Frauenbewegung: Die Pionierinnen

Frauendemo gegen Abtreibung 1975 - Foto: Abisag Tüllmann
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München, 22. Juni 1971. Um sechs Uhr früh hört Ute Geißler ein lautstarkes Klopfen an ihrer Wohnungstür. Die 23-jährige Buchhändlerin stapft verschlafen im Morgenmantel zur Tür und öffnet. Dann geht alles ganz schnell. Zehn Polizisten stürmen in die Wohnung, in der Geißler zur Untermiete bei einem Regisseur und dessen Freundin lebt. Sie durchsuchen alle Räume, durchwühlen Schubladen, schauen unter Matratzen und in Regenrinnen. Das erste, was Ute unauffällig in ihrer Hosentasche verschwinden lässt, ist das Marihuana, das sie in einer Schublade gehortet hat. „Man hatte ja damals einfach immer Marihuana im Haus“, feixt die heute 77-Jährige.

Doch sie weiß natürlich, dass die Polizisten etwas ganz anderes suchen: Unterschriften von weiteren Frauen, die den Appell im Stern unterzeichnet haben: „Ich habe abgetrieben und fordere das Recht dazu für jede Frau!“

Es ist Tag 16 nach dem 6. Juni 1971, an dem der Stern mit dem legendären Titelbild erschien: „Wir haben abgetrieben“. 374 Frauen haben den Appell für die Streichung des § 218 unterschrieben. Und Ute Geißler ist eine von ihnen. Doch mit dem Erscheinen des Stern ist die spektakuläre Aktion gegen den entmündigenden Abtreibungsparagrafen nicht vorbei, im Gegenteil: Jetzt geht es erst richtig los!

Ute Geißler und Mitstreiterinnen sammeln weiter Unterschriften in der Fußgängerzone. Und jetzt steht Ute im Morgenmantel in ihrem Schlafzimmer und muss zusehen, wie die Polizisten Unterlagen sammeln und in eine Aktentasche stopfen. Darunter zwei gelbe Umschläge. „Ich wusste: In dem einen waren die Namen und Adressen von Frauen, die wir demnächst veröffentlichen wollten. Aber in dem anderen waren Unterschriften von Ärzten, die gesagt haben: ‚Wir haben Abtreibungen durchgeführt!‘“ Darauf standen damals für Ärzte bis zu zehn Jahre Gefängnis.

Ute Geißler, selbst Arzt-Tochter, handelt. Als die Polizisten kurz aus dem Raum gehen, „hab ich das Kuvert gegrapscht und es unter mein Kopfkissen geschmissen“. Angst? Nö. „Es passierte alles so schnell. Wir fanden toll, was wir da machten. Die Stimmung war einfach so!“

Köln, Mai 1971. Gisela Schneider ist „perplex“, als Günter Wallraff, dem sie ab und zu bei der Post zu Hand geht, ihr einen Brief in die Hand drückt und sagt: „Hier, das ist was für dich!“ Das Schreiben kommt aus Paris und stammt von einer gewissen Alice Schwarzer. Es ist die Ankündigung der Selbstbezichtigungs-Aktion im Stern und die Anfrage, ob Ex-Kollege Wallraff (beide haten früher bei Pardon gearbeitet) nicht Frauen kenne, die mitmachen würden. Am nächsten Samstag steht Gisela mit einem Tapeziertisch in der Kölner Fußgängerzone vor der Antoniterkirche und sammelt Unterschriften. Mit dabei ihre Kollegin Barbara, die studentische Hilfskraft beim WDR ist, wo auch Gisela als Sekretärin arbeitet. „Wir hatten die von Alice aufgesetzte Selbstbezichtigung vervielfältigt und uns ein Schild gemalt. Und dann sind wir überrannt worden. Es war ein Ansturm von allen Seiten“, erinnert sich die heute 77-jährige Lehrerin. „Die Leute haben wild diskutiert. Es gab viel Zustimmung, aber auch heftige Attacken. Viele Frauen fragten auch, ob wir nicht ein Treffen organisieren könnten. Das haben wir gemacht – und so die Aktion § 218 gestartet.“

Warum sie nicht eine Sekunde gezögert hat, bei der Aktion mitzumachen? Gisela Schneider stammt aus einem Dorf im Westerwald. Sie hat erlebt, wie ihre Schwester mit 18 ungewollt schwanger wurde. „Ein uneheliches Kind war ein unheimliches Stigma, wirklich eine soziale Katastrophe“, erzählt sie. „Aber wir haben einfach nicht gewusst, an wen wir uns hätten wenden können. Und ich habe gedacht: Es kann nicht sein, dass Frauen so im Stich gelassen werden!“

Ein paar Monate später wird Gisela mit einem Transparent einen Ärztekongress im Kölner Gürzenich aufmischen und eine Belagerung des Bonner Justizministeriums organisieren. „Also, das war einfach ein tolles Gefühl“, sagt sie. „Mit den Frauen gemeinsam was zu machen und mit diesen Massen auf der Straße.“

Frankfurt, 14. April 1973. Der Hartmannbund, die konservative Standesvertretung der Ärzte, die sich mehrfach scharf gegen die Fristenlösung ausgesprochen hatte, tagt an diesem Abend im rund 25 Kilometer entfernten Oberursel. Herren in Anzügen in gedeckten Farben treffen sich zum gepflegten Austausch über medizinische Fragen. Da stürmen rund 70 Frauen in den Saal. Eine dieser Frauen ist Silvia Kontos, damals Studentin der Soziologie an der Frankfurter Uni. Die heute 76-jährige Professorin für Soziologie und Frauenforschung erinnert sich noch gut an den Aufruhr: „Ich habe noch nie in einem solchen Tempo seriöse Herren ausfallend werden sehen“, erzählt sie. „Wir sind da reinmarschiert bis zum Mikro und haben unsere Parolen gerufen. Und gesungen haben wir auch: Kinderlieder. Und nachdem wir die Bühne und das Mikro erobert hatten, kamen die Anzugträger aber angestürmt. Die waren in Nullkommanichts von null auf hundert und fingen an, handgreiflich zu werden und richtig zu prügeln. Sie waren einfach fassungslos, was wir Frauen uns da gegenüber der Ärzteschaft herausnahmen.“

Und nicht nur Ärzte (Ärztinnen waren damals noch eine Ausnahmeerscheinung) wurden aufgrund ihrer Schlüsselrolle bei der Abtreibung zur Zielscheibe der Feministinnen-Attacken, sondern auch Pfarrer. Denen legten Silvia und Mitstreiterinnen vollgekackte Windeln auf den Altar. „Wir waren einfach unerschrocken“, sagt Silvia Kontos. „Und wir machten die Erfahrung, dass wir mit dieser Unerschrockenheit sehr viel ausrichten konnten.“

Heidelberg, 17. Januar 1974. Molli Hiesinger findet, dass die winzigen Zimmer ihres Studentenwohnheims kein angemessener Ort mehr sind für die vielen Frauen, die in ihre Gruppe strömen, die jetzt ganz offiziell „Frauenbewegung“ heißt. Als die Germanistik-Studentin 1972 die Frauengruppe gegründet hatte, „waren wir sechs Frauen. Und dann ging es so blitzschnell, aus allen Ecken kamen Frauen. Frauen, die keineswegs nur Studentinnen, sondern auch Berufstätige oder Hausfrauen sind.

Es braucht also einen anderen, einen größeren und öffentlichen Ort: ein Frauenzentrum. Molli und Freundinnen schreiten zur Tat. Sie besetzen eine leerstehende alte Villa in der Heidelberger Innenstadt.

Schon bald ist die Besetzung der „Plöck 48“ Stadtgespräch. Medien berichten, Polizei marschiert auf. Die Kommilitonen aber sind sauer, weil sie finden, „in so einem tollen Haus könne man ja wohl mehr machen als Frauenthemen besprechen“, erinnert sich die heute 70-jährige Lehrerin. „Aber wir wollten natürlich ein Frauenzentrum haben!“

Nur sechs Tage später wird die Villa von der Polizei geräumt, die Frauen müssen raus, gegen fünf von ihnen wird Anklage erhoben. Molli ist nicht unter ihnen, aber sie ist natürlich dabei, als die Frauen die Verhandlung nutzen, um der Öffentlichkeit in flammenden Reden zu erklären, warum Frauen im Patriarchat einen Raum für sich brauchen.

„Bisher sahen wir Probleme mit unserem Freund oder Ehemann als privat an. Jetzt haben wir gemerkt, dass es allen Frauen ähnlich geht, und dass wir uns gegenseitig helfen können,“ erklärt die Angeklagte Monika dem verblüfften Richter. „Deshalb brauchen wir öffentliche Räume, die jeder Frau zugänglich sind: Ein Kommunikationszentrum, wo wir über unsere Probleme sprechen und sie in einen gesellschaftlichen Zusammenhang stellen können. Wo wir Kinderbetreuung und Einkauf kollektiv organisieren können, um Zeit und Energie freizusetzen. Wo wir uns anhand von Zeitschriften, Büchern und Filmen, die sich mit unserer Situation auseinandersetzen, informieren können. Wo wir Aktionen gegen Frauenunterdrückung organisieren können.“

Molli Hiesinger und Gefährtinnen mieten nun ganz legal und mit ihrem Geld eine alte Schreinerei und gründen dort das Heidelberger Frauenzentrum. Es ist, nach Berlin und Frankfurt, das dritte Frauenzentrum im Land.

Die Heidelbergerinnen diskutieren jetzt in „Theoriegruppen“, zum Beispiel über die feministischen Bücher, die aus den USA ihren Weg nach Deutschland finden: Betty Friedans „Weiblichkeitswahn“ oder Kate Millets „Sexus und Herrschaft“, Jane Sherfeys „Potenz der Frau“. Abends ziehen sie um die Häuser und machen Straßentheater. Sie bieten im Frauenzentrum Abtreibungs-Beratungen an und organisieren Busfahrten nach Holland (wo Schwangerschaftsabbrüche erlaubt sind). Der Trick: In jedem Bus sitzen auch Frauen, die gar nicht abtreiben wollen. So sind der Polizei die Hände gebunden.

„Wir haben uns unheimlich stark gefühlt“, erinnert sich Molli. „Wir haben gespürt, was Empowerment eigentlich heißt: Mach es einfach! Auch, wenn du dann rausgeschmissen wirst. Aber du hast es gemacht.“

Nicht nur in München, Köln, Frankfurt und Heidelberg herrscht Aufbruchstimmung. Im ganzen Land gehen Zehntausende Frauen auf die Straße, zunächst gegen den § 218. Dann erobern sie sich die Nacht zurück und gründen Selbstverteidigungskurse und Frauenhäuser. Sie stürmen Misswahlen und Pornoläden. Sie sind, im besten Sinne, respektlos gegenüber den (meist männlichen) Autoritäten und, ja, nicht selten auch gegenüber Gesetzen. Frauen wie Ute Geißler, Gisela Schneider, Silvia Kontos oder Molli Hiesinger blasen zur Attacke auf das Patriarchat – auf Vater Staat wie auf die eigenen Freunde und Väter. Anarchisch, wild und unerschrocken. Die Frauenbewegung ist in vollem Gange.

Im Frühjahr 1971 hatte die Juristin und Fernseh-Autorin Sina Walden ausgerechnet in Brigitte die Duldsamkeit der Frauen in Deutschland beklagt und geschrieben: „Deutsche Frauen verbrennen keine Büstenhalter oder Brautkleider, stürmen keine Schönheitskonkurrenzen und emanzipationsfeindlichen Redaktionen, fordern nicht die Abschaffung der Ehe und verfassen keine Manifeste zur Vernichtung der Männer. Es gibt keine ‚Hexen‘, keine ‚Schwestern der Lilith‘ wie in Amerika, nicht einmal ‚Dolle Minas‘ mit Witz wie in Holland. Es gibt keine wüsten Pamphlete, keine kämpferische Zeitschrift, kein bedeutendes aufrührerisches Buch. Es gibt keine Wut.“

Letzteres war falsch. Es gab sie, die Wut. Aber sie hatte sich noch nicht artikuliert, hatte noch keine Worte gefunden, ganz zu schweigen vom Handeln. Sie war noch nicht auf die Straße geschwappt.

Frankfurt, 13. September 1968. Auch Sigrid Rüger war wütend, als sie auf der 23. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) die berüchtigte Tomate warf. Genauer gesagt war es ein ganzes Kilo Tomaten, noch genauer „weiche Suppentomaten für 70 Pfennig das Kilo“, erinnert sich Helke Sander, die der Auslöser für den legendären Tomatenwurf war.

Die damals 31-jährige Berliner Film-Studentin hatte auf der Konferenz ihre historische Rede gehalten, in der sie den eigenen Genossen vorhielt, Frauen zum „Nebenwiderspruch“ zu degradieren. Die Mutter eines Sohnes prangerte die Selbstverständlichkeit an, mit der auch in linken und studentischen Kreisen die Frauen für Haus und Kinder zuständig waren. Frauen sollten daher „den Klassenkampf auch in die Ehe und in die Verhältnisse tragen. Dabei übernimmt der Mann die objektive Rolle des Ausbeuters oder Klassenfeindes“, erklärte Sander. Fazit: „Wir können die gesellschaftliche Unterdrückung der Frau nicht individuell lösen. Und wir können damit nicht auf Zeiten nach der Revolution warten.“ Sollten die Genossen die so notwendige Diskussion über die Geschlechterfrage nicht führen, sei „der SDS nichts anderes als ein aufgeblasener konterrevolutionärer Hefeteig“.

Berlin, Dezember 1967. Keine Frage, auch Helke Sander ist wütend. Und zwar nicht nur über den Vietnamkrieg, sondern auch über die Tatsache, dass Studentinnen wie sie gar nicht erst zu den Versammlungen gegen den Vietnamkrieg gehen können – sie müssen auf die Kinder aufpassen, während die Kindsväter über Ho Chi Minh und die Weltrevolution debattieren. Im Dezember 1967 verteilt Sander, gemeinsam mit Marianne Herzog (die später zur RAF geht), an der FU Berlin ein Flugblatt, in dem sie dazu auffordert, „die unerträgliche Situation, keine Kindergärten zu finden, selber zu lösen“. Im Januar 1968 findet das erste Treffen statt, es kommen etwa hundert Frauen und einige Männer. Aus diesem ersten Treffen entsteht der „Aktionsrat zur Befreiung der Frau“.

Kurz darauf gibt es in Berlin die ersten fünf „Kinderläden“ in leerstehenden Tante-Emma-Läden. Und bei den Akteurinnen, erinnert sich die heute 84-jährige Sander, entsteht ein neues Bewusstsein: „Es fiel uns gewissermaßen wie Schuppen von den Augen, dass es so etwas in unserem bisherigen Leben nicht gegeben hatte: Dass Frauen gemeinsam beschließen, einen Missstand zu beheben, ohne vorher einen Mann um Rat gefragt zu haben.“

Doch bald übernehmen die ungern ignorierten Männer. „Sie besetzten alle Posten, definierten die Ziele neu, in denen die Frauen nicht mehr vorkamen (‚Wir sind schon bei der Emanzipation des Menschen.‘).“

Im September 1968 hält Sander ihre Wutrede. Reaktion der Genossen? Mittagspause. Danach: Übergang zur Tagesordnung. Nach der Pause bombardiert Sigrid Rüger die Genossen auf dem frauenfreien Podium mit den Tomaten.

Die Tomate wird zum Startschuss für – die Frauenbewegung? Nein, aber für linke Studentinnen und ihre „Weiberräte“, die sie nun zunächst an der Uni Frankfurt und dann an weiteren Universitäten gründen. Doch auch in den Weiberräten lesen die Genossinnen weiterhin Marx statt Beauvoir. Auch der Berliner „Aktionsrat zur Befreiung der Frau“ fällt, so Helke Sander, 1969 einer „feindlichen Übernahme“ zum Opfer. Er wird zum „Sozialistischen Frauenbund Westberlin“ (SFB), einer DDR-nahen Kader-Organisation, und verordnet seinen Mitgliedern „strenge Schulungen“. Helke Sander flüchtet.

„Das war sozusagen der erste Aufstand, der sich quasi gegen die SDS-Männer richtete“, erklärt Silvia Kontos. „Und das war auch gut und richtig, aber das war eine kleine Gruppe. Und die Richtung war in die Linke und in das Sprachrohr der Linken, den SDS, hinein. Aber das war noch nicht etwas, das sich an die Gesellschaft insgesamt gerichtet hat. Das war eigentlich erst der § 218.“

„Eine Kommilitonin ist zu einer Abtreibung nach Jugoslawien gefahren und auf dem Rückweg verblutet“, erzählt Molli Hiesinger. Auch Ute Geißler kennt „einige Frauen, die unter scheußlichen Umständen abgetrieben haben. Das Thema war einfach immer da.“ Gisela Schneider steckt die „Katastrophe“ mit ihrer Schwester noch in den Knochen. Und Silvia Kontos war 1965 sogar selbst „auf dem Küchentisch einer Engelmacherin gelandet. Die hat eine Seifenspülung gemacht. Ich habe mir später mal die Sterbestatistik anschaut, da ist mir ganz schlecht geworden. Die Frau hat natürlich ordentlich die Hand aufgehalten und mich anschließend zu einem niedergelassenen Gynäkologen geschickt, der auch nochmal die Hand aufgehalten hat. Man kam sich vor wie der letzte Dreck. Ich fand das alles so furchtbar, dass mir klar war: Das darf nicht so bleiben!“

April 1971, BRD und West-Berlin. Alice Schwarzer reist durch das Land, um Frauengruppen für die Stern-Aktion zu gewinnen (EMMA 1/21). Jetzt ist für so manche Frau der Moment gekommen, sich zu entscheiden: Klassenkampf oder Frauenkampf?

In Ute Geißlers Münchner Frauengruppe eskaliert der Konflikt: Schon vor dem Besuch von Alice hatte es dort „kleine Revolten“ gegeben. Immer wieder hatte ein Teil der Gruppe, Studentinnen wie berufstätigen Frauen, angesichts der ewigen „völlig absurden“ Lektüre von Marx’ „Kapital“ gefordert: „Wir möchten jetzt mal über was Persönliches reden!“

Als Alice an diesem Abend im Mai 1971 nun fragt, ob sich die Münchnerinnen an der Selbstbezichtigungs-Aktion beteiligen wollen, knallt es. Ute: „Da hat sich unsere Gruppe gespalten.“ Die einen beschließen, weiter am „Hauptwiderspruch“, dem Klassenkampf, zu arbeiten. Die anderen, darunter auch Ute Geißler, beschließen, sich ab jetzt dem sogenannten „Nebenwiderspruch“ zu widmen: der Frauenfrage. Die ist zu diesem Zeitpunkt noch vor allem die Abtreibungsfrage.

„Die Abtreibung war ein totales Tabu. Man redete in der Zeit nicht mit der eigenen Mutter oder der besten Freundin darüber“, sagt Alice Schwarzer, die zur damaligen Zeit in Paris lebte und die Aktion aus Frankreich nach Deutschland exportierte. „Wenn man kein Geld hatte, landete man auf dem Küchentisch und riskierte sein Leben. Wenn man welches hatte, ging man zu irgendwelchen Ärzten in Deutschland oder in der Schweiz. Die oft abtrieben ohne Narkose, manchmal auch die Frauen sexuell missbrauchten, vergewaltigten, es war ein Horror ohne Ende. Der Leidensdruck war sehr groß. Das Empfinden bei den Menschen war, dass das Gesetz weg muss. Wir haben also sozusagen ein Tor aufgestoßen, das ohnehin schon halb geöffnet war.“

„Die Kampagne erschloss ganz neue Bevölkerungsschichten, weil fast alle Frauen mit dem Thema auf die eine oder andere Weise schon Erfahrungen gesammelt hatten“, erinnert sich Helke Sander. „Nahezu ausnahmslos setzten sich die Frauen für die ersatzlose Streichung des Paragraphen ein, was sich in unglaublich vielen Demonstrationen, Aufklärungsbroschüren, Flugblättern, Abtreibungssprechstunden, kollektiven Kirchenaustritten ausdrückte.“

Jetzt treffen die linken Genossinnen, die kein Nebenwiderspruch mehr sein wollen, auf Frauen von nebenan, die ihren Männern zum ersten Mal widersprechen. Studentin trifft auf Sekretärin, Jeans begegnet Faltenrock. Jetzt geht die Post ab.

Schon bald geht es nicht mehr nur um den § 218. „Gleich im nächsten Schritt ging es darum: Wie behandeln uns eigentlich Gynäkologen?“ erzählt Silvia Kontos. Es geht um Macht über Frauenkörper, im Ehebett wie bei der Geburt. Es geht um Gewalt, durch den eigenen Mann wie durch den Fremden im Park. Es geht um Abhängigkeit, finanzielle oder emotionale. Noch ist der Mann laut Gesetz der Haushaltsvorstand mit „Aufenthaltsbestimmungsrecht“ für Frau und Kinder, die Frau ist gesetzlich verpflichtet zur Hausarbeit. Gratisarbeit, Gebärzwang, Gewalt. Gegen all das richtet sich der Frauenaufstand.

Frankfurt, 11./12. März 1972. In einer Jugendherberge kommen rund 400 Frauen zum „1. Bundesfrauenkongress“ zusammen. Von den 36 Frauengruppen, die aus der ganzen BRD angereist sind, sind zwei Drittel § 218-Gruppen. Am Ende der zwei diskussionsreichen Tage verkündet eine der Teilnehmerinnen durchs Mikro den kollektiven Beschluss: „Frauen müssen sich selbst organisieren, weil sie ihre ureigensten Probleme erkennen und lernen müssen, ihre Interessen zu vertreten. Die Gruppen, die zunächst größtenteils nur aus dem Kampf gegen den Abtreibungsparagraphen entstanden sind, haben erkannt, dass die Unterdrückung der Frauen in einem umfassenden gesellschaftlichen Zusammenhang zu sehen ist, der über die Abtreibungskampagne hinausgeht.“ Und die Frankfurterinnen singen dazu zum ersten Mal ihr selbstgeschriebenes Lied: „Frauen gemeinsam sind stark!“ „In der Werbung Puppen, Arbeit in Leichtlohngruppen/wir sind stets nur Objekt: Schlank sei die Hüfte, groß dafür die Brüste/auch wenn die Psyche verreckt/Frauen, zerreißt eure Ketten, Schluss mit Objektsein in Betten/Frauen gemeinsam sind stark!“

Unter den 400 Frauen ist auch Helke Sander mit ihrer Gruppe „Brot und Rosen“. Mit in der 1971 gegründeten Gruppe sind unter anderem die Malerin Sarah Schumann, die vier Jahre später mit sechs weiteren Frauen im Charlottenburger Schloss die bahnbrechende Ausstellung „Künstlerinnen international 1877 –1977“ initiieren wird, und Verena Stefan, die 1975 den BewegungsBestseller „Häutungen“ veröffentlichen wird.

Auch Alice Schwarzer ist aus Paris angereist. Sie wird über das historische Treffen in Frankfurt in einem 60-Minuten-Feature für den WDR berichten, Titel: „Ich lass mir nichts mehr gefallen!“

Jetzt bricht sich die Wut auch in der Bundesrepublik Bahn. In Frankfurt stürmen junge Frauen die Wahl der „Miss Teenager-Beine“ in einer Diskothek und werfen mit Schweinshaxen. Slogan: „Ihr verkauft hier unser Knie wie der Bauer ein Stück Vieh!“ In Köln halten sie ein Tribunal gegen den § 218 ab, in Bonn blockieren sie das Büro von Justizminister Gerhard Jahn (SPD), der sich der Fristenlösung verweigert, und zeigen dazu ein überlebensgroßes Plakat vom „schwangeren“ Minister.

Aber da ist jetzt nicht nur Wut, sondern auch sehr viel Spaß und Kreativität. Alice Schwarzer, die inzwischen in Berlin wohnt, und Freundinnen laden am 11. Mai 1974, dem Muttertag, in die Mensa der TU zur „Rockfete im Rock“: Das erste reine Frauenfest wird ein Riesenerfolg. Zwar hatten einige selbst ernannte Sprecherinnen im Frauenzentrum geunkt, dass die sogenannte „Basis“ zu einem Fest ohne Männer nicht kommen würde. Es kamen aber über 2.000 Frauen, sie tanzten bis nachts um vier. Sogar der Spiegel berichtete (wenn auch gewohnt hämisch).

Die bewegten Frauen gründen nicht nur Bands wie die Berliner „Flying Lesbians“ oder die „Bonner Blaustrümpfe“, die ihre Lieder bald auf Platte herausbringen. Sie heißen: „Der Patriarchen Song“, „Das Lied vom Frauenhaus“ oder „Wir fahren nach Holland nicht der Tulpen wegen“.

Berlin, Januar 1973. In der Hornstraße 2 eröffnet das erste Frauenzentrum. Als Sabine Zurmühl auf dem Ku’damm von Cillie Rentmeister (die später Sängerin und Keyboarderin der „Flying Lesbians“ wird) ein Flugblatt mit einer Einladung in die Hand gedrückt bekommt („Kommt ins Frauenzentrum!“), ist das Zentrum noch eine Baustelle. „Das war eine alte rumpelige Wohnung auf ebener Erde, ich glaube, ein Laden vorher“, erzählt die heute 73-jährige Journalistin und Mediatorin. „Und für jede Frau, die da hinkam, gab es was zu tun: streichen, Möbel rein, Plakate oder Demos vorbereiten.“ Wie alle Frauenzentren, die in den kommenden Jahren im ganzen Land entstehen, ist auch das Berliner Zentrum ein Projekt Marke Eigenbau. „Und da hab ich sozusagen gelernt, dass das, was wir machen, Frauenbewegung ist“, sagt Zurmühl.

Aus der „Zeitungsgruppe“ im Frauenzentrum wird 1976 die Courage hervorgehen, Sabine Zurmühl wird eine der Gründerinnen der feministischen Zeitschrift sein, die bis 1983 erscheint.

In anderen Gruppen des Frauenzentrums beschäftigen sich die Frauen mit Beziehungen und Berufsleben, mit Sexualität und Körper. Und das durchaus sehr konkret: Im November 1973 reisen aus Los Angeles Carol Downer und Debbie Law an, um in der Hornstraße die vaginale Selbstuntersuchung zu demonstrieren. 300 Frauen stehen Schlange, um mit dem Spekulum zu erkunden, wie sie „da unten“ aussehen, darunter Alice Schwarzer, die sich erinnert: „Das war unglaublich. Die Frau zog ihre Jeans aus, setzte sich auf einen Tisch, spreizte die Beine, führte ein Plastik-Spekulum ein – und wir blickten durch die Vagina bis zum Muttermund. Obwohl wir doch alle selbst so einen Körper haben, hatten wir das noch nie gesehen. Ich war so verblüfft, dass mich die Frau hinter mir anstoßen musste, damit ich weiterging und die nächste gucken konnte.“

Die Veranstaltung ist der Auftakt zur Selbstentdeckung des eigenen Körpers und wird im ganzen Land Schule machen. Die „Frauengesundheitsbewegung“ macht sich auf den Weg. Bald bieten die Aktivistinnen auch an den Volkshochschulen Selbstuntersuchungen an. „Ich erinnere mich, dass wir an der Volkshochschule einen Raum hatten, wo wir sechs Tische hatten, auf denen wir lagen, mit Spekulum und Taschenlampe und Spiegel, und die Frauen an uns vorbei flanierten und sich unseren Muttermund angucken konnten“, erzählt Dagmar Schultz.

Die heute 79-jährige Soziologie-Professorin hatte zehn Jahre in den USA gelebt, wo der feministische Bestseller „Our Bodies, ourselves“ schon 1970 erschienen war. „Und ich weiß noch, die Tür war oben aus Glas, und da guckten lauter Frauen durch, weil gar nicht genug in den Raum rein konnten.“ Auch zu den zahlreichen Frauenkongressen rücken Dagmar und Mitstreiterinnen jetzt immer mit einem Koffer voll Spekula an. Die Selbstuntersuchung, findet Gesundheits-Pionierin Schultz, „war und ist was wirklich Revolutionäres!“

Während die Frauen mit Begeisterung ihre Körper entdecken, stellen sie gleichzeitig mit Entsetzen fest, wie viele dieser Körper geschlagen und misshandelt werden – von den eigenen Männern. Als die heute 74-jährige Filmemacherin Cristina Perincioli eines Tages im Frauenzentrum die Frage stellt, ob „mir jemand eine Interviewpartnerin vermitteln kann, die zu Hause geschlagen wird“, ist die Antwort ein Schock für sie.

Perincioli war kurz zuvor nach London gefahren, um sich das europaweit erste „Haus für geschlagene Frauen“ anzuschauen, das Sozialarbeiterin Erin Pizzey gegründet hatte. Als es dort zu eng wurde, besetzten die Frauen kurzerhand ein zweites Haus. „Also eben nicht dieses Warten auf Staatsgelder, sondern: Wir machen es eben selber!“ Das will Cristina sehen „und dann bin ich einfach dahin getrampt“.

Beeindruckt von dem, was sie in London erlebt, will die junge Filmemacherin („Für Frauen – 1. Kapitel“, „Anna und Edith“) auch in Berlin ein Frauenhaus gründen. Doch noch wird das strukturelle Ausmaß der Männergewalt in den eigenen vier Wänden von Medien und Politik schlichtweg geleugnet und die Feministinnen, die sie anprangern, als „hysterisch“ diffamiert. Noch gilt es also den Beweis anzutreten, dass es sie überhaupt gibt, die Gewalt in Beziehungen.

Nun steht also Cristina Perincioli im Berliner Frauenzentrum und fragt: „Ich möchte recherchieren zum Thema Häusliche Gewalt. Kennt jemand Fälle?“ Sie denkt an die Sozialarbeiterinnen, die ihr vielleicht eine Frau vermitteln können. Aber es kommt anders: Fünf Frauen aus dem Frauenzentrum heben selbst die Hand. „Und die haben gesagt: ‚Ja, ich bin ein Opfer, ich werde geschlagen.‘ Das war zum Beispiel die Frau eines Kameramanns vom SFB, die Frau eines IBM-Direktors, die Frau eines Bühnenbeleuchters. Mit denen war ich vorher im Frauenzentrum in Gruppen gewesen – und habe das nicht gewusst! Die Frauen sprachen also bis zu dem Punkt nicht darüber, auch im Frauenzentrum nicht. Es war also wirklich höchste Eisenbahn, dass wir das aus dem Tabubereich herausholen.“

Bonn, 1973. Zu den Gründerinnen der „Bonner Blaustrümpfe“ gehört die Rechtsanwältin Barbelies Wiegmann. Während ihres Jura-Studiums war Barbelies’ Empörung über die „unerhörten Gesetze“, die Frauen entmündigten, „langsam gewachsen“. Sie radikalisiert sich nach der Geburt ihrer beiden Kinder, denn die Rechtsanwältin muss feststellen, dass selbst ihr sehr netter Mann sich für die Familienarbeit nicht zuständig fühlt. „Dass Männer im Beruf zurückstecken, das war damals überhaupt noch kein Gedanke“, erzählt die heute 87-Jährige. „Das wurmte mich immer mehr und ich dachte: Wie komm ich da eigentlich raus?“

Als Anwältin für Familienrecht erlebt Barbelies, wie viele Frauen, die ihren Beruf für die Familie aufgegeben haben, nach einer Scheidung völlig mittellos dastehen. Das bringt sie erst recht auf die Barrikaden. Die Juristin wird sich in den kommenden Jahren nicht nur für ihre Klientinnen einsetzen, sondern auch für eine Reform der frauenfeindlichen Familiengesetze.

1973 gründet Barbelies, gemeinsam mit der Schriftstellerin Caroline Muhr und der Musikerin Inge Latz, die „Bonner Blaustrümpfe“. Die achtköpfige Gruppe gibt eigene Konzerte oder tritt bei Frauenaktionen auf und begleitet auf der Straße die Demonstrationen gegen den § 218. „Bei den Bonner Blaustrümpfen“, sagt Barbelies, „bin ich als Feministin erwacht.“

„Das Jahr der Frau“, 1975. Als die UNO das Jahr ausruft, ist Barbelies Wiegmann Mitinitiatorin einer Protestaktion. Das offizielle Bundesgremium, das in Deutschland das „Jahr der Frau“ organisieren soll, besteht zu 90 Prozent aus Männern. Als zur feierlichen Eröffnung in der Bonner Beethovenhalle die Prominenz aufmarschiert, wird sie schon von Barbelies und Mitstreiterinnen erwartet. „Wir hatten uns als Putzfrauen verkleidet und kamen da an mit Schrubbern, Besen und Eimern. Wir haben rechts und links Ketten gebildet und dann zusammen im Chor freche Sprüche gerufen und mit Töpfen geklappert“, erinnert sich Wiegmann. „Wir haben ein dolles Spektakel gemacht und abends im Radio haben die Medien nur darüber berichtet. Das fanden wir natürlich ganz toll! Und da merkten wir schon, dass sich überall im Land was tat in Sachen Frauen.“

Doch mit der steigenden Schlagkraft der Frauenbewegung wächst auch das Potential für Konflikte. Linke Genossinnen versuchen immer wieder, die Frauengruppen für den Klassenkampf zu kapern; Spontifrauen fühlen sich von der Rigidität so mancher „Funktionärin“ ausgebremst. Heteras und Lesben sind sich nicht immer wohlgesonnen, weil Letztere den Ersteren vorwerfen, „mit dem Feind ins Bett zu gehen“. Und ein erster Riss tut sich auf zwischen Universalistinnen und Differenzialistinnen. Erstere gehen von der grundsätzlichen Gleichheit von Frauen und Männern aus und schreiben die vorhandenen Unterschiede der unterschiedlichen Sozialisation und Lebensbedingungen der Geschlechter zu. Letztere gehen von einem irreversiblen Unterschied zwischen den Geschlechtern aus, der durchaus positiv und erhaltenswert sei: Frauen seien „von Natur aus“ friedfertig, mütterlich und naturverbunden, die Gesellschaft müsse diese weiblichen Eigenschaften schlicht mehr wertschätzen als bisher.

Während die Universalistinnen auf die „Vermenschlichung der Geschlechter“ (Schwarzer) setzen, pochen die Differenzialistinnen auf die natürliche „Andersartigkeit der Frau“ und rufen bald die „Neue Weiblichkeit“ aus, gefolgt von der „Neuen Mütterlichkeit“. Während die antibiologistischen Universalistinnen „die Hälfte der Welt für die Frauen und die Hälfte des Hauses für die Männer“ fordern, also die Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, wollen die Differenzialistinnen einen „Lohn für Hausarbeit“ (Courage).

Die Spannungen steigen. In Pardon warnt Alice Schwarzer 1974 vor dem Backlash, den der Hausfrauenlohn bedeuten würde: „Der Sklavenstatus der Frau würde sich durch ein als Lohn kaschiertes Almosen nicht nur nicht ändern, sondern Männerbequemlichkeit würde erneut institutionalisiert werden“, schreibt sie. „Der Hausfrauenlohn wäre ein Hemmschuh in einem Augenblick, in dem Frauen endlich beginnen, aus der Isolation der weiblichen ‚Innenwelt‘ in die bisher exklusiv männlich beherrschte ‚Außenwelt‘ aufzubrechen.“ Die aktuelle Debatte um Homeoffice und Retraditionalisierung lässt grüßen.

Herbst 1975. Es erscheinen zwei Bücher, die die Frage von Liebe und Sexualität zum Thema haben: „Häutungen“ von Verena Stefan, die aus eigener Erfahrung über den Wechsel von der Liebe zu Männern zu der Liebe von Frauen schreibt. Das Buch wird ein Bewegungs-Bestseller. Und „Der kleine Unterschied“ von Alice Schwarzer, die anhand von 18 Fallbeispielen die Rolle von Liebe und Sexualität bei der (Selbst)Unterdrückung von Frauen thematisiert. Das Buch wird ein internationaler Bestseller.

Ein halbes Jahr zuvor war im WDR das bis heute viel zitierte TV-Duell zwischen Alice Schwarzer und der Anti-Feministin Esther Vilar gesendet worden. Beides, die TV-Sendung und „Der kleine Unterschied“, machten Schwarzer für die Medien von Anfang an zum umstrittenen „Star“ der Frauenbewegung. Umstritten innerhalb der Frauenbewegung wie draußen in der Gesellschaft.

Anfang 1977. In Köln und Berlin erscheinen die ersten überregionalen feministischen Zeitschriften, deren Konflikte von den Männermedien genüsslich ausgeschlachtet werden: Courage und EMMA. Beide haben feministische Ziele, aber Konzept und inhaltliche Ausrichtung sind unterschiedlich. EMMA wird von der erfahrenen Journalistin Schwarzer als „Publikumszeitschrift“ geplant und will Brigitte, Stern und Spiegel Konkurrenz machen. Courage ist von schreibenden Frauen im Berliner Frauenzentrum als „Frauenbewegungsorgan“ geplant, in dem Feministinnen und Gruppen aller Richtungen ihre Sicht der Dinge veröffentlichen können. Beide Blätter hätten sich eigentlich vortrefflich ergänzen können, doch leider geht Courage auf heftigen Gegenkurs zu EMMA. Die Berlinerinnen rufen schon zwei Monate vor Erscheinen der ersten EMMA, gemeinsam mit der Schwarzen Botin zum Boykott der „kommerziellen“ Zeitschrift auf. Die Männermedien berichten genüßlich. Sabine Zurmühl von Courage rückblickend selbstkritisch: „Das war einfach die Kränkung, dass es da noch eine Zeitung geben sollte, die einen anderen Ansatz hatte. Man hätte es, finde ich, nebeneinander gut belassen können. Aber ich glaube, diese Größe hatten wir nicht – so sehe ich das heute.“

Darüber hinaus stehen die beiden feministischen Blätter für die unterschiedlichen Hauptströmungen der Frauenbewegung: Courage bietet der „neuen Weiblichkeit“ eine Plattform, EMMA tritt von Anfang an gegen jeglichen Differenzialismus und gegen die Idealisierung von Weiblichkeit bzw. Dämonisierung von Männlichkeit ein. So wird zum Beispiel auch die Debatte um den freiwilligen Zugang von Frauen zum Militärdienst als Pro & Contra 1979 in EMMA und Courage ausgetragen.

Doch trotz oder wegen der Differenzen ist der Feminismus der 1970er Jahre sehr vielfältig, kreativ und zupackend. Ute Geißler gründet 1975 in München die erste Frauenbuchhandlung Deutschlands: „Lillemor’s Frauenbuchladen“ und unterrichtet Frauen und Mädchen in Selbstverteidigungs-Kursen. Dagmar Schultz gründet 1974 mit ihren Mitstreiterinnen in Berlin das erste „Feministische Frauengesundheitszentrum“ und den „Frauenselbstverlag“ (ab 1986 „Orlanda Frauenverlag“). Dagmar Schultz war die erste, die im Rahmen der Frauenbewegung die Frage des Rassismus thematisierte. Geprägt von ihren Erfahrungen in den USA, in der sie mit schwarzen Feministinnen zusammengearbeitet hatte, war sie dafür besonders sensibilisiert. Bei Orlanda würde sie später Werke schwarzer Frauen wie Audre Lorde oder May Ayim veröffentlichen und erreichen, dass Audre Lorde eine Gastprofessur an der FU Berlin bekam.

1976 ziehen in Berlin Frauen in das erste Frauenhaus Deutschlands und Cristina Perincioli wird mit ihnen einen Film drehen („Die Macht der Männer ist die Geduld der Frauen“); er läuft im Fernsehen und in den Kinos. Im selben Jahr tritt die von kämpferischen Juristinnen wie Barbelies Wiegmann erstrittene Reform des Familiengesetzes in Kraft. Endlich dürfen Ehemänner ihren Frauen nicht mehr verbieten, berufstätig zu sein. Molli Hiesinger tourt mit ihrem Frauenkabarett. Und es erscheint eine neue LP mit Liedern von „Frauengruppen aus München, Frankfurt und Darmstadt“, darunter der „Hausfrauenblues“ und das „Frauenzentrumslied“. Titel der Platte: „Von heute an gibt’s mein Programm“.

CHANTAL LOUIS

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