Alice Schwarzer schreibt

Alle wussten bescheid. Und jetzt?

Harvey Weinstein mit seiner nun Ex-Frau Georgina Chapman (re). © David Heerde/Imago
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Jeden Tag mehren sich die Klagen. Harvey Weinstein, 65, der „Gott von Hollywood“, hat in den vergangenen drei Jahrzehnten Dutzende, wenn nicht Hunderte von Frauen sexuell angefallen. Nie auf Augenhöhe, sondern immer aus seiner Machtposition heraus als Filmproduzent. Er hat Stars und Sternchen bis hin zur Vergewaltigung angegangen, sagt Asia Argento. Die italienische Schauspielerin war zum Zeitpunkt des Geschehens, 1997, erst 21, aber schon ein Star in ihrer Heimat. Das hat sie nicht geschützt.

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Die Umstände der Affäre Weinstein gleichen frappant denen der Affäre Strauss-Kahn (2011). Erschütternd viele in der jeweiligen Branche, Politik bzw. Film, haben es gewusst oder mindestens geahnt, aber alle haben weggesehen und geschwiegen. Und die Medien haben mitgespielt. Denn der Hollywood-Boss war so mächtig, dass er nicht nur SchauspielerInnen-Karrieren, sondern auch JournalistInnen-Karrieren machen oder vernichten konnte.

Die Affäre Weinstein gleicht der Affäre Strauss-Kahn

Auch die New York Times, die jetzt den Anstoß für die Enthüllung gab, hat lange geschwiegen. Schon 2004 war die Journalistin Sharon Waxman im Auftrag der NYT auf den Spuren von Weinstein, bis hin nach Italien und England. Bereits damals gab es Gerüchte, dass Weinstein Frauen, die auspacken wollten, den Mund mit Dollars stopfte. Oder aber Schmutzkampagnen über sie in den Medien lancierte.

Waxman schrieb die Geschichte – sie wurde nie gedruckt. Weinstein, ein mächtiger Mann auch als Anzeigengeber, soll direkt interveniert haben. Heute kann sich bei der NYT niemand „so recht daran erinnern“. Waxmans damaliger Ressortleiter (und späterer stellvertretender Chefredakteur) Jon Landman behauptet nun, Waxmans Geschichte damals sei „nicht handfest genug“ gewesen. Für die jetzige Story habe die NYT schließlich monatelang recherchiert. – Wie vielen Frauen wäre Leid erspart geblieben, wäre die NYT schon vor 13 Jahren ihrer Informationspflicht nachgekommen.

Zögernd aber dennoch haben sich inzwischen zahlreiche Stars „mit Entsetzen“ von Weinstein abgewandt. Sie waren zum Teil sogar selber Opfer und haben ihre Solidarität mit allen Betroffenen bekundet: von Angelina Jolie und Kate Winslet über Gwyneth Paltrow bis hin zu Meryl Streep. Weinsteins Anwältin Lisa Bloom hat ihr Mandat niedergelegt. Die Firma, die seinen Namen trägt, hat ihn gefeuert. Und seine Frau Georgina Chapman hat sich von ihm getrennt. Das hatte bei Strauss-Kahn vor sechs Jahren alles noch sehr viel länger gedauert.

Doch eine weitere Parallele zu Strauss-Kahn, dem einstigen IWF-Chef und sozialistischen Beinahe-Präsidenten von Frankreich, drängt sich auf: Beide Männer waren angesehene Linksliberale. Weinstein ist bekannt als Förderer sozialer Gerechtigkeit, im Film wie im Leben. Er ist Produzent von Filmen wie dem über Nelson Mandela und unterstützte die Clintons ebenso wie Barack Obama. Dessen Tochter war bei Weinstein Praktikantin.

In einem Punkt allerdings unterscheiden sich die beiden Männer: Der Franzose Strauss-Kahn hat bis heute zu seinen Untaten geschwiegen; der Amerikaner Weinstein ließ jetzt erklären, er sei „in den 70er Jahren sozialisiert worden“ und habe offensichtlich etwas nicht mitbekommen. Nun habe er sich aber in Therapie begeben, um „ein besserer Mann“ zu werden und seine „Dämonen zu besiegen“. Was am unterschiedlichen Klima in den beiden Ländern liegen wird. In Amerika weht heute ein scharfer anti-sexistischer Wind. 

Vollends zum Überschlag brachten weitere Enthüllungen des New Yorker die Affäre Weinstein. Das Blatt berichtete von den Vergewaltigungs-Beschuldigungen und enthüllte ein Tonband. Das hatte die Polizei verdeckt einem Model mitgegeben, das von Weinstein „benutzt“ worden war. Darauf ist zu hören, wie Weinstein den Missbrauch offen zugibt und sagt, er sei es gewohnt, sich die Frauen zu nehmen. Die Justiz habe aber keine ausreichenden Beweise, um ihn anzuklagen. Das war schon 2015.

Der New Yorker berichtet auch, dass quasi alle in Weinsteins Firma mitgespielt hätten. Manche weibliche Angestellten hätten Weinstein die Opfer regelrecht zugeführt und durch ihre Beteiligung geholfen, die Frauen zu täuschen. Da das Wochenmagazin New Yorker wenige Tage nach der Tageszeitung New York Times mit der Enthüllung rausgekommen ist, liegt es nahe zu vermuten, dass nur die Konkurrenz der beiden Blätter den Skandal endlich zum Platzen brachte.

Gegen
Woody Allen
ist Weinstein
ein Lamm.

Den Text für den New Yorker hat Ronan Farrow geschrieben, der Sohn von Mia Farrow und Woody Allen. Der hat, mit Hilfe seiner Mutter, zehn Monate lang in der Filmbranche recherchiert. Ronans Motivation ist klar: Es ist der eigene Vater. Gegen den ist Weinstein noch ein Lamm. Doch auch Ronan Farrows Enthüllungsgeschichte blieb zunächst monatelang in den Schubladen: beim NBC, für den der freie Journalist arbeitet. Schließlich ging Farrow zum New Yorker.

Zu Woody Allen allerdings schweigen bis heute (fast) alle. Der hatte in den 1980er Jahren innerhalb seiner eigenen Familie gewütet und war noch nicht einmal vor Übergriffen auf seine damals fünfjährige Adoptivtochter Dylan zurückgeschreckt. Der Sohn hat sich, wie alle Farrow-Allen-Kinder, schon lange vom Vater losgesagt, öffentlich. Hollywood hat dazu bis heute geschwiegen. Und die Medien machen mit, mehr noch: Sie feiern Woody Allen. Und: Auch Weinsteins Anwalt besteht bis heute darauf, dass es sich in allen Fällen um "einvernehmlichen Sex" gehandelt habe. 

Doch die gute Nachricht ist: Die Zeit scheint reif. Es geht nicht mehr durch. Wenn heute ein Gigant wie Weinstein über seine sexuellen Verbrechen fallen kann – dann kann es morgen jeder sein.

Bleiben wir also dran.

Alice Schwarzer

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Wir sind alle Zimmermädchen

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Sie waren in ganzen Busladungen nach Manhattan gekommen, um ihm ihre Wut entgegenzubrüllen: „Shame on you!“ Schämen Sie sich! riefen die „Zimmermädchen“ in ihren Schürzen und Kitteln, als Dominique Strauss-Kahn am 6. Juni im dunklen Anzug aus seinem schwarzen Van stieg und, fest eingehakt von seiner Frau, das Gerichtsgebäude betrat. „Wir wollen Gerechtigkeit!“ erklärt eine der Demonstrantinnen, die die Uniform des Plaza-Hotels trägt. „Übergriffe wie der, um den es hier geht, gehören für uns zum ­Alltag.“ Deshalb fordern die gewerkschaftlich organisierten Frauen Alarmanlagen in den Hotelzimmern – und eine gerechte Strafe für den Mann, der laut Anklage ihre Kollegin vergewaltigt haben soll.

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Die Demonstration der Hotel-Bediensteten an diesem Tag ist nicht die erste im Fall Strauss-Kahn. Schon am 18. Mai hatten die National Organization for Women (NOW) und weitere Frauenorganisationen zum Protest vor dem IWF-Hauptsitz in Washington aufgerufen. Vier Tage, nachdem der IWF-Präsident auf dem Sprung in den Flieger nach Frankreich verhaftet worden war, forderten die Feministinnen den Rücktritt des „Großen Verführers“. „Wir müssen Vergewaltigung als das benennen, was es ist: Kein scharfer Mann, der sich in der Hitze des Augenblicks vergisst, sondern ein gestörter Mann, der Frauen mit Gewalt unter seine Kontrolle bringen will!“ rief NOW-Chefin Terry O’Neill in ihr Mikrofon. Der Spruch auf den Plakaten der ­Demonstrantinnen: „Rape is Rape!“

Das sahen nicht alle US-Medien so – und sorgten so für die nächsten Frauenproteste. „Die Staatsanwälte sagen, dass Mr. Strauss-Kahn die Klägerin zum Oralsex ‚gezwungen‘ hätte. Wie? Hatte er eine Pistole? Hatte er ein Messer? Und wenn er so einschüchternd war, warum hat sie sich dann uneingeschüchtert genug gefühlt, sofort ihre Vorgesetzten zu alarmieren und ihre Geschichte zu erzählen?“ fragte der bekannte Publizist Ben Stein im American Spectator und fuhr fort: „Ich habe selbst schon völlig durchgeknallte Zimmermädchen erlebt, die mir Flugtickets und Medikamente ­gestohlen haben. Woher wissen wir, dass das Wort dieser Frau genug zählt, um Mr. Strauss-Kahn in ein Horror-Gefängnis zu schicken?“ Sekundiert wurde Stein von einem Kommentar seines französischen Kollegen Bernard-Henri Lévy, der im Daily Beast erschien. In seiner „Verteidigungsrede“ für seinen „charmanten, verführerischen Freund“ durfte Lévy über die Frage philosophieren, „warum ein Zimmermädchen allein in die Suite ging, obwohl es doch den Gepflogenheiten der meisten New Yorker Grand Hotels entspricht, eine ‚Reinigungsbrigade‘ von zwei Angestellten“ in die Zimmer zu schicken.

Diese und weitere Diffamationen der Klägerin riefen das „Women’s Media Centre“ auf den Plan. Das Medien-Netzwerk, zu dessen Gründungsmitgliedern Jane Fonda und Gloria Steinem gehören, stellte einen Appell auf seine Website: „Sehr geehrter Redakteur, diese Art der Bericht­erstattung und Kommentierung trägt nicht dazu bei, einen mutmaßlichen Vergewaltiger zur Verantwortung zu ziehen. Sie ­beschuldigt und beschämt lediglich das Opfer. Die Medien haben die Verantwortung dafür, fair über solche Vorfälle zu ­berichten, anstatt eine Kultur zu unterstützen, in der sexuelle Gewalt tägliche Realität ist.“

Und auch im Heimatland des „Mannes, der die Frauen liebt“ sind die Frauen nicht mehr länger bereit, die verharmlosenden Berichte und Solidaritätsbekundungen der Strauss-Kahn-Freunde hinzunehmen. Sprüche wie die des Ex-Kulturministers Jack Lang, der sich über die Verhaftung seines Parteifreundes wunderte („Es ist schließlich niemand gestorben“) oder die Feststellung des linken Publizisten Jean-François Kahn, es habe sich da wohl um eine „troussage de domestiques“ (frei übersetzt: Schürzenjägerei von Bediensteten) gehandelt.

„Wir sind wütend, wir sind revoltiert, wir sind empört!“ kontert ein Appell, den die Frauenorganisationen „Osez le Feminisme“ (Feminismus wagen), Paroles de Femmes (Frauen Reden) und La Barbe (Der Bart, sinngemäß: Es reicht!) eine Woche nach Strauss-Kahns Verhaftung veröffentlichten und der inzwischen von mehr als 30000 Menschen unterzeichnet wurde, darunter die ehemalige sozialistische Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royale und die bekannte Ex-Richterin und potenzielle grüne Spitzenkandidatin Eva Joly. Sie alle protestieren gegen den „enthemmten Sexismus“, der sich in den Medien bahnbricht und der zu einer „inakzeptablen Vermengung von sexueller Freiheit und ­sexueller Gewalt beiträgt“.

Einen Tag nach Veröffentlichung des Appells demonstrierten rund 3000 wütende Frauen vor dem Pariser Centre Pompidou und hielten ihre Schilder in die Kameras: „Nous sommes toutes des femmes de chambre!“ (Wir sind alle Zimmermädchen!)

Der Proteststurm, der über Frankreich fegte, hat Folgen. Die Sache ist auf dem Tisch, das Schweigen gebrochen. Auch Journalistinnen und Politikerinnen – linke wie rechte – stellten sich an die Seite der protestierenden Frauen und bliesen zur ­Attacke auf eine Kultur, die sexuelle Übergriffe zur Normalität erklärt. Der Nouvel Observateur titelt mit „Das Frankreich der Machos“, Libération erklärt: „Es ist Zeit, Tabus zu brechen“ und meint damit das journalistische Schweige-Kartell, das Übergriffe von Herren der so genannten Elite bisher diskret verschwieg.

Die ersten „Verführer“ bekommen den Klimawandel schon zu spüren: So musste Staatssekretär Georges Tron zurücktreten, nachdem zwei Mitarbeiterinnen ihn wegen „sexueller Aggression“ angezeigt hatten. Vor dem Sturm, das ist allen klar, hätte er die Geschichte ausgesessen. Und noch etwas ist neu: Französische Hilfsorganisationen melden, dass sich neuerdings mehr Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, bei ihnen melden. Den protestierenden Französinnen ist es offenbar gelungen, die sexistische Stimmung zu kippen. – In Deutschland ist nach dem Kachelmann-Prozess das Gegenteil der Fall: Die Opfer sind entmutigt (siehe S. 22). Öffentliche Proteste oder Petitionen gab es hierzulande keine.

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