Alle wussten bescheid. Und jetzt?
Jeden Tag mehren sich die Klagen. Harvey Weinstein, 65, der „Gott von Hollywood“, hat in den vergangenen drei Jahrzehnten Dutzende, wenn nicht Hunderte von Frauen sexuell angefallen. Nie auf Augenhöhe, sondern immer aus seiner Machtposition heraus als Filmproduzent. Er hat Stars und Sternchen bis hin zur Vergewaltigung angegangen, sagt Asia Argento. Die italienische Schauspielerin war zum Zeitpunkt des Geschehens, 1997, erst 21, aber schon ein Star in ihrer Heimat. Das hat sie nicht geschützt.
Die Umstände der Affäre Weinstein gleichen frappant denen der Affäre Strauss-Kahn (2011). Erschütternd viele in der jeweiligen Branche, Politik bzw. Film, haben es gewusst oder mindestens geahnt, aber alle haben weggesehen und geschwiegen. Und die Medien haben mitgespielt. Denn der Hollywood-Boss war so mächtig, dass er nicht nur SchauspielerInnen-Karrieren, sondern auch JournalistInnen-Karrieren machen oder vernichten konnte.
Die Affäre Weinstein gleicht der Affäre Strauss-Kahn
Auch die New York Times, die jetzt den Anstoß für die Enthüllung gab, hat lange geschwiegen. Schon 2004 war die Journalistin Sharon Waxman im Auftrag der NYT auf den Spuren von Weinstein, bis hin nach Italien und England. Bereits damals gab es Gerüchte, dass Weinstein Frauen, die auspacken wollten, den Mund mit Dollars stopfte. Oder aber Schmutzkampagnen über sie in den Medien lancierte.
Waxman schrieb die Geschichte – sie wurde nie gedruckt. Weinstein, ein mächtiger Mann auch als Anzeigengeber, soll direkt interveniert haben. Heute kann sich bei der NYT niemand „so recht daran erinnern“. Waxmans damaliger Ressortleiter (und späterer stellvertretender Chefredakteur) Jon Landman behauptet nun, Waxmans Geschichte damals sei „nicht handfest genug“ gewesen. Für die jetzige Story habe die NYT schließlich monatelang recherchiert. – Wie vielen Frauen wäre Leid erspart geblieben, wäre die NYT schon vor 13 Jahren ihrer Informationspflicht nachgekommen.
Zögernd aber dennoch haben sich inzwischen zahlreiche Stars „mit Entsetzen“ von Weinstein abgewandt. Sie waren zum Teil sogar selber Opfer und haben ihre Solidarität mit allen Betroffenen bekundet: von Angelina Jolie und Kate Winslet über Gwyneth Paltrow bis hin zu Meryl Streep. Weinsteins Anwältin Lisa Bloom hat ihr Mandat niedergelegt. Die Firma, die seinen Namen trägt, hat ihn gefeuert. Und seine Frau Georgina Chapman hat sich von ihm getrennt. Das hatte bei Strauss-Kahn vor sechs Jahren alles noch sehr viel länger gedauert.
Doch eine weitere Parallele zu Strauss-Kahn, dem einstigen IWF-Chef und sozialistischen Beinahe-Präsidenten von Frankreich, drängt sich auf: Beide Männer waren angesehene Linksliberale. Weinstein ist bekannt als Förderer sozialer Gerechtigkeit, im Film wie im Leben. Er ist Produzent von Filmen wie dem über Nelson Mandela und unterstützte die Clintons ebenso wie Barack Obama. Dessen Tochter war bei Weinstein Praktikantin.
In einem Punkt allerdings unterscheiden sich die beiden Männer: Der Franzose Strauss-Kahn hat bis heute zu seinen Untaten geschwiegen; der Amerikaner Weinstein ließ jetzt erklären, er sei „in den 70er Jahren sozialisiert worden“ und habe offensichtlich etwas nicht mitbekommen. Nun habe er sich aber in Therapie begeben, um „ein besserer Mann“ zu werden und seine „Dämonen zu besiegen“. Was am unterschiedlichen Klima in den beiden Ländern liegen wird. In Amerika weht heute ein scharfer anti-sexistischer Wind.
Vollends zum Überschlag brachten weitere Enthüllungen des New Yorker die Affäre Weinstein. Das Blatt berichtete von den Vergewaltigungs-Beschuldigungen und enthüllte ein Tonband. Das hatte die Polizei verdeckt einem Model mitgegeben, das von Weinstein „benutzt“ worden war. Darauf ist zu hören, wie Weinstein den Missbrauch offen zugibt und sagt, er sei es gewohnt, sich die Frauen zu nehmen. Die Justiz habe aber keine ausreichenden Beweise, um ihn anzuklagen. Das war schon 2015.
Der New Yorker berichtet auch, dass quasi alle in Weinsteins Firma mitgespielt hätten. Manche weibliche Angestellten hätten Weinstein die Opfer regelrecht zugeführt und durch ihre Beteiligung geholfen, die Frauen zu täuschen. Da das Wochenmagazin New Yorker wenige Tage nach der Tageszeitung New York Times mit der Enthüllung rausgekommen ist, liegt es nahe zu vermuten, dass nur die Konkurrenz der beiden Blätter den Skandal endlich zum Platzen brachte.
Gegen
Woody Allen
ist Weinstein
ein Lamm.
Den Text für den New Yorker hat Ronan Farrow geschrieben, der Sohn von Mia Farrow und Woody Allen. Der hat, mit Hilfe seiner Mutter, zehn Monate lang in der Filmbranche recherchiert. Ronans Motivation ist klar: Es ist der eigene Vater. Gegen den ist Weinstein noch ein Lamm. Doch auch Ronan Farrows Enthüllungsgeschichte blieb zunächst monatelang in den Schubladen: beim NBC, für den der freie Journalist arbeitet. Schließlich ging Farrow zum New Yorker.
Zu Woody Allen allerdings schweigen bis heute (fast) alle. Der hatte in den 1980er Jahren innerhalb seiner eigenen Familie gewütet und war noch nicht einmal vor Übergriffen auf seine damals fünfjährige Adoptivtochter Dylan zurückgeschreckt. Der Sohn hat sich, wie alle Farrow-Allen-Kinder, schon lange vom Vater losgesagt, öffentlich. Hollywood hat dazu bis heute geschwiegen. Und die Medien machen mit, mehr noch: Sie feiern Woody Allen. Und: Auch Weinsteins Anwalt besteht bis heute darauf, dass es sich in allen Fällen um "einvernehmlichen Sex" gehandelt habe.
Doch die gute Nachricht ist: Die Zeit scheint reif. Es geht nicht mehr durch. Wenn heute ein Gigant wie Weinstein über seine sexuellen Verbrechen fallen kann – dann kann es morgen jeder sein.
Bleiben wir also dran.
Alice Schwarzer