macht, wenn sie sich von einer Frau bedroht fühlen.

Und heute? Was sagt man heute über dich?
Heute bin ich wieder die Geliebte. Diesmal die Geliebte des neuen Präsidenten. Ich stelle fest, dass Fundamentalisten und Demokraten in Bezug auf die Frauen dieselben Methoden haben. Es ist derselbe Kampf. Man spricht mir einfach das Recht ab, ein politisches Wesen zu sein. Ich bin dazu verurteilt, ein sexuelles Wesen zu sein. Wenn die Islamisten Frauen als "Kriegshuren" vergewaltigen, was tun sie dann? Sie reduzieren sie auf ihr Geschlecht. Wenn die Demokraten, meine eigenen politischen Kameraden und ein Teil der Journalisten mich als "Flittchen" diffamieren, was tun sie dann? Sie reduzieren mich auf mein Geschlecht. Das war für mich ein sehr schmerzliches Erwachen.

Was war daran das Schmerzlichste?
Ich hatte geglaubt, die Tatsache, dass wir zusammen gegen dasselbe Ungeheuer gekämpft hatten, hätte zwischen uns Bande der Brüderlichkeit geknüpft, die über allem stehen. Aber in Wahrheit sind sie immer noch im Krieg gegen die Frauen - wenn es um die Macht geht.

Und jetzt?
Ich bin aufgewacht. Doch ich will weder im Zynismus noch im Hass verharren. Aus reinem Egoismus nicht. Ich liebe das Leben zu sehr.

Und was wirst du tun?
Ich kämpfe weiter. Für die Reform des Erziehungswesens. Ich bin ja Lehrerin. Die Erziehungsreform ist das Allerwichtigste jetzt. Da fängt es an. Da haben auch die Integristen die Menschen gefangen. Hier müssen wir ansetzen, bei den Kindern in der Schule. Und für ein Familienrecht, das Frauen nicht länger entrechtet. Ich bin ja auch Vorsitzende einer Frauenvereinigung.

Verstehe ich richtig dass du heute als Abgeordnete im algerischen Parlament einsamer bist als noch vor einigen Jahren im Untergrund?
Ja, so könnte man das sagen. Aber es gibt gleichzeitig viele Frauen und auch Männer, die an meine Sache glauben. Bei meiner Arbeit für die Erziehungsreform und meinen Kampf gegen das entmündigende Familienrecht habe ich wirklich fantastische Menschen kennen gelernt.

Um was geht es im Kern bei der Erziehungsreform?
Um eine totale und globale Reform, vom Kindergarten bis zur Universität! Das Resultat soll ein Mensch sein, der Algerier ist, aber aufgeschlossen für die ganze Welt, ein Demokrat, dem die Menschenrechte unverzichtbar sind. Es geht um die Strukturen, die Inhalte und die Methoden. Wir müssen uns für andere Sprachen und den technischen Fortschritt öffnen. Unsere Reformvorschläge werden gerade von der Regierung diskutiert - und sollen ab Herbst 2002 umgesetzt werden. Das ist eine fundamentale Umwälzung, und ich bin mit ganzem Herzen darin engagiert. War es nicht Victor Hugo, der gesagt hat: Unser Ziel muss das Glück sein? Genau so ist es. Und das lasse ich mir auch von niemandem nehmen. Nicht von meinen Gegnern - und nicht von meinen Weggefährten.

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